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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Das Erbe der Ära der Merkel "Das war vielleicht schon der Anfang vom Ende"
16 Jahre regierte die CDU – und verwandelte sich in eine Machtmaschine. An niemandem zeigt sich das stärker als an Staatssekretär Günter Krings. Begleitung eines Mannes, der sich jetzt neu erfinden muss.
In dem Moment, als es vorbei ist mit der CDU und mit der Macht, da steht Günter Krings in der zweiten Reihe der Zuschauer im Regierungsviertel. Es ist der 2. Dezember, die kalte Berliner Nachtluft liegt wie ein Teppich über der Stadt. Im Bendlerblock, vor der scheidenden Kanzlerin Angela Merkel, ist an diesem Abend ein Bataillon der Bundeswehr angetreten. Stahlhelme, Fackeln, Blasorchester. Der "Große Zapfenstreich" zu ihrer Verabschiedung.
Und im Publikum, direkt hinter Merkel: Günter Krings, 52 Jahre alt, graue Haare, offener Blick. Er gehört zu den wenigen, die eingeladen wurden – nur 200 Gäste durften aufgrund der Corona-Regeln kommen. Krings verfolgt die Zeremonie nachdenklich. War da ein Glitzern in den Augen der Kanzlerin? Krings zuckt mit den Schultern. Hat er nicht gesehen, er stand ja hinter ihr. Und er musste danach auch weiterarbeiten. Keine Zeit, sich über Abschiedstränen Gedanken zu machen.
Sechzehn Stunden später sitzt Günter Krings in seinem Büro, sieht etwas erschöpft aus und sagt trotzdem: "Das war schon sehr bewegend, das zu sehen." Und dann sagt er noch: "Es waren 16 gute Jahre – aber aus Sicht der CDU zwölf Jahre davon in einer ungewünschten Koalition. Mit der SPD an der Seite konnte sich die Partei nicht profilieren und musste in der Regierung oft zu viele Kompromisse eingehen."
Plötzlich ist er einer von vielen
Und damit ist er bei seinem Hauptthema, der eigenen Partei. Denn Krings ist ein Profiteur seines eigenen Fleißes – und des Erfolgs seiner CDU. Er war zunächst einige Jahre stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Union, seit 2013 dann Staatssekretär im Innenministerium. Mit diesem Amt war er einer der Stellvertreter des deutschen Innenministers, erst von Thomas de Maizière, dann von Horst Seehofer.
Die CDU hat viele nach oben getragen, in diesen letzten 16 Regierungsjahren. Doch niemand spiegelte den Erfolg der Christdemokraten so wider wie Günter Krings. Sein Aufstieg verlief linear zum Rückhalt der Konservativen bei den Wählern. Beharrlich schraubte er sich unter Angela Merkel immer höher. Und stürzt jetzt ab, weil die Union abgewählt wurde. Nun ist Krings ein Abgeordneter wie alle anderen auch.
An Krings lässt sich die Verwandlung der CDU in eine Machtmaschine nachzeichnen. Wie die Partei als Preis für den Erfolg allmählich inhaltlich ausgehöhlt wurde. Und es lässt sich beobachten, wie schwer den Christdemokraten jetzt die Neuorientierung fällt. Während mancher in der Ampelkoalition bereits erklärt, länger als vier Jahre miteinander regieren zu wollen, steht Krings mit seiner Partei vor zwei Fragen. Die erste lautet: Wer wollen wir sein? Und die zweite: Wer braucht uns eigentlich noch?
Doch erst einmal möchte Krings eine dritte Frage beantworten. Sie lautet: Wo kommen wir her? Es ist der 11. Oktober, gut zwei Wochen nach der Bundestagswahl. Krings sitzt in seinem Büro im Innenministerium, er hat einen beeindruckenden Blick über das Regierungsviertel. Von seinem Schreibtisch aus kann er den Bundestag sehen und reichlich Himmel über Berlin.
Er entdeckte den Heimatschutz für sich
Als Krings ein Teenager war und in einem kleinen Dorf in Nordrhein-Westfalen aufwuchs, war der Braunkohle-Tagebau das wichtigste politische Thema in der Region, erzählt er. Krings war dagegen. Schon in frühen Jahren entdeckte er den Heimatschutz für sich. Häuser, Äcker, Landschaft – all das sollte erhalten bleiben, fand er. Heute sagt er: "Konservativ ist es doch, wenn der Bauer auf seiner Erdscholle bleiben kann!"
Er trat bereits mit 14 Jahren in die Junge Union ein und traf dort viele Jugendliche, die seine Ansichten teilten. Mal setzten sie sich für die Bauern, mal für den Erhalt einer Lederfabrik, mal für die Restaurierung eines Museums ein.
