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Zum journalistischen Leitbild von t-online.SPD-Machtkampf um Kanzlerkandidatur So langsam deutet sich eine Entscheidung an
In der SPD tobt ein Machtkampf um die Kanzlerkandidatur. Nach einer tagelangen Wackelpartie kündigt sich nun eine Entscheidung an. Sie könnte die nächsten Tage fallen.
Die Chaostage in der SPD, sie könnten bald vorüber sein: Seit über einer Woche tobt ein offener Machtkampf um die Frage, wer Kanzlerkandidat der Partei werden soll: der bei den Deutschen unbeliebte Kanzler Olaf Scholz oder Umfragekönig und Verteidigungsminister Boris Pistorius?
Während es die letzten Tage so aussah, als könnte sich Boris Pistorius in der K-Frage durchsetzen, mehren sich nun die Stimmen in der SPD, die Kanzler Scholz vorn sehen. Die deutlichste Spur legte am Mittwoch Parteichef Lars Klingbeil in einem Podcast mit "Bild"-Vize Paul Ronzheimer. Mit Blick auf den anstehenden Wahlkampf zur Neuwahl am 23. Februar sagte Klingbeil: "Es wird die Auseinandersetzung zwischen Scholz und Merz an dieser Stelle sein."
"Zeitnahe Entscheidung"
Ein weiterer Hinweis, der für eine Entscheidung pro Scholz spricht: Die Pistorius-Befürworter sind in den vergangenen 24 Stunden auffällig leise gewesen. Seit Dienstagabend, als die SPD-Spitze sich zu einer Schalte verabredete und dabei auch über die schwelende K-Frage sprach, herrscht zumindest öffentlich Stille. Wurde die Revolte befriedet?
Klar ist: Bisher ist nichts entschieden. Aber, das könnte sich heute oder in den nächsten Tagen ändern. Klingbeil kündigte am Mittwoch eine "zeitnahe Entscheidung" an. Heißt: Sie kann ab jetzt jederzeit fallen. Spätestens am Montag könnte der SPD-Vorstand bei seiner Sitzung den Kanzlerkandidaten per Beschluss formal krönen.
Für einen Moment sah es gut aus für Pistorius
Noch Anfang der Woche hatten selbst einflussreiche Sozialdemokraten vermutet, das Pendel könnte in Richtung Pistorius ausschlagen. Zahllose Vertreter der Parteibasis, mächtige Abgeordnete und wichtige Landesverbände wie NRW sprachen sich mal mehr, mal weniger offen für den Verteidigungsminister als Kanzlerkandidaten aus. Die Pistorius-Welle in der SPD war in vollem Gange.
Auch Pistorius selbst nährte Spekulationen über einen Kandidatenwechsel, indem er am Montag erklärte, in der Politik sollte man "nie etwas ausschließen".
Nur: Die entscheidenden Akteure hielten Scholz öffentlich weiter die Treue. Die Partei- und Fraktionsführung der SPD erklärte mehrheitlich ihre Solidarität mit dem Kanzler, während der vom G20-Gipfel in Brasilien aus der heimischen Revolte zuschaute. Auch bekannte sich kein SPD-Ministerpräsident offen zu Pistorius. Nur vereinzelt gab es vielsagende Äußerungen, wie etwa von Alexander Schweitzer aus Rheinland-Pfalz, die eine Hintertür offenhielten.
Unmut über die SPD-Führung
Dass die Partei-Spitze die Debatte überhaupt zuließ, stößt vielen Genossen auf. So sagte SPD-Urgestein Matthias Machnig t-online: "Die SPD kreist um sich selbst. Damit beschädigt sie sich selbst und auch den künftigen Kanzlerkandidaten." Die Parteiführung hätte die Debatte gar nicht erst aufkommen lassen dürfen.
Tatsächlich haben die Parteioberen spät reagiert: Monatelang wussten die Vorsitzenden Klingbeil und Saskia Esken, dass es in der SPD große Sympathien für Pistorius gibt. Bei jeder Wahlniederlage der letzten Monate wurde das Grummeln in der Partei über den ungeliebten Scholz lauter – es war eine Revolte mit Ansage. Ein Grund für das Warten mag auch darin liegen, dass es in der SPD-Spitze durchaus Zweifel über den Kandidaten Scholz gibt.
