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Zum journalistischen Leitbild von t-online.CDU-Politiker Philipp Amthor "Ich teile Dobrindts Kritik an der 'Anti-Abschiebe-Industrie'"
Die Union müsse auf die Empfindungen der Menschen reagieren, sagt der Abgeordnete Philipp Amthor. Selbst wenn die der Statistik widersprechen. Provokation als Mittel verteidigt er.
Atomausstieg, Abschaffung der Wehrpflicht, Mindestlohn – und dann noch die Entscheidung, Hunderttausende Flüchtlinge aufzunehmen: Kritiker werfen Angela Merkel vor, die Union entkernt zu haben. Sie fordern: Die Union müsse wieder konservativer werden.
Aber was heißt das eigentlich? Wie muss die Union ihre Politik ändern? Warum ist sie so hart zu Flüchtlingen? Solche Fragen diskutiert t-online.de immer wieder mit konservativen Spitzenpolitikern.
Im ersten Teil erzählte der ehemalige bayerische Innenminister und Ministerpräsident Günther Beckstein, wie er zum Islam steht. Im zweiten Teil forderte Mike Mohring, starker Mann der Thüringer CDU, die Union brauche gleichzeitig liberale und erzkonservative Köpfe.
Philipp Amthor, CDU, ist 25 Jahre alt und der zweitjüngste Abgeordnete im Bundestag. Eine Rede, in der er einen Vorstoß der AfD für ein Burkaverbot abkanzelte, machte ihn schlagartig bekannt. Dabei fordert er selbst ein Burkaverbot – aber anders begründet.
Im Gespräch mit t-online.de verteidigt er die scharfen Angriffe von Alexander Dobrindt (CSU) auf Flüchtlingshelfer, die der "Anti-Abschiebe-Industrie" und "Abschiebesaboteure" nennt.
Herr Amthor, ich fühle mich wie ein Hase.
Aha.
Ja, wie der Hase aus der Fabel vom Hasen und dem Igel. Und das liegt an Alexander Dobrindt. Ich wollte mit Ihnen eigentlich ein grundsätzliches Gespräch über Konservatismus führen, aber schon wieder war der Igel Dobrindt schneller – und jetzt müssen wir doch über dessen Aussagen sprechen.
Das können wir gern machen.
Er ist ja einer der schrillsten Vertreter des neo-konservativen Flügels der Union. Gehen wir also seine Aussagen Schritt für Schritt durch: Er hat gesagt, „2015 wurden unsere Grenzen überrannt“. Teilen Sie das?
Ich würde nicht von Kontrollverlust oder von Staatsversagen sprechen. Das sind Kampfbegriffe. Unser Staat ist nicht handlungsunfähig. Aber klar ist auch: 2015 war kein Normalfall. Das reparieren wir gerade.
Das war aber kaum ein „Überrennen“, oder?
Das Bild ist scharf. Aber scharfe Bilder sind ein legitimes Mittel in der politischen Auseinandersetzung.
Konservative schätzen Maß, Mitte und Zurückhaltung: Warum dann nicht Maß, Mitte und Zurückhaltung in der Sprache?
Ich sage immer: Konservativ zu sein, ist eine Haltung. Dazu gehört auch Zurückhaltung. Aber Rechtsstaatlichkeit ist einer der zentralen Werte, die unsere Leitkultur ausmachen, und deswegen werde ich da gern kämpferisch.
Weiter sagte Dobrindt, „jetzt versuchen Abschiebesaboteure das Gleiche mit unseren Gerichten“, also: sie zu überrennen. Teilen Sie das?
Ich teile die Kritik von Alexander Dobrindt an der „Anti-Abschiebe-Industrie“, wohl wissend, dass das ein provozierender Begriff ist. Er trifft einen richtigen Punkt: Wir können es nicht hinnehmen, dass Organisationen wie die Flüchtlingsräte dazu aufrufen, unseren Rechtsstaat zu unterlaufen und beispielsweise vor Abschiebungen unterzutauchen.