Auf kommunaler wie auf Bundesebene war die Stellung der CDU damals ganz klar, fand Krings: Gegen zu viel Veränderung, der Feind stand links, möglichst viel Erhalt der Tradition. Der Satz von Strauß, rechts der Partei sei "nur noch die Wand", passt nahtlos in diese Haltung.
Die Bundeskanzler wechselten sich zwischen SPD und Union nahezu ab, ein Dreierbündnis in den Koalitionen auf Bundesebene gab es nicht. Alte Bundesrepublik, überschaubare Verhältnisse. Und dazwischen der junge Günter Krings, der bald beschloss, Karriere bei den Konservativen zu machen.
Eine Partei, die Merkel die Regierungsmacht sichert
Er legte das Abitur mit Einserschnitt ab, entschied sich dann für ein Jurastudium, wieder regnete es top Noten. Ein Überflieger.
2002 wird Krings zum ersten Mal in den Bundestag gewählt. Er kandidierte damals gleich gegen Julia Klöckner um den Vorsitz der Jungen Gruppe der Unionsabgeordneten. Krings gewann, er lernte die Regeln des politischen Geschäfts schnell. Somit hatte er sich seine erste Machtbasis gesichert, und begann sich zu vernetzen.
Und dann erlebte Krings, wie die Verwandlung der Union zu einem Machtapparat einsetzte. Wie Merkel die Konservativen verwandelte zu einer Partei, die einfach immer die meisten Stimmen bekam. Krings drückt es heute so aus: "Ich denke, dass Angela Merkel die Partei schon ab 2005 darauf ausrichtete, die Regierungsmacht zu sichern." Gemeint ist: Merkel machte sich Positionen des Regierungspartners – in der Regel von der SPD – zu eigen, verkaufte sie als ihre eigenen und sicherte der Union den nächsten Wahlsieg.
Krings sah das damals alles mit Skepsis. Aber er profitierte auch davon, ihn trug die Macht der Union weiter nach oben. 2013 wurde er dann Staatssekretär. "Wir waren immer eine pragmatische Partei, das habe ich schon als Schüler gelernt, bei der Lektüre einer Adenauer-Biografie", sagt er heute.
Fast hätte sich der Pragmatismus des Regierens für ihn sogar noch mehr gelohnt. Denn um ein Haar wäre Krings Präsident des Bundesverfassungsgerichts geworden. Andrea Nahles hatte ihm schon ihre Unterstützung zugesichert, als der Posten neu zu besetzen war, die Union wollte ihn sowieso – es scheiterte schließlich am Widerstand der Grünen.
Die Anziehungskraft der Union auf ihre Anhänger schmolz
Krings blieb also Staatssekretär und musste bald seine vielleicht herausforderndste Aufgabe bewältigen. Im September 2015 traf er sich an einem Vormittag mit dem ungarischen Justizminister im deutschen Innenministerium. Der fragte Krings, ob die Bundesrepublik nicht deutlich mehr Flüchtlinge aufnehmen könnte, die in seinem Land stünden. Krings verneinte, auch im Auftrag von Horst Seehofer. Sein Gesprächspartner flog daraufhin zurück nach Budapest, um die Linie des deutschen Innenministeriums mitzuteilen. Die Flüchtlinge machten sich trotzdem auf den Weg.
Angela Merkel schloss die deutschen Grenzen bekanntlich nicht, sagte "Wir schaffen das" und fast eine Million Menschen kamen damals ins Land. Die Zustimmung in der Bevölkerung war überwältigend, die CDU-Kanzlerin machte erneut Politik für die Masse. Günter Krings sagt dazu nur: "2015 war schon ein besonderer Einschnitt. Sicherlich hätte da manches anders kommuniziert und auch anders entschieden werden müssen. Als CDU haben wir da auch viel Zuspruch verloren."
In den letzten Jahren muss Krings klar geworden sein, dass die Union weniger ihre Stammwähler an sich band. Es kamen Wähler von praktisch überallher: Den Grünen, der SPD und teilweise sogar der FDP. Sie alle fanden Merkel gut, sie alle wollten diesen Kurs der Mitte. Doch die Anziehungskraft der Union auf ihre Kernklientel schmolz wie Eis in der Sonne – und nach 2015 wurde die AfD stärker denn je.
Krings glaubt, dass man für die damals große Zustimmung bei der Flüchtlingsbewegung heute an Beliebtheit einbüßt. Beispielsweise im letzten September, bei der Klatsche für die Union: "Bei dieser Wahl hatten wir zwar noch die größte Expertise bei der Innenpolitik, aber unser Kompetenzvorsprung ist dramatisch geschrumpft und wir haben das Thema viel zu wenig genutzt."
