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Ukraine-Krieg | Grünen-Chef Omid Nouripour: "Es ist ein untragbarer Zustand"


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Grünen-Chef Nouripour
"Da geht es nur noch ums Zerstören"


Aktualisiert am 18.06.2022Lesedauer: 8 Min.
Grünen-Chef Omid Nouripour: "Da geht es nur noch ums Zerstören."Vergrößern des Bildes
Grünen-Chef Omid Nouripour: "Da geht es nur noch ums Zerstören." (Quelle: bildgehege/imago-images-bilder)
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"Untragbar, tief frustrierend": Der Grünen-Chef zeigt seinen Ärger über Probleme bei den Waffenlieferungen an die Ukraine. Im Interview spricht Omid Nouripour auch über neue Entlastungen – und die nächste Corona-Welle.

t-online: Herr Nouripour, Wladimir Putin hat in dieser Woche daran erinnert, dass er uns jederzeit den Gashahn zudrehen kann. Wie sehr hat uns der russische Präsident in der Hand?

Omid Nouripour: Die Abhängigkeit ist noch zu groß. Robert Habeck arbeitet mit Hochdruck daran, das schnell zu reduzieren und Deutschland unabhängig von Russland zu machen. Da sind wir schon gut vorangekommen, aber die Realität ist: Wenn Putin uns heute das Gas abdreht, ist die Energieversorgung zwar für den Moment gesichert. Aber wirtschaftlich wäre das ein erhebliches Problem.

Die Bundesregierung ist der Ansicht, dass wir russisches Gas derzeit nicht ersetzen könnten …

… das ist keine Ansicht, das lässt sich mit Fakten untermauern.

Und zwar?

Es hängt nicht am auf dem Markt verfügbaren Gasvolumen. Davon gäbe es genug, auch schnell. Das Problem sind die Verteilmöglichkeiten. Der Großteil unseres Gasnetzes ist nach Russland ausgerichtet, das lässt sich so schnell nicht ersetzen. So viele Kesselwagen gibt es nicht, um genügend Gas aus Rotterdam nach Wattenscheid zu fahren.

Omid Nouripour, 46, ist seit Februar gemeinsam mit Ricarda Lang Parteivorsitzender der Grünen. Im Bundestag sitzt der Außenpolitiker seit 2006. Nouripour ist in Teheran geboren und zog im Alter von 13 Jahren mit seinen Eltern nach Frankfurt am Main.

Aber was würde passieren, wenn Putin die Lieferungen nicht nur stark reduziert, wie er es jetzt getan hat, sondern sie ganz stoppt?

Wirtschaftsminister Robert Habeck würde die höchste Notfallstufe für Gas ausrufen müssen. Das würde bedeuten, dass wir signifikant Energie einsparen müssen, damit wir mit dem vorhandenen Gas über den Winter kommen. Wir haben schon vorgearbeitet, es sind Gesetze auf den Weg gebracht worden, wir haben neue Lieferwege erschlossen und mehr Gas eingespeichert. Aber noch reicht das nicht, um das russische Gas komplett zu ersetzen. Deswegen gilt es auch jetzt, gemeinsam Energie zu sparen. Jeder Kubikmeter eingespartes Gas hilft.

Ist die Abhängigkeit von russischem Gas auch ein Grund, weshalb die Bundesregierung bei Waffenlieferungen zurückhaltender ist, als es der Ukraine und anderen internationalen Partnern recht ist?

Nein, das hat nichts miteinander zu tun.

Was macht Sie da so sicher? Sie haben ja selbst beschrieben, wie mächtig das Druckmittel Gas ist.

Ein schlichter Fakt: Wir geben der Ukraine gerade alles an Waffen, was wir können. Ich kann verstehen, dass das den Ukrainern nicht schnell genug geht. Aber ich kann Ihnen versprechen: Die Bundesregierung arbeitet daran, mehr und schneller zu liefern. Das gilt übrigens auch für viele unserer Partner.

Wirklich?

Natürlich. Es ist ein untragbarer Zustand, dass wir bei der Munition für die Geparden auf Brasilien und die Schweiz angewiesen sind. Oder dass wir doch nicht genügend Mehrfachraketenwerfer liefern können. Und es ist tief frustrierend, dass wir momentan einfach nicht genügend Material haben, um der Ukraine ausreichend zu helfen. Bei der Ausrüstung der Bundeswehr haben die Vorgängerregierungen einfach zu viel versäumt. Deswegen handeln wir jetzt und haben ein 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen aufgesetzt.

Die Lage im Donbass ist dramatisch und die Ukraine fordert dringend weitere Waffen. Wie lange will die Bundesregierung die offizielle Linie durchhalten, keine westlichen Waffensysteme zu liefern?

Die Panzerhaubitze ist doch ein westliches Waffensystem. Und die Ukraine braucht und bekommt sie von uns. An der Haubitze sieht man allerdings, was das bedeutet: Ukrainische Soldaten müssen erst nach Idar-Oberstein kommen, um daran ausgebildet zu werden. Deshalb sind sowjetische Systeme, die sie schon bedienen können, die schnellere Lösung. Damit sie die noch vorhandenen bekommen, haben wir die Ringtauschlösungen mit Partnerstaaten auf den Weg gebracht.

