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Historikerin Richter: "Was Baerbock oder Laschet erleben, erscheint mir grotesk"


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Historikerin Hedwig Richter
"Was Baerbock oder Laschet erleben, erscheint mir grotesk"

InterviewVon Marc von Lüpke und Florian Harms

Aktualisiert am 08.09.2021Lesedauer: 8 Min.
Angela Merkel, Annalena Baerbock und Armin Laschet: Die Historikerin Hedwig Richter kritisiert bei t-online die verbreitete Respektlosigkeit im Umgang mit Politikern.Vergrößern des Bildes
Angela Merkel, Annalena Baerbock und Armin Laschet: Die Historikerin Hedwig Richter kritisiert bei t-online die verbreitete Respektlosigkeit im Umgang mit Politikern. (Quelle: Kay Nietfeld/dpa)

Deutschlands Probleme sind groß, aber der Wahlkampf ist flach. Warum sind Spitzenpolitiker so ambitionslos? Weil sie respektlos behandelt

Das Schimpfen über Politiker ist zum Volkssport geworden: Die Volksvertreter werden kritisiert und gescholten; bisweilen mit guten Argumenten, oft aber eben auch ohne. Das wird zunehmend zum Problem. Zwar lebt die Demokratie von Debatten und auch von Streit. Werden aber die Grenzen einer sachlichen Auseinandersetzung zu oft überschritten, geht es nur noch um Häme, Spott und Verachtung, tragen nicht nur die Betroffenen Verletzungen davon. Auch die politische Kultur nimmt dann Schaden.

Wenige haben sich so intensiv mit den Wurzeln und den Folgen dieser Entwicklung beschäftigt wie Hedwig Richter. Die Historikerin ist Expertin für die Geschichte der Demokratie; im vergangenen Jahr hat sie ein wichtiges Buch dazu veröffentlicht. Warum Armin Laschet und Annalena Baerbock aus ihrer Sicht ungerecht behandelt werden, erklärt Hedwig Richter im folgenden Gespräch ebenso wie ihre Überzeugung, dass die "sozialen Medien" der Demokratie schaden:

t-online: Frau Richter, die Herausforderungen für Deutschland sind gewaltig: Klimakrise, Digitalisierung, soziale Spaltung, Wohnraummangel, internationale Krisen. Der Wahlkampf der Kanzlerkandidaten Annalena Baerbock, Olaf Scholz und Armin Laschet wirkt jedoch wenig ambitioniert. Woran liegt das?

Hedwig Richter: Das ist ein großes Problem, und dafür gibt es viele Gründe. Einer ist die extreme Vorsicht der Politikerinnen und Politiker – und das liegt nicht zuletzt daran, dass sie oft mit Respektlosigkeit behandelt werden. Was etwa Annalena Baerbock oder auch Armin Laschet gerade erleben, erscheint mir grotesk. Egal, was sie machen, der Shitstorm in den sozialen Medien ist ihnen gewiss. Das schadet der wichtigen Sachkritik, die daneben häufig untergeht.

Also sind die sozialen Medien schuld, dass sich Spitzenpolitiker nicht mehr trauen, Klartext zu reden?

Teilweise schon. Die Skandalisierungsriten nicht nur in sozialen Medien erscheinen mir problematisch. Es tötet die demokratische Diskussion ab, wenn man der Gegenseite immer gleich die böseste Absicht unterstellt. Die Respektlosigkeit gegenüber Politikerinnen und Politikern wird aber auch wesentlich von ressentimentgeladenen Bewegungen wie Pegida oder "Querdenkern" befördert. In vielen Fällen, wie bei Saskia Esken oder Annalena Baerbock, hat das auch mit Misogynie zu tun. Rede und Kritik müssen einen Raum haben, ohne zur toxischen Kommunikation zu werden. All das trägt dazu bei, das Vertrauen in die Politik zu untergraben. Aber Demokratie lebt von Vertrauen.

Dann sind wir also in einem Teufelskreis gefangen: Niemand traut sich mehr zu, kontroverse Ideen zu äußern, weil ihm sofort das digitale Scherbengericht droht? Das hieße, die sozialen Medien schaden unserer Demokratie.