Was wäre Ihr Vorschlag, um darauf zu reagieren?
Das Problem ist nicht die Beratung von Flüchtlingen im Hinblick auf legitime Rechtsschutzinstrumente. Aber wenn man versucht, sich einer rechtsstaatlich zustande gekommenen Entscheidung zu entziehen, dann bin ich dafür, öffentliche Förderung zu streichen. In Grenzfällen ist vielleicht sogar das Strafrecht das richtige Mittel.
Was genau konstituiert da einen Straftatbestand? Sie sind Jurist, machen Sie es präzise.
Im Aufenthalts- und Asylgesetz gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, Zuwiderhandeln gegen Behördenentscheidungen zu bestrafen. Es sind mehrere Konstellationen denkbar, in denen dubiose Flüchtlingshelfer zu solchen Handlungen anstiften oder sogar Beihilfe leisten. Man sollte aber nicht das Kind mit dem Bade ausschütten: Reine Rechtsberatung will niemand verhindern.
Sie haben sich geschickt als Dobrindt-Exeget betätigt. Vielleicht sollte er Sie als Pressesprecher engagieren.
Das kann er ganz gut alleine.
Sie sprechen über Flüchtlinge, deren Abschiebung rechtskräftig ist. Er sprach über Menschen, die noch nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft haben – sonst würden sich die Verwaltungsgerichte ja nicht damit befassen. Das sind doch Rechtsmittel, die jedem zustehen – oder nicht?
Ja, Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes garantiert effektiven Rechtsschutz, aber nicht notwendigerweise über mehrere Instanzen. Der Gesetzgeber hat also einige Möglichkeiten, den Rechtsschutz zu begrenzen.
Aber im Kern muss er bestehen bleiben?
Ja, aber ich habe Alexander Dobrindt auch nicht so verstanden, dass er die grundgesetzliche Garantie des effektiven Rechtsschutzes in Frage stellt.
Ich habe ihn ehrlicherweise genau so verstanden und ich sehe auch keine andere Lesart.
Der Rechtsstaat lebt davon, dass er auch in unbequemen Fällen Anwendung findet. Das sieht sicher auch Alexander Dobrindt so. Gleichzeitig muss man manchmal überspitzte Bilder wählen, um Problemlagen deutlich zu machen. Die Stoßrichtung ist richtig: Wir müssen unsere Verwaltungsgerichte entlasten. Wir müssen Asylverfahren vereinfachen. Und wir müssen sicherstellen, dass der Rechtsschutz auf diejenigen fokussiert bleibt, die ihn ernsthaft in Anspruch nehmen.
Muss die Antwort in einem Rechtsstaat nicht heißen: Alle, die ihn in Anspruch nehmen dürfen, nehmen ihn ernsthaft in Anspruch?
Die Garantie des effektiven Rechtsschutzes gilt auch für jeden Bußgeldbescheid. Natürlich könnte jeder gegen jeden einzelnen Bußgeldbescheid klagen. Dann wären die Gerichte aber schnell überlastet. Im Übrigen ist auch schon das transparente und rechtsstaatliche Verfahren der Ausländerbehörde eine individuelle Rechtsprüfung.
Aber nicht durch ein Gericht. Das ist nicht dasselbe.
Ja, das Grundgesetz garantiert Rechtsschutz durch einen Richter. Es ist aber auch legitim, ernsthaften Bemühen einen Vorrang gegenüber offensichtlich unbegründeten Anliegen einzuräumen. Gerade bei Klagen gegen Abschiebungen geht es oft nur darum, Zeit zu gewinnen. Auch wenn sie von vornherein unbegründet sind: Je länger jemand in Deutschland bleibt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er abgeschoben wird.
Woher nehmen Sie eigentlich die Gewissheit, dass die Verfahren unbegründet seien? Auch wenn nur ein eher kleiner Teil der Klagen Erfolg hat, es sind immer noch Tausende Fälle.
