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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Anne Will"-Finale Habeck: "Wir sind umzingelt von Wirklichkeit"
In der letzten "Anne Will"-Ausgabe ging es mit dem Vizekanzler um das große Ganze der Weltpolitik – und am Ende auch noch kurz ums Haushaltsloch.
Auf der Gästeliste: nur ein Politiker, der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck, flankiert von drei Wissenschaftlern. Auf der Gesprächsagenda: das weit gefasste Thema "Die Welt in Unordnung – Ist Deutschland den Herausforderungen gewachsen?"
Schon die Konzeption der letzten "Anne Will"-Ausgabe nach 16 Jahren war ein Statement und vermittelte den Wunsch nach einer ausgeruhten Gesamtbetrachtung. "Wir kehren noch mal zusammen", benannte die Moderatorin selbst das Motto für ihre Abschiedsrunde, bei der sie mit dem Schriftsteller Navid Kermani und dem Historiker Raphael Gross sogar zwei Diskutanten begrüßte, die nach Angabe Kermanis zum ersten Mal da waren – "als Respektsbekundung".
Die Gäste
Robert Habeck (Grüne), Wirtschaftsminister und Vizekanzler
Navid Kermani, Schriftsteller und Orientalist
Raphael Gross, Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum
Florence Gaub, Politikwissenschaftlerin
Vom Ukraine-Krieg zum Nahostkonflikt
Tatsächlich musste Anne Will sich diesmal nicht wie vor zwei Wochen aus dem Sitz erheben, um die Kontrolle über das Geschehen wiederzugewinnen – in vielen Punkten herrschte Einigkeit. Der Orientalist Navid Kermani formulierte seine Sorge, dass mit zunehmender Dauer des Krieges in der Ukraine deren Rückhalt in den westlichen Unterstützer-Ländern schwinde.
Er verwies zudem auf die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA, durch die sich im nächsten Jahr die Verhältnisse "fundamental ändern" könnten. Historiker Raphael Gross leitete aus der deutschen Geschichte die Verantwortung ab, "sich mehr als nur ökonomisch zu engagieren".
Robert Habeck pflichtete der Analyse bei und gab die Parole aus, Deutschland müsse bereit sein, "die Ukraine weiter und stärker zu unterstützen". Das von Russland angegriffene Land hängenzulassen wäre "ehrlos", so der Vizekanzler.
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Es gehe dabei nicht nur um Waffenlieferungen, ergänzte Florence Gaub vom Nato Defense College in Rom – sondern auch um Training der ukrainischen Soldaten. Dessen Früchte würden sich erst im nächsten Jahr zeigen, versuchte sie Hoffnung zu machen.
Habeck: "Wir sind umzingelt von Wirklichkeit"
Als Kermani mangelnde europäische Einigkeit und den stotternden deutsch-französischen Motor beklagte, spielte Anne Will den Ball zu Robert Habeck weiter: "Fehlt der Bundesregierung eine Vision zu Europa?" Der Vizekanzler verwies zunächst auf die Schwierigkeiten von Reformen in der EU angesichts "dominierender Nationalismen" und fasste die Probleme dann in einem fast philosophisch anmutenden Satz zusammen: "Wir sind umzingelt von Wirklichkeit."
Habeck äußerte aber auch, dass sich die EU in puncto Energiesolidarität "im konkreten Handeln" bewährt habe. Florence Gaub fand, dass das Modell Europa weiterhin "sehr attraktiv" sei, wie man an der wachsenden Zahl von Beitrittskandidaten sehen könne.
Nach einer halben Stunde leitete die Moderatorin zum Nahostkonflikt über. Der jüngsten Kritik des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, Israel müsse nun seine Ziele und den angestrebten Endzustand genauer definieren, mochte sich Robert Habeck nicht vollumfänglich anschließen. "Dass Israel im Gazastreifen humanitäre Belange und kriegsrechtliche Vorgaben einhalten muss, ist völlig unstrittig", so der Grünen-Politiker. Falls Macron aber habe sagen wollen, dass Israel die Bombardements der Hamas hinnehmen müsse, dann teile er das nicht.
Kermani: "Es muss an ein Danach gedacht werden"
"Es muss an ein Danach gedacht werden", mahnte Navid Kermani. "Wir, die wir außen sind, haben doch die Möglichkeit, den Schmerz beider Seiten zu sehen", so der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels. Er rief die arabischen Staaten auf, sich an der Suche nach einer Friedenslösung zu beteiligen.
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Immerhin seien bestimmte Dinge auch nicht passiert, ergänzte Habeck. So sei keineswegs die gesamte arabisch-muslimische Welt gegen Israel aufgestanden. Florence Gaub sah in einer Zweistaatenlösung die einzige Möglichkeit, den israelisch-palästinensischen Konflikt dauerhaft zu befrieden.
"Seien Sie nett zu Caren Miosga", bittet Anne Will, "sie ist es auch."
Erst in der Schlussviertelstunde kam die Moderatorin bei ihrem Krisen-Hopping dann noch auf das "erodierende Vertrauen" der Bürger in die Bundesregierung zu sprechen – Handfestes darüber, wie die Ampelkoalition das nach dem Verfassungsgerichtsurteil klaffende Haushaltsloch zu schließen gedenkt, konnte sie Habeck aber nicht entlocken.
Als der Wirtschaftsminister von "Zumutungen, die ertragen werden müssen" sprach, hakte Anne Will ein: Es werde also gespart? "Das ist sicherlich mit drin", antwortete Habeck – nur um hinzuzufügen, dass "die Logiken, nach denen die Schuldenbremse aufgestellt wurde, an den Herausforderungen unserer Zeit gemessen werden" müssten. Es sei "genau zu wägen", ob Projekte wie der "soziale Ausgleich in Deutschland" oder die "Robustheit industrieller Produktion" nicht auch "mehr wert" sein müssten.
Anne Wills naheliegende Schlussfolgerung, er wolle die Schuldenbremse auch 2024 wieder aussetzen, wies er allerdings zurück: "Das wäre ein Kurzschluss. Ich weise nur darauf hin, dass die Spielregeln, nach denen wir unser Land die letzten 16 Jahre – oder sagen wir 18 Jahre – geführt haben, veränderte sind."
Mit Nennung dieser Zeitspanne rückte unwillkürlich das nahende Ende der Ära "Anne Will" in den Fokus – und noch bevor die Moderatorin sich selbst bei Zuschauern, Sender und Team bedanken konnte („war mir eine echte Ehre“), ergriffen ihre Gäste das Wort. Ein schlichtes "Dankeschön" kam von Navid Kermani, "Danke Ihnen für 16 Jahre Aufklärung", legte Robert Habeck noch eine Schippe drauf, "das war schon stilprägend".
Anne Will wiederum führte ihre Nachfolgerin Caren Miosga mit derselben Formulierung ein, die diese für ihre "Tagesthemen"-Nachfolgerin Jessy Wellmer gefunden hatte: "Seien Sie nett zu Caren Miosga, sie ist es auch."
- ard.de: "Anne Will" vom 3. Dezember 2023