In dieser Hinsicht schon. Dabei halte ich es grundsätzlich für gut und demokratisch, dass soziale Medien allen eine Stimme geben. Warum sollte es nicht möglich sein, dass Menschen lernen, mit dieser neuen Verantwortung umzugehen und bessere Regeln für die Online-Kommunikation finden? Soziale Medien stehen für mehr Demokratie. Sie tragen zur Herausbildung einer neuen Öffentlichkeit bei – vibrierend, egalisierend, invasiv, pandemisch. Problematisch ist dabei unter anderem, da stimme ich dem Politikwissenschaftler Philip Manow zu, dass Parteien immer weniger Einfluss haben. Demokratie braucht nicht nur die öffentlichen Diskussionen, sondern auch die Hinterzimmer, in denen etwa Parteien in Ruhe ihre Kandidaten aussuchen. Es ist Teil des "Checks and Balances". In den USA sehen wir, wohin die Aushöhlung einer wichtigen Institution wie die der Parteien führt.

Hedwig Richter, Jahrgang 1973, lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. Die Historikerin wurde 2020 mit dem Anna-Krüger-Preis des Wissenschaftskollegs zu Berlin ausgezeichnet, im gleichen Jahr erschien ihr vielbeachtetes Buch "Demokratie. Eine deutsche Affäre".

Genau. Aber wir sehen auch in anderen Ländern, wie Parteien an Macht verlieren und dadurch ein wichtiger Faktor der Machtbalance verloren geht. Parteien schränken basisdemokratische Prozesse ein, und für liberale Demokratien ist das wichtig.

Trump wurde abgewählt, ansonsten hätte er spätestens nach zwei Amtszeiten abtreten müssen. So will es die amerikanische Verfassung, so kommen immer wieder neue politische Kräfte an die Macht. In Deutschland ist Angela Merkel seit 2005 an der Macht, ihr Vorgänger Helmut Kohl war ebenfalls ein Langzeit-Kanzler. Wählen die Deutschen gerne Politiker, die für Kontinuität stehen und den Bürgern wenig zumuten?

Das ist in der Tat ein Problem, bisweilen sogar fatal. Politikerinnen und Politiker wollen gewählt werden, daher glauben sie, den Menschen wenig zumuten zu können. Die Wiedervereinigung 1990 ist ein Beispiel: Langfristig wäre es wesentlich besser gewesen, hätte man die gewaltigen Probleme klar benannt.

War es falsch, dass Helmut Kohl den Ostdeutschen "blühende Landschaften" versprach?

Ja, das war falsch. Ich glaube, dass die Menschen es durchaus akzeptiert hätten, wenn die Politik damals deutlich gesagt hätte, welche Herausforderungen auf sie zukommen. Und genauso würden die Bürgerinnen und Bürger heute mehr Ehrlichkeit im Umgang mit der Klimakrise schätzen. Das Triell auf RTL neulich war auch deswegen so dröge, weil weder Laschet noch Scholz den Wählern etwas zumuten wollen. Dazu passt, dass viele wichtige Fragen wie die Sozialpolitik oder Digitalisierung ausgelassen wurden und dafür über Scheinprobleme wie die geschlechtergerechte Sprache gesprochen wurde. Hinzu kommt: In einem repräsentativen System sind die Politikerinnen und Politiker verpflichtet, die Zeit ihres Mandats für verantwortungsvolle Entscheidungen zu nutzen, auch wenn diese unpopulär sind.

Aber die Grünen reden doch ständig darüber, wie schlimm der Klimawandel ist und was sich alles ändern muss.

Natürlich gibt es auch Politik, die sagt, was notwendig ist. Und die Grünen sind damit sogar relativ erfolgreich, auch wenn ihre Werte erwartbar nach dem ersten Hype um Baerbock wieder gesunken sind. Das heißt, man kann dem Wahlvolk durchaus einiges abverlangen. Aber reicht das grüne Programm aus, um das Klima effektiv zu schützen? Hier bräuchte man viel mehr Debatte und Auseinandersetzung. Statt erregte Skandaldiskussionen zu führen, sollte man über Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimakrise sprechen oder über die Rolle Europas in der neuen Weltordnung.