Es gibt aber Fallgruppen, da weiß ein Verwaltungsrichter – und wahrscheinlich auch jeder vernünftige Anwalt schon vor Klageerhebung – beim ersten Blick auf die Akte, ob das Verfahren eine Chance hat. Gerade solche Standardfälle müssen schnell erledigt werden. Davon lebt ja auch das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten.
Das funktioniert aber nur, weil die Menschen im Zweifel hinterher das individuelle Prüfungsrecht haben.
Das stellt auch niemand in Frage. Das individuelle Prüfungsrecht ist geltendes Recht. Trotzdem kann man fragen, inwieweit der momentane Zustand richtig ist.
Nochmal: Sie sind aber dafür, dass alle Flüchtlinge das Recht behalten, gegen einen Abschiebebescheid zu klagen?
Wie gesagt: Das sieht das Grundgesetz vor. Die Kernfrage ist allerdings, wie lange das Verfahren dauert.
Dann gehen wir über zum zentralen Begriff des bisherigen Gesprächs: dem Rechtsstaat. Sie promovieren in Verfassungsrecht: Was macht den Rechtsstaat aus?
Es gibt eine Habilitation, die aufgelistet hat, welche Merkmale dem deutschen Rechtsstaat zugeschrieben werden – weit über 100. Aber man kann ihn auf das Wesentliche fokussieren: Ein Rechtsstaat setzt verfassungskonforme Regeln, hält sich an diese Regeln und übt sie gegenüber den Bürgern maßvoll aus. Die Herrschaft des Rechts ist das übergeordnete Prinzip, gerade im Verhältnis zum Mehrheitswillen.
Im Kern also: Die Bindung staatlicher Gewalt an das Recht. Das heißt auch, der Rechtsstaat adressiert vor allem staatliche Organe, nicht den Bürger.
Ich möchte den Vergleich zum „Böckenförde-Diktum“ ziehen, das beschreibt, dass der freiheitlich-säkulare Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann. Das gilt ähnlich auch für den Rechtsstaat: Selbst der in der Theorie beste Rechtsstaat ist wertlos, wenn sich die Bürger nicht mit ihm identifizieren. Dafür ist es essentiell, dass geltendes Recht konsequent durchgesetzt wird.
Sie haben mal gesagt, es gebe „ein gesellschaftliches Bedürfnis für den härteren Vollzug des Rechtsstaats“. Mein Verdacht ist: Die Union kapert den Rechtsstaatsbegriff und setzt ihn in eines mit Law-and-Order, mit mehr Polizei, mit bedingungsloser Durchsetzung staatlicher Gewalt.
Die neue Polizeiliche Kriminalstatistik zeigt: Wir sind so sicher wie seit 20 Jahren nicht mehr. Gleichzeitig gibt es aber Umfragen, die zeigen, dass das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung stetig zurückgegangen ist, genauso wie das Gefühl, dass der Rechtsstaat stark genug durchgesetzt wird. Das Konzept des starken Staates ist also auch wesentlich für den Rechtsstaat.
Wäre es nicht Aufgabe eines Konservativen, auf die Wirklichkeit zu bestehen? Und nicht den existierenden Rechtsvollzug kleinzureden?
Politik fängt mit dem Betrachten der Wirklichkeit an und dazu gehören auch die Wahrnehmungen der Menschen. Wenn bei einem Landwirt nahe der polnischen Grenze zum dritten Mal eingebrochen wird, dann kann ich ihm nicht erklären: „Statistisch bist Du aber sicher.“
Gerade weil Wahrnehmungen real sind, ist es vielleicht kontraproduktiv, ständig zu betonen, der Rechtsstaat werde sabotiert? Sätze, die man nur von extrem rechts oder Konservativen hört, übrigens.
Es wäre noch schlimmer, wenn wir die Bedenken wegwischen. Sie müssen für uns Handlungen zur Folge haben. Wir reden den Rechtsstaat nicht schlecht. Dass man Dinge verbessern kann, heißt nicht, dass es aktuell schlecht ist.