Die Ukraine sagt, sie braucht jetzt schnell Unterstützung, damit Russland im Donbass nicht weiter vorrücken kann. Wie kritisch ist die Lage aus Ihrer Sicht?

Russland beschießt dort gerade ganztägig und völlig wahllos Städte und Dörfer, also auch Wohnviertel. Da geht es nicht mehr ums Erobern, da geht es nur noch ums Zerstören. Das ist verheerend. Wir haben viele Kriegsverbrechen gesehen – das im Donbass ist der vorläufige Tiefpunkt. Und es sind leider nicht die letzten Grausamkeiten, die Putin begehen könnte.

Weil der Export aus den Kornkammern der Ukraine und Russlands weiter blockiert ist, stehen wir vor einer Hungerkrise. Was kann Deutschland tun?

Wir laufen auf eine humanitäre Katastrophe ungeahnten Ausmaßes zu. Nach Schätzungen werden dieses Jahr möglicherweise mehr Menschen an den Folgen des Krieges als im Krieg selbst sterben. Wir haben nicht nur fehlendes Getreide aus der Ukraine und Russland, sondern auch eine Explosion der Düngemittelpreise. Das ist ein Thema, das wir nur im internationalen Chor und mit Partnerstaaten angehen können und müssen – mit EU, G7 und G20.

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Aber es gibt doch einiges, das wir daheim tun könnten. Mehr Getreideflächen für Nahrungsproduktion nutzen und weniger für Tierfutter und Biokraftstoffe etwa. Muss Deutschland die Produktion von E10-Benzin herunterfahren, in das Biokraftstoffe gemischt werden?

Sie haben völlig recht, wir müssen sehr viel sorgsamer mit Lebensmitteln umgehen. Darauf weist auch der Landwirtschaftsminister zu Recht immer wieder hin. Deswegen will Umweltministerin Steffi Lemke den Einsatz von Biosprit aus angebauten Pflanzen nun begrenzen und arbeitet gemeinsam mit Cem Özdemir daran. Wenn wir zwischen Tank, Trog und Teller entscheiden müssen, sollte immer gelten: Teller.

Wenn über eine Friedensperspektive zwischen Russland und der Ukraine geredet wird, betonen manche, es müsse eine gesichtswahrende Lösung für Putin geben. Sehen Sie das auch so?

Es ist richtig, dass es beim Verhandeln leichter ist, gute Lösungen zu erzielen, wenn alle ihr Gesicht wahren können. Nur darf diese rhetorische Figur nicht zur Ausrede werden. Wir haben nicht die gleiche Distanz nach Kiew wie nach Moskau und unser erstes Ziel ist es, der Ukraine zu helfen. Der Kreml baut den Eisernen Vorhang mit Macht wieder auf. Die Ukrainerinnen und Ukrainer sind unsere demokratischen Partner.

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Aber wie kann ein Frieden dann realistischerweise gelingen?

Natürlich bleibt die Tür für echte Verhandlungen immer offen. Das betont Annalena Baerbock unermüdlich. Derzeit kann aber noch gar nicht ernsthaft verhandelt werden, weil Russland glaubt, den Krieg militärisch gewinnen zu können. Der Kreml hat kein Interesse an Verhandlungen. Das ist auch ein Grund, weshalb die Waffenlieferungen so wichtig sind: um ernsthafte Friedensverhandlungen zu ermöglichen.

Putin muss den Krieg verlieren, damit es Frieden geben kann?

Solange Russland glaubt, dieses Jahr noch die nächste Schlacht um Kiew schlagen zu können, wird es keine fairen Friedensverhandlungen für die Ukraine geben. Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben das Recht, über ihr eigenes Land zu verhandeln und zu entscheiden. Das unterstützen alle demokratischen Parteien in Deutschland ausdrücklich. Wir werden nicht anerkennen, dass Russland auch nur einen einzigen Quadratzentimeter ukrainischen Bodens annektiert.

Der Krieg führt auch dazu, dass die Inflation weiter steigt. Wie schnell braucht es weitere Entlastungen für die Bürger?

Es ist offensichtlich, dass die Preise noch weiter anziehen, das werden wir gerade bei den Heizkosten im Herbst und Winter erleben. Christian Lindner hat allerdings auch recht, wenn er sagt, dass der Staat nicht die gesamte Inflation auffangen können wird. Wir werden daher gezielt über neue Entlastungen sprechen müssen, gerade für die Menschen mit geringeren Einkommen, die von den steigenden Preisen am stärksten betroffen sind.

Was schwebt Ihnen konkret vor?

Wir haben bereits milliardenschwere Pakete verabschiedet, die jetzt erst anfangen zu greifen. Die steuerlichen Entlastungen wirken im kommenden Jahr. Auch die beiden verkehrspolitischen Maßnahmen sind gerade erst angelaufen. Diese Maßnahmen müssen wir bewerten, bevor die nächsten folgen.