Bestärkt diese respektlose Diskussionskultur die AfD?

Auf jeden Fall. In meinen Augen spielt jeder dieser sinnlosen Shitstorms den Rechtspopulisten in die Hände. Das Vertrauen in Politiker und Parlamente ist sehr niedrig. Politiker gelten vielen mittlerweile als zutiefst verachtenswerte Klasse, die Demokratie als eine Scheinveranstaltung. Das ist ein vorzüglicher Nährboden für die AfD – und übrigens auch für Impfverweigerer oder Leugner der Klimakrise.

Funktionierte also die Politik früher nicht doch besser?

Als Historikerin kann ich Ihnen versichern: Die bundesrepublikanische Vergangenheit war keineswegs so rosig, wie sie die Politikskepsis heute teilweise darstellt. Erinnern wir uns an die Fünfzigerjahre in der alten Bundesrepublik: Damals mussten Millionen von Flüchtlingen integriert werden, die Verteilungskämpfe waren extrem hart, die Menschen lebten im Vergleich zu heute in viel prekäreren sozialen Umständen. Der Modus der Demokratie ist die Krise, insofern sind Krisendiskurse wichtig. Aber dieses andauernde Krisenvibrieren, das durch die sozialen Medien befördert wird, kann auch schädlich sein und zur Selffulfilling Prophecy werden.

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Vielen erscheint angesichts der aktuellen Krisen der Vergleich mit Weimar angemessen.

Gerade dieser Vergleich zeigt, wie viel besser die Situation heute ist. Anders als am Ende der Weimarer Republik gibt es heute in unseren Städten keine Straßenschlachten mit zahlreichen Toten, keine Heerscharen an hungernden, arbeitslosen, obdachlosen Menschen. Bei allen Problemen und aller Skepsis hält doch die überwältigende Mehrheit in der Bevölkerung heute Demokratie für die beste Regierungsform. Deutschland ist eine stabile Demokratie geworden – so wie auch viele andere Länder in der Welt.

Aber einige Demokratien, wie Polen und Ungarn, entwickeln sich nun zu Autokratien.

Ich finde es äußerst bedenklich, was in Polen und Ungarn passiert. Aber noch in den Achtzigerjahren waren beide Staaten brutale Diktaturen. Wir sollten immer auch die langfristigen Entwicklungslinien im Blick behalten.

Nach dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs 1989 glaubte der Westen, dass sich sein Modell der liberalen Demokratie weltweit durchsetzen würde. War das naiv?

Ja, es gab diese Hoffnungen. Doch die Demokratie konkurriert weiterhin mit anderen politischen Systemen. Allerdings ist die liberale Demokratie dabei durchaus nicht so erfolglos, wie häufig behauptet wird. Es ist nicht überraschend, dass die Zunahme der Demokratien weltweit nicht mehr so schnell vorangeht wie in den 1990er-Jahren und aktuell sogar stagniert. Und die Rückschläge wie in Ungarn oder Polen sind nicht untypisch. In der Geschichte fast aller demokratischen Länder gibt es diese Rückschläge und schmerzhaften Lernprozesse. Ich bin froh, dass Ungarn und Polen in die EU integriert sind. Das wird ihnen vermutlich dabei helfen, ihre demokratischen Institutionen künftig wieder besser zu schützen.

Auch Deutschland hat lange gebraucht, um eine stabile Demokratie zu werden.

Allerdings. Die deutsche Geschichte ist ein extremes Beispiel dafür, dass Demokratie keine Selbstläuferin ist. Wichtig ist auch, dass Deutschland keineswegs erst mit der gescheiterten Republik von Weimar Erfahrungen mit der Demokratie gemacht. Es gab etwa seit Beginn des 19. Jahrhunderts in zahlreichen Staaten Verfassungen, in fast allen deutschen Staaten begann spätestens mit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Parlamentsgeschichte; auch die Demokratisierungsprozesse im Kaiserreich sind wichtig. Dazu gehören der beeindruckende Aufstieg der Sozialdemokratie oder der Bedeutungsgewinn des Parlaments, aber auch der Beginn eines der größten Emanzipationsprozesse.