Zu Alexander Dobrindts Aussagen hört man zwar Kritik aus der CSU – aber nur im Vertrauen. Öffentlich: kein Wort. Sind Konservative Duckmäuser?
Ich schätze Alexander Dobrindt sehr. Er überspitzt manchmal, aber das gehört auch zur Politik. Wir sind eine pluralistische Partei, in der es verschiedene Standpunkte gibt …
… die man aber in der Union versteckt?
Es ist konservativ, Streit in den eigenen vier Wänden auszutragen. Es ist nicht konservativ, andere Kollegen über die Zeitung zu belehren.
Es gibt überzeugte Grüne, die gern in den Urlaub fliegen wollen, das aber für ökologisch falsch halten. Oder Linke, die für offene Grenzen sind, aber nicht wissen, wie das funktionieren kann. Sie sind überzeugter Konservativer: Was macht Ihnen manchmal zu schaffen?
Ich leide nicht an meiner politischen Haltung.
Auch nicht an Kleinigkeiten. Etwa so: Sie würden lieber keine Krawatte tragen, aber fürchten, dass das von Ihnen erwartet wird?
Zu Hause auf der Couch trage ich keine Krawatte. Ich finde aber schon, dass eine Krawatte bei offiziellen Anlässen dem Amt angemessen ist. Aber ich mache mich auch locker: Ich habe immerhin für dieses Gespräch mein Jackett abgelegt.
Wenn Ihnen keine einfallen, frage ich mal nach Widersprüchen, mit denen ich ringe. Der Konservatismus will den Menschen nicht verändern, sondern ihn nehmen wir er ist. Würden Sie dem zustimmen?
Ja, absolut.
Wie passt das zusammen mit sehr konkreten Forderungen nach einer Leitkultur? „Wir geben uns zur Begrüßung die Hand“, schrieb Thomas de Maiziere. Man trägt keine Burka, fordern Sie.
So funktionieren Gemeinschaften. Sie leben davon, dass sie etwas Gemeinsames haben. Das kann nicht nur der Wohnort sein. Es hat ja Gründe, dass es in Anatolien anders aussieht als in Vorpommern.
In Ordnung, aber warum dann nicht sagen: Ja, wir wollen die Menschen ändern? Das ist doch nicht ehrenrührig.
Ich erwarte, dass alle nach denselben Grundregeln spielen. Leitkultur ist dabei nicht etwas, was die Menschen ändert, sondern etwas, das sie vor dem Hintergrund der gemeinsamen Grundregeln auch mitgestalten können. Leitkultur ist nicht in Stein gemeißelt. Wenn jemand jedoch in einer Parallelgesellschaft leben möchte, hat er sich das falsche Land ausgesucht.
Noch ein Widerspruch, den ich nicht verstehe: Das christliche Menschenbild ist eine feste Annahme darüber, wie die Welt ist, wie der Mensch ist, was gut und ihm gemäß ist, wie die Gesellschaft sein sollte. Und diese Annahme ist nicht empirisch begründet. Man könnte sagen: Eine Form von Ideologie. Gleichzeitig behaupten Konservative gern, keine Ideologie zu vertreten. Warum machen Sie sich da nicht ehrlich?
Worauf zielt Ihre Frage ab?
Ich wüsste einfach gern, woher das Beharren kommt. Auch hier: Eine Ideologie zu vertreten ist nicht ehrenrührig.
Es ist ein Unterschied, ob ich eine Gesellschaft nach einer abstrakten Vorstellung umgestalten will oder ob ich sie nehme, wie sie kulturhistorisch gewachsen ist. Ich will niemanden umerziehen, sondern schlicht unsere deutsche Leitkultur bewahren. Wir leben in einer Kulturnation, die vom christlichen Menschenbild sowie von Aufklärung und Humanismus geprägt ist.