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HomePolitikChristoph Schwennicke: Einspruch!

Cannabis und Abtreibung: Die Ampel macht den gleichen Fehler noch mal


Cannabisgesetz und Abtreibung
Doppelt töricht


18.04.2024Lesedauer: 3 Min.
Meinung
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Kanzler mit großem Ordnungssinn: Olaf Scholz (SPD) vor der Eröffnung einer Kabinettssitzung (Quelle: Maurizio Gambarini/imago-images-bilder)

Nicht erlaubt, aber geduldet: Nach diesem streitbaren Prinzip haben der Cannabiskonsum und der Schwangerschaftsabbruch hierzulande gut funktioniert. Die Ampel geht aus übertriebenem Ordnungssinn an beides ran. Ein großer Fehler.

Das Dauerhafte entsteht oft aus Vorläufigem, aus etwas, das nicht für die Ewigkeit, sondern für den Übergang gedacht war. Anders gesagt: Nichts ist so beständig wie das Provisorium. Unser ganzes Gemeinwesen fußt auf einem solchen Provisorium. Das Grundgesetz, dessen 75-jähriges Bestehen wir am 23. Mai feiern, hatte in einer Art Selbstauflösungsparagrafen festgelegt, mit der Wiedervereinigung seine Gültigkeit zu verlieren. Die Einheit ist nun auch schon mehr als 30 Jahre her, und dieser vorläufigen Verfassung, einem Meisterstück von Demokratie-Fundament, seien zum baldigen Geburtstag weitere mindestens 75 Jahre gewünscht.

Christoph Schwennicke
(Quelle: Reinaldo Coddou H.)

Zur Person

Christoph Schwennicke ist Politikchef und Mitglied der Chefredaktion von t-online. Seit fast 30 Jahren begleitet, beobachtet und analysiert er das politische Geschehen in Berlin, zuvor in Bonn. Für die "Süddeutsche Zeitung", den "Spiegel" und das Politmagazin "Cicero", dessen Chefredakteur und Verleger er über viele Jahre war. Jeden Donnerstag schreibt er bei t-online seine Kolumne "Einspruch!"

Ich bin seit jeher ein Freund des pragmatischen Provisoriums und nicht des Perfektionismus, auch im Privaten und als Bastler. Es muss nicht gut aussehen, es muss halten. Gut gefrickelt ist manchmal besser als schlecht gelöst. Was dauerhaft läuft und funktioniert, fasst man besser nicht an, nur weil es gefriemelt oder hingebogen ist. Mein Lieblingswerkstoff ist dieses graue Gewebeklebeband. Ein tolles Zeug. Sieht schlimm aus. Aber hält. Und hilft. An Plastikstoßfängern am Auto, an der Outdoorjacke mit Riss. Vermutlich könnte man mit ein paar Streifen mehr davon sogar Mondraketen, an denen etwas lose zu werden droht, notdürftig startfähig machen.

Jedenfalls lehrt das Leben: Wenn was funktioniert, rühre nicht daran. Es wird hinterher nicht besser. Die amtierende Bundesregierung ist nun kurz hintereinander zweimal dabei, gegen diese Lebenserfahrung zu verstoßen. Aus Überambition, ordnungspolitischem Rigorismus, warum auch immer. Sie wird dafür jedenfalls viel Lehrgeld bezahlen.

Jüngst wurde das Gesetz zum Cannabiskonsum unter viel Tamtam geändert. Man darf jetzt (außer in bayerischen Biergärten) kiffen, wie man lustig ist, genug Gras für eine ganze Woche öffentlich bei sich tragen und auch zu Hause anbauen. Die Kiffer-Community feierte mit Joints und Pfeifchen in der Nacht zum 1. April vor dem Brandenburger Tor und anderswo.

Hat sich wirklich so viel geändert?

Es sei ihr gegönnt. Aber ehrlich gesagt: Hat sich denn wirklich so viel geändert? War es das alles wert? Vorher war Cannabis zwar grundsätzlich verboten, aber so geduldet, dass doch über die Jahre Kiffen zum festen Stadtbild gehörte. Wenn es Sommer wurde in Berlin, dann waberten die Grasschwaden doch lange schon durch die Parks und zogen das Spreeufer spezifisch duftend entlang. Und wenn jemand eine Pflanze mit den markanten Blättern auf dem Fensterbrett im Wohnzimmer stehen hatte, rückte auch nicht gleich das SEK aus.

Dafür aber hat sich die Ampel großen Ärger eingehandelt. Bis auf ein paar Exoten, die dann gerne in die politischen Sendungen geholt werden, findet die Mehrheit in den betroffenen Fachwelten aus Medizin, Polizei, Justiz und Jugendschutz den Schritt falsch. Politische Meriten verdient sich damit keine der beteiligten Ampelfraktionen. Die Operation hat viel Arbeit und Zeit gekostet in einer Zeit, in der das Pflichtprogramm einer Regierung schon fordernd genug ist.

Kann man machen, lässt man im Zweifel aber lieber bleiben. In diese Kategorie fällt das neue Kiffergesetz.

Nach dem gleichen Muster wie bisher beim Cannabiskonsum verhält es sich mit der Gesetzeslage beim Schwangerschaftsabbruch. Nicht erlaubt, aber geduldet bis zur 12. Woche, wenn die Frau vorher eine Beratungsstelle besucht und die guten Gegenargumente gegen eine Abtreibung im Gespräch angehört hat. Und auch hier verfährt die Regierung nach dem Leitspruch "Legalize it!" und geht auch an den Paragrafen 218 beziehungsweise 219, zwei Zahlen, die seit Jahrzehnten für erbitterten Streit stehen. Der zu Recht noch viel tiefer geht als der um die Legalisierung von weichen Drogen.

Mit dem Stöckchen voll hinein in den Bienenstock

Abermals und nur kurze Zeit nach dem ersten macht die Ampel den Fehler, eine Büchse ohne Not aufzuschrauben, aus der die politisch giftigen Dämpfe nun entweichen werden. Man muss nicht in die USA schauen, um zu wissen, welches Spaltpotenzial dieses Thema hat. Nach Jahrzehnten der heftigen Kontroverse (der "Stern" landete 1971 einen Tabubruch-Scoop mit Frauen, die sich auf dem Cover mit „Wir haben abgetrieben!“ outeten). Es ist eine große gesellschaftliche Errungenschaft, dass dieser Bienenstock nicht mehr summt. Aber die Bundesregierung stochert mit Vorsatz mitten hinein – in einer Phase der Legislaturperiode, in der man davon ausgehen kann, dass das ohnehin nichts mehr wird mit einer etwaigen Gesetzesänderung.

Das Leben lehrt, mit pragmatisch-praktikablen Provisorien zu leben. Es ist im Grunde ja selbst eine einzige Kette aus Vorläufigkeiten. Kluge Zeitgenossen akzeptieren das und führen mit dieser Einsicht ein kontemplativeres Leben. Diese Bundesregierung hat das noch nicht verinnerlicht und macht sich in dunklen, anstrengenden Zeiten das Leben zusätzlich schwer. Ohne dafür belohnt zu werden. Das ist doppelt töricht.

Verwendete Quellen
  • Eigene Überlegungen
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