SPD-Chef Klingbeil will sich jedoch nicht hetzen lassen und verweist auf parteiinterne Absprachen. Doch ob ein Zeitplan wichtiger ist als ein möglichst unbeschadeter Kanzlerkandidat? Bleibt fraglich. Denn auch wenn Scholz letztlich zum Kandidaten gekürt werden sollte, wird er die parteiinternen Zweifel wohl bis zum Wahltag nicht mehr loswerden.
CDU-Herausforderer Friedrich Merz kann das ausnutzen: Er kann Scholz bis zum Wahltag die Zitate aus der SPD vorlesen, die dessen angekratzte Autorität innerhalb der eigenen Partei belegen. Nach dem Motto: Warum sollen die Bürger einen (erneut) zum Kanzler machen, der nicht mal den Rückhalt seiner eigenen Partei hat?
Das Dilemma der Genossen
Noch ist offiziell nichts entschieden. Der Machtpoker um die K-Frage geht hinter den Kulissen weiter, bis die Parteispitze ihre Entscheidung bekannt gibt. Von außen betrachtet wirkt es fast logisch, Pistorius zu nominieren. Die Umfragen sprechen eine klare Sprache: Der Verteidigungsminister ist seit fast zwei Jahren der beliebteste Politiker Deutschlands. Nicht nur wünschen sich zwei Drittel der Bundesbürger Pistorius als SPD-Kanzlerkandidaten, sondern auch 67 Prozent der SPD-Anhänger.
Auch das Meinungsbild in der Partei wird ähnlich beschrieben. Ein ranghoher Genosse sagt t-online: "Die Stimmung in der Partei liegt etwa bei 70:30 für Pistorius." Ohne Hamburg, Scholz' Heimatstadt, seien es sogar 80:20.
Doch am Ende könnte all das nicht reichen. Die SPD-Spitze muss eine Vielzahl an Faktoren berücksichtigen: Ein plötzliches Umschwenken auf einen anderen Kandidaten birgt Risiken. Wie sattelfest ist Pistorius bei Wirtschafts- und Sozialthemen? Würde die SPD bei einem Wechsel nicht drei Jahre Regierungsarbeit komplett infrage stellen? Wie könnte sich Pistorius vom amtierenden Kanzler absetzen?
Die SPD-Strategen dürften dieser Tage zudem an den fulminant entgleisten "Schulz-Zug" denken: Der frühere Parteichef Martin Schulz startete Anfang 2017 mit blendenden Werten, stürzte aber nach einer Reihe vergeigter Landtagswahlen in ein Umfrageloch und endete Monate später mit dem schlechtesten Ergebnis der SPD bei einer Bundestagswahl.
Jede Entscheidung birgt Risiken
Auch baut Klingbeil bereits strategisch für die nächsten Jahre vor. Ein politisches Schwergewicht wie Pistorius zum Kanzlerkandidaten aufzubauen, der auch bei einem akzeptablen Wahlergebnis der neue starke Mann der SPD werden würde, könnte Klingbeils eigene Pläne durchkreuzen. Verlöre die SPD mit Scholz, liefe dagegen alles auf den SPD-Chef hinaus.
Andererseits ist auch ein Festhalten an Scholz riskant: Sollte die SPD Scholz ins nächste Wahldesaster stürzen, könnte das vor allem Klingbeil angelastet werden. Zugleich ist noch völlig unklar, wie die SPD den Bürgern einen gescheiterten und historisch unbeliebten Kanzler als bessere Alternative verkaufen will. Nur auf die vermeintlichen oder tatsächlichen Schwächen von Friedrich Merz hinzuweisen, wird vermutlich nicht reichen.
- Eigene Beobachtungen
- bild.de: SPD-Chef Klingbeil: "Jetzt schnell den Schalter umlegen!"