Sie meinen die Frauenbewegung?

Es wird oft vergessen, aber Frauen durften vor dem Ersten Weltkrieg weltweit fast nirgendwo wählen. Ihr jahrzehntelanger Kampf um Gleichberechtigung nahm um 1900 in Deutschland wie in anderen Ländern an Fahrt auf: in Form von Petitionen, Demonstrationen und Vereinsarbeit. Die friedlichen Formen tragen dazu bei, dass dieser Kampf – anders als die heroischen Revolutionen – so wenig bekannt ist. Dabei waren die Frauen in vielem erfolgreich. Das Frauenwahlrecht verwirklichte dann aber erst die Republik in der Novemberrevolution 1918.

Nach der Kapitulation von Nazideutschland im Mai 1945 entschieden sich die westlichen Alliierten, das Land zu demokratisieren. Damit waren sie außerordentlich erfolgreich. Warum hat damals hierzulande geklappt, was jetzt in Afghanistan nach 20 Jahren internationalem Einsatz nicht funktioniert?

Weil man Demokratie nicht von außen implantieren kann. Die Befürwortung demokratischer Strukturen muss aus der Bevölkerung des Landes selbst kommen. Die Politik der Westalliierten war außerordentlich klug und wichtig. Doch die Stabilität der bundesrepublikanischen Demokratie wäre ohne die demokratischen Traditionen nicht möglich gewesen. Dennoch muss die deutsche Demokratie stets auch unter dem Aspekt der Terrorherrschaft des Nationalsozialismus betrachtet werden. Die Bundesrepublik hat sich immer sehr stark in Abgrenzung zum NS-Regime verstanden. Aus dem Untergang der ersten deutschen Demokratie und dem jubelnden Aufstieg der Nazis zogen die Väter und Mütter des Grundgesetzes als Lehre ein tiefes Misstrauen gegen die "Massen", gegen direkte Demokratie.

Tatsächlich hält das Grundgesetz das Volk auf Distanz. Es hat durch die repräsentative Demokratie viele Hürden zwischen den Wählerwillen und die exekutive Gewalt gestellt.

Die Geschichte der Demokratie war und ist stets auch die Geschichte ihrer Einschränkung. Demokratie als vollkommene Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger ist eine Utopie. Die Institution der allgemeinen und gleichen Wahlen bietet die Möglichkeit, diese Utopie mit der Realpolitik zu versöhnen. Liberale Demokratien leben eben von der Machtbalance. Repräsentation verhindert die direkte Demokratie, Verfassungen schränken die Herrschenden, aber auch den Mehrheitswillen ein, Parteien sind Gatekeeper, die für gemäßigte Kandidatinnen und Kandidaten sorgen, die nicht radikale Ränder bedienen. Die problematische Schwächung der Parteien sollte uns ins Gedächtnis rufen, dass immer mehr Basisdemokratie, mehr direkte Demokratie der liberalen Demokratie durchaus schaden kann.

Was bedeutet das für die Bundestagswahlen?

Wahlen sind keine Scheinveranstaltung, wie Extremisten oft behaupten. Wahlen sind das grundlegende Verfahren, mit der Politik durch das Volk legitimiert und die Bevölkerung ins politische Geschehen einbezogen wird. Dass das nur alle vier Jahre geschieht, ist kein Mangel, sondern eine Stärke unseres Systems. Allen, die mehr Einfluss wollen, stehen zahlreiche Möglichkeiten wie Parteien oder NGOs zur Verfügung. Das ist allerdings mühsam. Demokratie ist keine Veranstaltung zur Volksbespaßung, sondern bedeutet harte Arbeit. Und ich habe Respekt vor jenen, die den Großteil der Mühen auf sich nehmen und sich zur Wahl stellen: den demokratischen Politikerinnen und Politikern.

Frau Richter, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Hedwig Richter via Zoom
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