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Wahlen in Großbritannien und Frankreich: Deutschland schlafwandelt ins Aus


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Wahlen in Europa
Jetzt gibt es zwei Optionen

MeinungEine Kolumne von Gerhard Spörl

24.06.2024Lesedauer: 5 Min.
Olaf Scholz: Ausruhen sollte sich der Kanzler nicht.Vergrößern des Bildes
Olaf Scholz: Ausruhen kann sich der Kanzler nicht. (Quelle: Kay Nietfeld/dpa)

Europas Gefüge ändert sich. Bei der Wahl in Frankreich dürfte die Rechte eine Mehrheit im Parlament gewinnen. Großbritannien dagegen driftet am 4. Juli ziemlich sicher nach links. Und Deutschland?

Wer studieren möchte, wie sich ein politisches System aufwirbeln lässt, sollte nach Frankreich schauen. Dort hat Emmanuel Macron mit seiner Entscheidung, Neuwahlen auszurufen, Schock und Chaos ausgelöst. Für das Sortieren bleibt nicht viel Zeit, denn schon am Sonntag wird das neue Parlament gewählt.

Sinn und Zweck der Übung ist eine Korrektur. Bei der Europawahl ging Marine Le Pens Partei als alleinige Siegerin hervor. Dem Präsidenten gefällt das Ergebnis nicht und deshalb gibt er den Franzosen die Gelegenheit zur Berichtigung. So ist er, so kennen wir ihn, das Springteufelchen, und er kann es, da der Staatschef überragende Macht im politischen Gefüge der Republik besitzt.

Ob Macron mit diesem Manöver Erfolg hat? Kaum zu glauben. Macron ist höchst unbeliebt. Seine Bewegung kommt vermutlich nur als dritte Kraft ins Ziel. Die Extreme profitieren von der Zerrüttung der Mitte nach acht Jahren. Die zersplitterte Linke tut sich schnell zusammen und benennt sich bedeutungsvoll "Front Populaire", also Volksfront. Das ist eine interessante Wahl, denn das linke Bündnis war unter Premier Léon Blum in der Vorkriegszeit von 1936 bis 1938 nur kurz und keineswegs erfolgreich an der Macht.

Die kommenden Wahlen dürften Europa durchrütteln

Wie es aussieht, findet sich das heillos polarisierte Frankreich demnächst mit einem Präsidenten wieder, der mit einer Mehrheit des nationalkonservativen Rassemblement National im Parlament leben muss. Kohabitation nennt sich diese Art von immanentem Antagonismus. In zwei Jahren wählen die Franzosen dann einen neuen Präsidenten. Oder die Präsidentin Marine Le Pen.

Zwei Wahlen stehen in Europa in den nächsten Tagen an. Sie dürften den Kontinent gehörig durchrütteln. Nicht nur im Europäischen Parlament ist die Rechte zu einer unübersehbaren Macht aufgerückt. Frankreich, das Europa politisch beherrscht und beherrschen will, bekommt es mit einer Rechten zu tun, die von Europa nicht viel hält.

Gerhad Spörl

Zur Person

Gerhard Spörl interessiert sich seit jeher für weltpolitische Ereignisse und Veränderungen, die natürlich auch Deutschlands Rolle im internationalen Gefüge berühren. Er arbeitete in leitenden Positionen in der "Zeit" und im "Spiegel", war zwischendurch Korrespondent in den USA und schreibt heute Bücher, am liebsten über historische Themen.

Konservative Regierung steht vor Ablösung

Die andere Wahl steht Großbritannien am 4. Juli bevor. Das Land hatte unter dem Einfluss der Rechten die Europäische Union verlassen und fingiert seither das 19. Jahrhundert, als Großbritannien eine Insel für sich war, abgewandt vom Kontinent, ein eigener Kosmos mit Weltmachtgeltung. Heute ist sogar das Sonderverhältnis zur ehemaligen Kolonie USA hinfällig. Zudem leiden England, Wales und Schottland ökonomisch unter dem Brexit, was die konservative Regierung nie zugeben würde. Auch deshalb steht sie vor ihrer Ablösung.

14 Jahre lang durften die Tories regieren. Es begann mit David Cameron, dem Großbritannien den Brexit verdankt. Mit dem Referendum verfolgte er die Absicht, den Verbleib in der EU abzusichern. Nur beging er den Fehler, die Sache laufen zu lassen, ohne zu sagen: Hört her, ich halte diese Europäische Union für sinnvoll und wichtig für uns, also stimmt gefälligst mit Ja. So bekamen die Gegner um Nigel Farage Oberwasser und versammelten eine knappe Mehrheit hinter sich.