Das 9-Euro-Ticket ist eine dieser Maßnahmen. Sind Sie zufrieden mit der Resonanz?

Die hohe Zahl an Ticketverkäufen und die positive Rückmeldung aus der Bevölkerung zeigt: Es gibt einen riesigen Bedarf an öffentlichem Nahverkehr. Wir müssen daher Bus und Bahn ausbauen, es braucht mehr Züge, neue Strecken. Und der ÖPNV muss günstiger werden. Wir werden am Ende der drei Monate sicherlich über interessante Zahlen des Bedarfs verfügen.

Wollen Sie das 9-Euro-Ticket über die drei Monate hinaus verlängern?

Selbstverständlich müssen wir den Nahverkehr dauerhaft günstiger machen. In meiner Heimat Hessen hat der grüne Verkehrsminister Tarek Al-Wazir ein 365-Euro-Jahresticket für Schülerinnen, Auszubildende und Senioren eingeführt, womit sie für einen Euro am Tag in ganz Hessen fahren können. Es mussten zwar erst mehrere Verkehrsverbünde zusammengebracht werden, aber jetzt ist das Ticket ein Riesenerfolg. Es gibt also Ideen und Lösungen auf Landesebene, die wir auch bundesweit diskutieren können.

Beim Tankrabatt geben die Mineralölkonzerne die Einsparungen nicht vollständig weiter. Wie groß ist der Korrekturbedarf?

Wir müssen kleinere Geldbeutel auch an der Zapfsäule entlasten. Dass sich das Kartellamt jetzt die möglichen Preisabsprachen anschaut, zeigt aber ja bereits, dass beim Tankrabatt nicht alles rund läuft. Umso entscheidender sind die jüngsten Vorschläge von Robert Habeck, mit denen das Kartellamt spürbar gestärkt werden soll.

Rentner gehen bei der 300 Euro-Energiepauschale bislang leer aus. Finden Sie das fair?

Wir haben als Koalition bislang Entlastungen von über 30 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Vieles davon hilft auch Menschen in Rente. Am ersten Juli wird es zudem eine Rentenerhöhung geben. Und wir werden uns mit Blick auf den Herbst noch einmal anschauen, welche Gruppen besondere Unterstützung benötigen.

Wie soll das finanziert werden, wenn Finanzminister Christian Lindner die Schuldenbremse für nicht verhandelbar erklärt und zugleich Steuererhöhungen ausschließt?

Wir sind uns in der Koalition einig, dass es gerade in der Krise wichtig ist, in den gesellschaftlichen Zusammenhalt und in die Modernisierung unseres Landes zu investieren. Gleichzeitig ist es offensichtlich, dass wir finanziell eine schwierige Gesamtlage haben. Zum einen die Inflation, zum anderen haben wir einen riesigen Investitionsstau. Wie wir das finanziell auflösen, darüber müssen wir gemeinsam beraten.

Das heißt, die Schuldenbremse muss ein weiteres Mal ausgesetzt werden?

Wir werden uns im Herbst zusammensetzen und entscheiden, wie wir das, was wir uns als Koalition vorgenommen haben, finanzieren können. Wir alle wollen ja die Digitalisierung auf den Weg bringen, die Wirtschaft zukunftsfest machen und den Klimaschutz stärken.

Das ist aber kein kleiner Widerspruch.

Ich bin optimistisch, dass wir den zusammen auflösen. Eine große Unbekannte ist nicht nur der weitere Verlauf des Kriegs, sondern auch der Pandemie. Die Corona-Hilfen waren notwendig, aber natürlich auch eine Belastung für den Haushalt.

Ist die Pandemie wirklich ausgestanden?

Leider nein, das sehen wir aktuell an der Sommerwelle. Alle Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass sich die Lage im Herbst weiter zuspitzen kann. Ich setze darauf, dass wir gemeinsam vorsorgen und weitere Lockdowns verhindern werden.

Angesichts des knappen Geldes treten die Konflikte in der Koalition immer offener zu Tage. Es gab öffentlichen Streit über die Corona-Politik, eine Übergewinnsteuer, die Schuldenbremse, das Bürgergeld, ein Tempolimit, den Tankrabatt, den Verbrennungsmotor und sogar über Atomenergie.

Das ist aber eine lange Liste …

Und es gäbe noch mehr Themen, wo es meist zwischen FDP einerseits und SPD und Grünen andererseits knatscht. So richtig rund läuft es nicht mehr, oder?

Wir haben gemeinsam milliardenschwere Entlastungspakete geschnürt und setzen um, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Dass es zwischendurch Debatten über den richtigen Weg gibt, gehört in einer Demokratie dazu. Am Ende wissen wir alle: Die Ampel wird daran gemessen, dass sie Lösungen für die Probleme der Menschen in Deutschland findet. Vor diesem Hintergrund bin ich bei der Standfestigkeit dieser Koalition tiefenentspannt.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Omid Nouripour in Berlin
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