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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Islamismus in Deutschland Experte warnt: "Dann erwartet uns der Untergang"
Sie heben stolz ihre Banner und fordern bei Pro-Palästina-Demos ein Kalifat: Islamisten wollen die politische Struktur in Deutschland verändern. Auch mit Gewalt.
Die Strukturen des Islamismus sind in Deutschland äußerst verworren. Denn die Anhänger des Islamismus agieren oft nur verdeckt.
Am Donnerstagmorgen hatte es unter anderem in der Blauen Moschee in Hamburg eine Großrazzia gegeben. Hier soll das Islamische Zentrum Hamburg (IZH) schon seit Langem im Verdacht krimineller Aktivitäten gestanden haben. Nun kam es bei einer bundesweiten Aktion der Sicherheitsbehörden zu einer Durchsuchung. (Mehr dazu lesen Sie hier.)
Auch weitere islamische Verbände werden bereits vom Verfassungsschutz beobachtet, doch gegen einzelne auffällige Gruppen wird nur bedingt vorgegangen.
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Die islamistischen Extremisten ziehen mit der Menschenmenge durch die Straßen, nehmen an Pro-Palästina-Demonstrationen teil und fordern mit ihren Bannern und Plakaten die Errichtung eines Kalifats.
Durch die Eskalation in Nahost tritt der Islamismus nun immer häufiger zutage und rückt damit verstärkt in den Fokus der Politik.
Das beobachtet auch der Politikwissenschaftler Ralph Thiele. Er beschäftigt sich schon seit Längerem mit dem politischen Islam, wie der Islamismus auch genannt wird.
"Der politische Islam ist der Versuch, unsere Welt unter die Scharia zu stellen - ich verkürze das mal auf diese Art und Weise.
Das heißt, man verbindet Religion und Politik als eine ganz spezifische Form von Religion. Also nicht der Islam im breitesten Sinne, sondern sehr spezifisch definiert, und möchte jetzt Schritt für Schritt die Gesellschaft dahin verändern, dass das islamische Recht dann auch bei uns in der Politik ankommt. Und sich so die Politik der Religion unterordnet."
Eine soziale und politische Ordnung auf Grundlage des Korans würde in Deutschland die Abschaffung von Gleichstellung, Religions- und Meinungsfreiheit bedeuten.
Doch bisher ist die Anzahl an Menschen, die ein solches System vorantragen wollen, überschaubar. Aktuellen Studien des Verfassungsschutzes zufolge leben in Deutschland rund 27.500 Menschen, die dem Islamismus angehören.
Immer wieder wird in Deutschland auch Islamverbänden vorgeworfen, die islamistische Szene zu fördern. Zu den unter Verdacht stehenden Verbänden gehören DITIB, IGMG, IGS und die ATIB.
Die Verbände sollen eigentlich als gemeinsame Interessensvertretung dienen und religiöse und soziale Angebote für Muslime schaffen. Doch teilweise stehen sie unter dem Deckmantel der Demokratie und der Integrationsarbeit.
Zurzeit gibt es laut dem “Mediendienst Integration” 9 islamische Landesverbände und 14 Dachorganisationen in Deutschland.
"Wenn man sich so Befragungen in Deutschland anschaut, ist ja die Masse der Muslime auf den besten Spuren, auf der richtigen Fährte. Das Problem ist, dass die Organisationen, die die Muslime repräsentieren, dies häufig nicht sind. Weil das eben genau die DITIB und Co sind, die sich, um ihre Sonderansichten unters Volk zu bringen, organisiert haben. Während der Standard-Muslim, die Standard-Muslima im Grunde sagt, “Ich komme mit meiner Religion wunderbar mit mir und meinen Freunden zurecht, ich brauche diese Organisation gar nicht.”
Viele Muslime lehnen solche Islamverbände ab und wollen dieses Vermengen von Religion und Politik nicht.
Trotzdem wenden sich immer wieder junge Menschen an die Islamverbände.
"Und hier haben wir genau das Problem jetzt großer Migrationsströme, die, wo Menschen vielleicht mit einer kleineren Bildung, es sind ja nicht die Hightech-Ingenieure, die sie damit ansprechen. Oder einem Physiker oder Mediziner, sondern wir reden ja im Grunde häufig von armen Menschen, auch bildungsarmen Menschen, die im Grunde schon mit einer Vorkonditionierung zu uns kommen und im Grunde auch schon den Antisemitismus und auch die Zweifel an der Gleichstellung von Mann und Frau einfach mit sich bringen und dann bei uns ausleben wollen, auch unter uns ausleben wollen, da vielleicht auch noch separiert."
Einige Migranten, die nach Deutschland kommen, fühlen sich vom deutschen Staat und der Politik allein gelassen und wenden sich daher an religiöse Einrichtungen und auch an Islamverbände. Dies kann laut Ralph Thiele zur Radikalisierung führen.
Sollte dieser Einfluss des Islamismus zunehmen, könnte das Thiele zufolge fatale Auswirkungen auf die Demokratie haben.
"Tatsächlich erwartet uns der Untergang. Wenn Sie einfach in die Geschichte der Menschheit gucken, gibt es viele Hochkulturen, die es heute nicht mehr gibt. Kulturen verschwinden und sie verschwinden dann, wenn sie nicht mehr getragen werden von ihrem Wertegerüst, von einem Verantwortungsverständnis, was sie haben."
"Das heißt, was man jetzt eigentlich braucht, ist eine Wachheit, eine Wachheit, die das, was wir uns mühsam erkämpft haben, möglichst viele Generationen vor uns mühsam erkämpft haben an demokratischen Rechten und Bemühungen und auch Völkerrecht, dass wir das beschützen."
Für Ralph Thiele sind viele politische Entscheidungen, die in letzter Zeit von der Innenpolitik zum politischen Islam in Deutschland getroffen wurden, zweifelhaft.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser hält er etwa vor, einen Expertenrat im Kontext des politischen Islam, aufgelöst zu haben, den es in seinen Augen definitiv geben sollte.
Der Islamismus in Deutschland sollte laut Ralph Thiele genauso beobachtet werden wie der Rechtsextremismus. Und: Es müsse konkret gegen ihn vorgegangen werden, anstatt nur darüber zu reden. Denn nur so könne man die eigenen Werte und die Demokratie schützen.
Wie es um den Islamismus in Deutschland derzeit steht, warum extremistische Islamverbände teilweise leichtes Spiel haben und warum terroristische Verstrickungen oft unentdeckt bleiben, erklärt Politikwissenschaftler Ralph Thiele im Videobeitrag hier oder oben.
- Eigenes Interview mit Ralph Thiele
- Videomaterial via Reuters
- verfassungsschutz.de: Zahlen und Fakten zum Islamismus/Salafismus
- mediendienst-integration.de: Islamverbände
- bundestag.de: Islamische Organisationen in Deutschland