Containerdörfer und Traglufthallen Warum viele Flüchtlingsunterkünfte auf einmal wieder voll sind
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Containerdörfer, Traglufthallen, Appelle an Privatvermieter: Die Flüchtlingszahlen steigen und schon jetzt kommen einige Orte an ihre Kapazitätsgrenzen. Warum das so ist.
Berlin sperrt ein Containerdorf wieder auf. Der Landkreis Lörrach will schnell eine Unterkunft hochziehen, weil sich die Ankunftszahlen in kurzer Zeit verdreifacht haben. Und der hessische Rheingau-Taunus-Kreis appelliert an die Bevölkerung, Wohnraum zur Verfügung zu stellen.
Auf einmal ist wieder Kreativität gefragt: In einigen Landkreisen und Städten sind die Flüchtlingsunterkünfte derzeit so voll, dass die Verantwortlichen sich auf die Suche nach neuen Lösungen machen müssen. Noch ist es kein bundesweites Problem, aber auch andere Regionen berichten von Schwierigkeiten, wie der Kreis Konstanz in Baden-Württemberg.
Denn im vergangenen Jahr hat sich eine Trendumkehr eingestellt. Von 2016 bis 2020 sind die Zahlen der neuen Asylanträge jährlich gesunken, vor allem im ersten Pandemiejahr mit geschlossenen Grenzen waren sie besonders niedrig. 2021 aber zogen sie vor allem in der zweiten Jahreshälfte wieder kräftig an, lagen über dem Niveau von 2019. Das hat verschiedene Gründe, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU liegen.
Gründe liegen in und außerhalb der EU
Einen großen Teil des Anstiegs machen Schutzsuchende aus Afghanistan aus. Schon bevor die Taliban im August die Macht in Kabul übernahmen, war die Lage äußerst instabil – und brachte Menschen auf die Flucht. Die Asylanträge von Afghanen stiegen im Vergleich zum Vorjahr um 35 Prozent. Dazu kam die Krise an der EU-Außengrenze von Polen und Litauen. Der Machthaber des Nachbarlands Belarus, Alexander Lukaschenko, hatte Migranten und Geflüchtete einfliegen und an die Grenze bringen lassen. Nach Zahlen der Bundespolizei gehen die Ankunftszahlen über diesen Weg allerdings zurück.
Ein weiterer Grund ist die Sekundärmigration aus Griechenland, heißt: Menschen, die schon in dem Land Schutz erhalten haben, stellen in Deutschland einen zweiten Asylantrag. Der Bundespolizei zufolge ist die Einreise per Flugzeug aus Griechenland eine der am meisten genutzten Fluchtrouten nach Deutschland – neben dem Weg über den Balkan und Österreich.
Nach EU-Recht sollte das eigentlich nicht möglich sein: Denn laut der sogenannten Dublin-Regeln muss ein Schutzsuchender in dem Staat Asyl beantragen, in dem er zuerst registriert wird – Ausnahmen gibt es etwa bei Familien.
Realität vs. EU-Gesetz
Doch die Realität macht die Umsetzung kompliziert. Im Falle von Griechenland etwa haben deutsche Gerichte in früheren Fällen oft Rückführungen untersagt: Die Zustände dort seien zu schlecht, den Menschen drohe Obdachlosigkeit und Armut. Der Grund: Wessen Asylgesuch in Griechenland anerkannt wird, muss die Unterkunft verlassen und hat auch kein Anrecht auf Sozialhilfe. Gerade für Menschen mit kleinen Kindern, psychischen Problemen oder Behinderungen wird das schnell zum Problem, hinzu kommt der angespannte griechische Arbeitsmarkt.
Wer anerkannt ist, hat auch das Recht, sich für drei Monate in einem anderen EU-Mitgliedsland aufzuhalten. Das nutzen viele, um Griechenland zu verlassen – und woanders noch mal Asyl zu beantragen. Im vergangenen Juni beklagten sich der damalige Innenminister Horst Seehofer (CSU) gemeinsam mit fünf Amtskollegen aus Frankreich, Belgien, Luxemburg, den Niederlanden und der Schweiz deswegen bei der EU und der griechischen Regierung – allerdings ohne Erfolg:
Registrierten die deutschen Behörden damals 17.000 solcher Fälle, geht das Bundesamt für Migration (Bamf) mittlerweile von mehr als 41.000 aus, in denen es Hinweise gibt, dass die Antragsteller schon zuvor in Griechenland Schutz beantragt haben könnten. Das Innenministerium teilte t-online dazu mit, dass es auch ein "explizites Ziel" der neuen Bundesregierung sei, die Sekundärmigration zu reduzieren – und verweist auf die EU-Kommission, die als "Hüterin der Verträge" für die Einhaltung sorgen müsse.
