Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Kanzler-Nein zu Taurus an Ukraine Die Weisheit des Watschenmannes
Wer will noch mal, wer hat noch nicht? Jeder Hinterbänkler darf inzwischen den Kanzler für dessen Taurus-Nein der Begriffsstutzigkeit zeihen. Dabei hat Scholz bessere Argumente, als seine grobschlächtigen Kritiker begreifen.
Führungsschwäche, Maulfaulheit, nichtssagende Blechsprache, mäßiges Charisma, Hang zur Überheblichkeit: Bundeskanzler Olaf Scholz darf man mit gutem Grund mancherlei Unzulänglichkeiten in seiner Rolle als oberster Ampelmann vorhalten. Den Vorwurf mangelnden Intellekts oder unzureichender Reflexionsgabe verkneift sich aber sogar die Opposition in ihren fairen Momenten. Scholz sei "ein kluger Kopf", attestierte CSU-Chef Markus Söder unlängst in einem t-online-Interview jenem Mann, dem er mit der scharfen Beobachtungsgabe und Wortgewandtheit des früheren BR-Reporters auch schon einmal dessen "schlumpfiges Grinsen" als Fassade anstelle einer ordentlichen Antwort vorgehalten hatte.
Zur Person
Christoph Schwennicke ist Politikchef und Mitglied der Chefredaktion von t-online. Seit fast 30 Jahren begleitet, beobachtet und analysiert er das politische Geschehen in Berlin, zuvor in Bonn. Für die "Süddeutsche Zeitung", den "Spiegel" und das Politmagazin "Cicero", dessen Chefredakteur und Verleger er über viele Jahre war. Jeden Donnerstag schreibt er bei t-online seine Kolumne "Einspruch".
Gleichwohl wird der Kanzler seit Wochen als der letzte begriffsstutzige Holzkopf hingestellt, wenn er nach wie vor der Ukraine den weitreichenden bunkerbrechenden Marschflugkörper Taurus für deren Abwehrkampf gegen den Angriffskrieg Russlands vorenthält. Lustvoll und fast höhnisch werden Diskussionen am eigentlichen Knackpunkt dieses Themas vorbeigeführt. Der Kanzler sage nicht die Wahrheit, lüge gar, wenn er behaupte, dass das deutsche Waffensystem nicht ohne den Einsatz deutscher Experten, also Bundeswehrsoldaten, vor Ort in der Ukraine möglich sei. "Stimmt nicht!", "Stimmt nicht!!", schreit die außerkoalitionäre Opposition in Person des CDU-Wehrexperten Roderich Kiesewetter bis zur innerkoalitionären Opposition namens Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP. Man könne die Ukrainer an dieser Waffe auch vorher hierzulande ausbilden.
Pfeilgerade am Kern der Sache vorbei
Das schießt nun aber pfeilgerade (und vorsätzlich?) am eigentlichen Kern der Sache vorbei. Und diesen Kern hat Olaf Scholz vor einer Schülergruppe so direkt wie nur möglich beantwortet. Hängen blieb statt dieses Kerns von dieser Begebenheit nur, dass er seine Erklärung mit dem Zusatz versah, er sei der Kanzler und also gelte das.
In dem Fall kam das inhaltlich Wichtigere aber vorher. Scholz machte das Wesentliche innerhalb der Grenzen deutlich, die ihm die politische Rücksichtnahme auf die von Wladimir Putin geschundene und zu Recht mit aller westlichen Kraft unterstützte Ukraine setzt. Es geht nicht darum, die Ukrainer an der Waffe zu schulen. Es geht darum, diese garantiert in ihrer Reichweite zu begrenzen. Damit nicht Ziele jenseits des Verteidigungsraumes der Ukraine (eigenes Territorium und allenfalls angrenzende Gebiete mit Nachschubeinrichtungen der Russen) ins Visier genommen werden. Bauartbedingt reichte die Lenkwaffe Taurus von der Ukraine aus bis zur symbolträchtigen Brücke auf die Krim sowieso – aber auch und bis nach Moskau.
Es wäre nun naiv bis ignorant einzuwenden, die gelieferten Taurus könnten hierzulande in der Reichweite auf, sagen wir, 200 statt 500 Kilometer begrenzt werden, und alles ist gut. Wenn diese Flapsigkeit bei dem ernsten Thema erlaubt ist: Ich hatte als Junge mal ein Mofa, das ich natürlich frisiert habe. Wenn mich der Dorfpolizist regelmäßig damit erwischte, musste ich anderntags mit dem rückgebauten, gedrosselten Bock bei der Polizeistation vorfahren. Um dann nach Hause zu düsen – und wieder den dicken Krümmer zu montieren.
Es ist natürlich technisch für findige Leute machbar, das reichweitenbegrenzte schwere Kaliber in der Ukraine wieder auf volle Reichweite aufzubohren. Deshalb müssten deutsche Soldaten "on the ground", also vor Ort sein in der Ukraine: Um eben das zu verhindern. Sie wären dort nicht als Ausbilder, sondern als Aufpasser.
Es gibt keinen Grund für blindes Vertrauen
Heißt: Olaf Scholz traut der militärischen und politischen Führung der Ukraine nicht bedingungslos. Und das völlig zu Recht. Denn erstens ist das Land zwar eindeutig das Opfer eines russischen Expansionskrieges. Zugleich ist es aber auch kein Hort der Heiligen, wie die Zwischenstandsberichte Brüssels auf dem langen Weg des Landes in die Europäische Union immer wieder belegen. Und auch im bislang nicht aufgeklärten Fall der gesprengten Pipeline Nordstream 2 in der Ostsee weisen plausible Indizien und Spuren in die Ukraine. Obendrein ist es menschlich nachvollziehbar, dass die Ukraine in höchster Not zu Mitteln greift, von denen sie vorher beteuert hat, diese nicht anzurühren. Außerdem steht das Land im Moment politisch an einem möglichen Wendepunkt. Was, wenn die Führung stürzt, andere an die Macht kommen und dann über den Taurus verfügen?
Die Union möchte am heutigen Donnerstag in der Sache Taurus der Ampel und deren Kanzler eine Abstimmungsniederlage bescheren. Oder zumindest Zwietracht säen in den Reihen der Koalition. Aber Vorsicht, liebe Opposition, bei allem, was über diese Begebenheit hinaus geht. Ganz schnell könnte es eine Situation geben (etwa bei einem Koalitionsbruch, den Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Wolfgang Kubicki von der FDP schon an die Wand malen), in der ihr mit in der Verantwortung und damit in der Rolle des Kanzlers seid, der seine guten Gründe für die Zurückhaltung bei Taurus hat, sie aber nicht völlig unverblümt äußern kann.
Markus Söder hat seinerzeit in dem t-online-Interview zum klugen Kopf von Scholz hinzugefügt, dieser stehe ihm oft im Weg. Im Falle von Taurus ist das anders. Da stehen dem Kanzler Kurzdenker und vorsätzlich oder fahrlässig Begriffsstutzige gegenüber. Und einer aufrichtigen und verantwortungsbewussten Behandlung dieses sensiblen Themas im Weg.
- Eigene Überlegungen