"Das hat man der SPD mit dem Vizekanzler abgenommen"
Das ist ein bemerkenswerter Satz für jemanden, der acht Jahre lang der Stellvertreter des deutschen Innenministers war. Und es ist immerhin schon die zweite Bundestagswahl, nachdem 2015 so viele Menschen ins Land kamen. Mit dem Unterschied, dass jetzt Angela Merkel nicht noch mal antrat.
Und auch danach seien einige Fehler in der Regierung gemacht worden, vor allem 2017, als erneut, notgedrungen, eine Große Koalition von Merkel auf den Weg gebracht wurde. Krings sagt: "Die personelle Aufstellung zu Beginn der letzten Wahlperiode war nicht klug. Das gilt für Ministerbesetzungen ebenso wie für den verpassten Neuanfang an der Fraktionsspitze. Das war vielleicht schon der Anfang vom Ende."
"Herzlich willkommen, Günther Krings!", ruft Armin Laschet auf der Bühne ins Mikrofon. Krings lächelt, dreht sich zu seinen Parteifreunden um und winkt. Es ist der 23. Oktober, Parteitag des größtes Landesverbands der CDU in Nordrhein-Westfalen. Der Nachfolger von Armin Laschet soll gewählt werden, die Erneuerung der CDU könnte hier beginnen. Krings sitzt in der zweiten Reihe von vorne, er trägt eine Steppweste und knabbert an einem Brötchen.
Warum ging das eigentlich schief, dieser Wahlkampf mit Armin Laschet? Er galt doch lange als Merkel-Getreuer, hätte die CDU mit ihm nicht weiterhin auf dem Kurs der Mitte segeln können? Krings hört noch kurz der Rede von Armin Laschet zu, dann sagt er: "Der Wunsch der Menschen war erkennbar auf personelle Kontinuität bei gleichzeitig inhaltlichem Neubeginn ausgerichtet. Das hat man interessanterweise der SPD mit dem Vizekanzler als Kandidaten abgenommen." Und der CDU? "Wir wurden aber genau umgekehrt gesehen: Armin Laschet hat personell keine Kontinuität vermittelt und unser Programm wurde inhaltlich nicht als Aufbruch wahrgenommen." Die entkernte Partei, da ist sie wieder.
Während Laschet noch auf der Bühne über die Rolle der CDU in Deutschland erzählt und kurz darauf Hendrik Wüst gewählt wird, dröhnen von draußen Hunderte linke Autonome, die sich vor der Halle versammeln: "Das bin ich, das bist du: Das Verbot der CDU!" Es war schon mal mehr Lametta, früher.
Noch einmal zurück zu vergangenem Freitag. Krings sitzt in seinem Büro, er hat es noch fünf Tage, dann muss er es räumen. Die Mitglieder können jetzt abstimmen, der nächste Chef der Partei wird gewählt. Innerhalb von etwa drei Jahren ist es nun das dritte Mal. Der Ex-Fraktionschef Friedrich Merz tritt gegen den Außenpolitiker Norbert Röttgen und den ehemaligen Kanzleramtsminister Helge Braun an. Wobei Merz als Favorit gilt.
"Wir sind eben nicht extrem"
Wer wird es nun? Krings will sich nicht festlegen, er schwankt noch. Er, als Konservativer der sprichwörtlich alten Schule, hat natürlich eine Vorliebe für Merz. Manchmal tendiert er jedoch trotzdem zu Röttgen. Wichtig sei, dass die Union mal wieder klarmache, wofür sie eigentlich stehe, findet er.
Kann er denn mal drei unverwechselbare Punkte aufzählen? Klar, kann er. Ruckzuck geht das, als hätte er auf so eine Frage nur gewartet. "Innere Sicherheit stärken. Die Familien fördern. Und den Schutz von Eigentum garantieren."
Wie damals, einfach gegen den Braunkohle-Tagebau zu sein, das gehe nicht mehr, glaubt Krings: "Wir müssen die skeptischen Wähler mitnehmen, ihnen zeigen, was wir wollen und gleichzeitig die Klimaziele durchsetzen. Deshalb müssen wir an zwei Fronten kämpfen – die Grünen und die AfD haben es da so gesehen einfacher. Wir sind eben nicht extrem."
Und die Frauenquote, die jetzt in seiner Partei diskutiert wird, taugt die nicht für die Erneuerung? Krings ist nicht überzeugt, er sagt: "Vielleicht brauchen wir die auch." Und dann schiebt er nach: "Wie man nach Monaten intensiver Beratung nichts Kreativeres finden konnte als die Quote, ist mir ein Rätsel." Er klingt ein bisschen ratlos, als er das sagt.
- Eigene Recherche, persönliche Treffen mit Krings in Berlin und Bielefeld