Angespannter Wohnungsmarkt ein großes Problem
Derzeit gibt es wenig Anlass für die Annahme, dass sich der Trend bald wieder umgekehrt. Die Ankünfte über die Route von Polen über Belarus nach Deutschland scheinen zwar abzuebben. Dafür werden andere Wege wieder stärker genutzt. Im Januar 2022 etwa lag die Zahl derjenigen, die über das Mittelmeer nach Europa flüchteten, weit über den Zahlen von Januar 2021. Von einem Niveau wie 2016 aber sind die aktuellen Entwicklungen weit entfernt.
Wieso aber gibt es nun schon Probleme bei den Unterkünften? Laut Christoph Zehler, Sprecher des Rheingau-Taunus-Kreises, ist der angespannte Immobilienmarkt ein Grund. Der Landkreis liegt in direkter Nachbarschaft, also im "Speckgürtel" zu den Metropolen Frankfurt am Main, Wiesbaden und Mainz. "Freie Liegenschaften sind hier mehr als rar, die Miet- und Kaufpreis sehr hoch", sagt Zehler t-online. Schon 2015 und 2016 habe der Landkreis deswegen die Bevölkerung aufgerufen, sich mit Vermietungsangeboten zu melden. In den Zwischenjahren aber seien angemietete Unterkünfte auch wieder aufgegeben worden, um Kosten einzusparen, so Zehler. Nun sei man wieder auf der Suche.
Zweites Problem: Fehlbeleger
Ein weiteres Problem, vor allem in Großstädten, sind "Fehlbelegungen", wie es im Beamtendeutsch heißt: Asylberechtigte, die wegen des Mangels an günstigem Wohnraum in den Unterkünften wohnen bleiben, obwohl sie längst anerkannt sind. Dadurch bleiben Betten teils jahrelang belegt und fehlen somit für Neuankömmlinge. Auch für die "Fehlbeleger" ist das oft kein guter Deal: Arbeiten sie, werden sie zur Kasse gebeten – und zahlen teils horrende Gebühren. Gerade Familien müssen deswegen das Gehalt durch staatliche Leistungen aufstocken.
Liza Pflaum vom Bündnis Seebrücke rechnet damit, dass sich die Lage eher weiter zuspitzen wird. Sie fordert deswegen vom Bund, die Städte finanziell mehr zu unterstützen. In den vergangenen Jahren seien viele Unterkünfte abgebaut worden, anstatt diese zu behalten. Engpässe sieht sie vor allem in Städten, wo auch die Wohnungsfrage ein großes Problem ist. Das Bundesfinanzamt verwahrt sich vor dieser Kritik: Der Bund beteilige sich seit der Ausnahmesituation 2016 und 2016 bis heute in erheblichem Umfang an den Kosten für Länder und Kommunen – und werde dies auch künftig tun. Der Bund verweist zudem darauf, dass die Länder Finanzhilfen für den sozialen Wohnungsbau beantragen kann.
Schnelle und pragmatische Lösungen gefragt
Laut Pflaum haben die mehr als 100 Städte, die sich unter dem Schirm der Seebrücke als "Sichere Häfen" – also Orte, die mehr Geflüchtete aufnehmen wollen – zusammengeschlossen haben, weiterhin Kapazitäten frei. Sie verweist auch darauf, dass die Städte durchaus in der Lage seien, schnelle und pragmatische Lösungen zu finden.
So auch im Rheingau-Taunus-Kreis. Mit ihrem Aufruf hatten sie Erfolg – zumindest vorerst. Das Landratsamt sei mit einem Hotelbesitzer im Gespräch, der kurzfristig Zimmer an Asylbewerber vermieten würde. Einige Privatvermieter hätten zudem Häuser angeboten, die sich die Verantwortlichen anschauen wollen. Kurzfristig entspanne das die Lage, sagt Landkreis-Sprecher Christoph Zehler. Falls die Zahlen aber weiter auf dem derzeitigen hohen Niveau bleiben, müssten weitere Lösungen gefunden werden.
Anmerkung: In einer vorherigen Version war auch der Landkreis Erding als Beispiel genannt. Das wurde korrigiert.
- Telefonat mit Dr. Christoph Zehler, Leiter der Pressestelle im Landkreis Rheingau-Taunus
- Anfrage an die Bundespolizei
- Telefonat mit Liza Pflaum, Seebrücke
- Rheingau-Taunus-Kreis: Wohnraum für Geflüchtete
- Landkreis Lörrach: Wiederaufbau der Flüchtlingsunterbringung in Weil am Rhein-Haltingen am früheren Standort geplant
- Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, Berlin: Bilanz und Ausblick zum Jahresauftakt
- HAZ: Stadt Hannover sucht weiter nach neuen Flüchtlingsunterkünften
- Südkurier: Weiter mehr Flüchtlinge: Kreis plant Aufstellung einer Leichtbauhalle
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa