"Sie sind Ökosysteme" Forscher finden mysteriöse blaue Tierchen im Plastikmüll in Ozeanen
In riesigen Müllstrudeln treiben Zehntausende Tonnen Plastik im Meer. Spezielle Lebewesen haben diese zu ihrem Lebensraum gemacht. Doch das könnte Folgen haben.
Der große sogenannte pazifische Müllstrudel beherbergt neben Zehntausenden Tonnen Kunststoff auch eine Fülle schwimmender Meeresorganismen direkt unter der Wasseroberfläche. Wie ein Forschungsteam im Fachblatt "PLOS Biology" berichtet, ist deren Zahl in Gebieten mit besonders viel Plastikmüll auch besonders hoch. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler befürchten daher, dass ausgerechnet Versuche, den Müll aus den Ozeanen zu fischen, eine Gefahr für diese Ökosysteme darstellen könnten.
Das Neuston, nach dem Griechischen "Das Schwimmende", ist eine besondere maritime Lebensgemeinschaft. Es bezeichnet die Gesamtheit der Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen, die überwiegend direkt unter der Wasseroberfläche leben. Viele dieser Lebewesen haben eine auffällige blaue oder violette Färbung, von der vermutet wird, dass sie vor UV-Strahlen schützt oder als Tarnung vor Fressfeinden dient. Entsprechend werden die Tiere auch "blaue Flotte" genannt. Neuston-Gattungen finden sich weltweit, aber derzeit ist mit der Sargassosee östlich von Florida nur eine Meeresregion bekannt, in der sie in hohen Dichten vorkommen.
Sehen Sie hier oder oben im Video Aufnahmen der besonderen Entdeckung.
Fünf Müllstrudel weltweit
Da die Neuston-Organismen Strömungen nutzen, um sich im offenen Ozean fortzubewegen, vermutete ein Team um Biologin Rebecca Helm, dass sie auch massenhaft in den großen Müllstrudeln der Weltmeere zu finden sind. Solche Plastikwirbel entstehen, wenn Oberflächenströmungen die Kunststoffverschmutzung von den Küsten in Regionen treiben, in denen rotierende Strömungen die schwimmenden Objekte einfangen.
Weltweit gibt es mindestens fünf solcher mit Plastik verseuchter Wirbel. Der ausgedehnteste ist der Große Pazifische Müllstrudel zwischen Hawaii und Kalifornien. Hier sollen einer 2018 veröffentlichten Studie zufolge knapp 80.000 Tonnen Plastik treiben.
Die Wissenschaftler um Helm, die an der US-amerikanischen Georgetown University forscht, begleiteten 2019 den französischen Rekord-Langstreckenschwimmer Ben Lecomte, der im Rahmen der Aktion "The Vortex Swim" in 80 Tagen durch den Pazifischen Müllstrudel schwamm, um auf die Umweltverschmutzung der Meere aufmerksam zu machen.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Während der Tour sammelte das Team von Helm täglich Proben und fand dabei mehr neustonische Meereslebewesen innerhalb des Nordpazifikwirbels als an dessen Rändern. Dabei korrelierte das Vorkommen von Plastikmüll besonders mit der Häufigkeit dreier Gattungen: Segelquallen (Velella), die wie ein rundes blaues Floß mit einem durchsichtigen Segel aussehen, violette Veilchenschnecken (Janthina) und Blaue Knopfquallen (Porpita), die eigentlich keine Quallen sind, sondern zur Familie der Hydrozoen gehören.
Nachwuchs von Segelquallen nachgewiesen
Ihre Studie könne nur stichprobenartige Ergebnisse liefern, schreiben die Forschenden selbst. Nichtsdestotrotz lege ihre Arbeit nahe, dass dieselben Meeresströmungen, die den Plastikmüll in den Ozeanwirbeln konzentrierten, für die Lebenszyklen der schwimmenden Meeresorganismen von entscheidender Bedeutung sein könnten, da sie diese zur Nahrungsaufnahme und Paarung zusammenführten. Tatsächlich wiesen die Meeresbiologen in mindestens einer Probe Segelquallen-Nachwuchs nach.
Menschliche Aktivitäten könnten sich jedoch negativ auf diese Begegnungsstätten auf hoher See und die von ihnen abhängige Tierwelt auswirken. So dienten die Neuston-Organismen etwa Seevögeln, Fischen und Schildkröten als wichtige Nahrungsquelle, heißt es in der Studie.
"Sie sind Ökosysteme, nicht wegen, sondern trotz des Plastiks"
Unter menschliche Aktivitäten fallen für Rebecca Helm nicht zuletzt Projekte wie "The Ocean Cleanup", bei dem mit riesigen Fangvorrichtungen Abfälle aus dem Meer geholt werden. In der Vergangenheit hatte Helm sich bereits mehrfach kritisch dazu geäußert: 2019 erklärte sie etwa bei einem Symposium der University of Liverpool zu dem Projekt, dieses könne eine Gefahr für die "blaue Flotte" darstellen – eine Warnung, die "The Ocean Cleanup" zufolge auf falschen Annahmen beruhe.
Vor allem gebe es keine Hinweise darauf, dass sich Plastikmüll und Neuston am selben Ort befänden, so Projektgründer Boyan Slat in einem online veröffentlichten Kommentar. Für Helm und ihr Team liefert ihre Studie hier nun neue Informationen. Zwar seien noch mehr und bessere Daten nötig, um Schlüsse über die genaue Neuston-Verteilung im Nordpazifikwirbel und anderen Meereswirbeln zu ziehen, doch schon jetzt liege nahe, dass diese nicht nur Sammelbecken für Kunststoffabfälle seien: "Sie sind Ökosysteme, nicht wegen, sondern trotz des Plastiks."
- Nachrichtenagentur dpa