Cameron ist übrigens heute Außenminister. Und Nigel Farage tritt am 4. Juli mit einer neuen Partei und den alten tückischen Parolen an.

Nach Cameron kam Theresa May. Sie hatte das Problem, dass sie als Pro-Europäerin die Verhandlungen über die Loslösung von Brüssel aushandeln musste. Diese hochgradige Ambivalenz konnte sie nie abschütteln. Da sie zudem sehr steif auftrat, fiel sie ins Unpopuläre, was ihren innerparteilichen Gegnern das fiese Spiel erleichterte.

Johnson war ein Wahrheitsverdreher

Also hatte Boris Johnson, der Obergaukler, für zwei Jahre seinen Auftritt. Bei seinen Treffen mit Donald Trump fiel jede Menge Slapstick-Material für einen kommenden Charlie Chaplin an.

Johnson war ein geübter Wahrheitsverdreher. Sein Vater hatte über ihn gesagt, er wird zwar Premierminister, bleibt es aber nicht lange. Er kannte seinen Sohn.

Danach wurde es aber nicht besser fürs Vereinigte Königreich. Liz Truss kam. Sie hatte hochtrabende Ideen für das neoliberale Wirtschaften, aber leider waren sie nicht nur schräg, sondern abwegig. Sie amtierte vom 6. September 2022 bis zum 24. Oktober 2022, genau sieben Wochen. Ein Minusrekord fürs Guinnessbuch.

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Interessant daran ist die Selbstvergessenheit der britischen Konservativen, die das Regieren für ihr Geburtsrecht halten. Nicht einmal der wachsende Vorsprung der Labour Party in den Umfragen konnte sie beeindrucken. Die Tories bekriegten sich untereinander, sie bekämpften den jeweiligen Bewohner von Downing Street 10. Sie frohlockten, wenn es ihnen gelang, den Amtsinhaber oder die Amtsinhaberin abzusägen. Sie waren und sind ebenso machtversessen wie machtvergessen.

Der letzte Mohikaner ist Rishi Sunak. Vermutlich wäre er unter normalen Umständen sogar ein eher passabler Premierminister, aber er ist nun einmal geschlagen mit einer omnipotenten Partei, die in viele Lager zerfällt und sich nach einer unterhaltsamen Figur à la Boris Johnson sehnt (t-online berichtete). Wie Macron rief Sunak überraschend früh Neuwahlen aus. Aber anders als in Frankreich hängt die Wahl des Regierungschefs in Großbritannien von der Mehrheit im Parlament ab.

Frankreich driftet nach rechts. Großbritannien trudelt nach links. Der nächste Premier dürfte Keir Starmer sein, der Anführer der Labour Party, ein solider Mann, der seine notorisch zerstrittene Partei zusammenhält.

Unsere Regierung hat ihren Kompass ebenso verloren

Aus Deutschland könnten wir uns die Aufregung in den beiden Ländern entspannt anschauen, wenn es Grund zur Entspannung gäbe. Dummerweise sind auch wir mit einer Regierung geschlagen, die ihren Kompass verloren hat. Auch für uns ist die Europawahl ein unerfreuliches Omen. Auch bei uns stehen Konsequenzen an. Welche? Dafür gibt es zwei Optionen.

Option eins: Die Ampel vermag es Anfang Juli nicht, sich auf einen Haushalt zu einigen. Die FDP will keinesfalls die Schuldenbremse lockern, die SPD will es unbedingt, wagt aber nur halblauten Protest. Die Grünen sind hochgradig verunsichert und wissen nicht mehr, was sie wollen sollen. Also ringen sie die Hände und hoffen auf ein Ende des Sturzes ins Bodenlose. So schlafwandeln diese drei womöglich ins Aus.

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Option zwei: Nach den ostdeutschen Wahlen mit dem Durchbruch der AfD wechselt die SPD den Kanzler aus, wogegen weder die FDP noch die Grünen Einwände erheben. Boris Pistorius darf dann versuchen zu retten, was nur schwerlich zu retten ist.

Für die EU ist die Entwicklung in den drei großen, entscheidenden Ländern besorgniserregend. Ab Juli sind nicht nur Ungarn oder die Slowakei unsichere Kantonisten, sondern auch Frankreich. Und Deutschland stehen demnächst ebenfalls ein paar unerfreuliche Konsequenzen bevor, die einiges verändern.

Verwendete Quellen
  • Eigene Beobachtungen
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