"Zeitenwende pur" Die Truppenbombe des Verteidigungsministers
Die Pläne der Bundeswehr, dauerhaft eine Brigade in Litauen zu stationieren, nehmen Form an. Doch es gibt auch viele Zweifel an dem Vorhaben von Boris Pistorius.
Für die Bundeswehr ist es militärisches Neuland: Bis zum Herbst sollen Planungen für eine dauerhafte Stationierung von rund 4.000 Soldaten der Bundeswehr an der Ostflanke der Nato stehen. In Litauen sollen die Männer und Frauen für einige Jahre leben – und wenn nötig auch kämpfen –, um dem Beistandsversprechen der Nato Gewicht zu geben. "Wir wollen einen Großverband bereitstellen, der selbstständig in der Lage ist, das Gefecht der verbundenen Waffen zu führen", sagt Brigadegeneral Christian Freuding, Leiter des Planungsstabs im Verteidigungsministerium.
Deutschland kommt damit einem vehement vorgebrachten Wunsch Litauens nach. Denn das Land schaut mit Unbehagen Richtung Russland. Zusagen, die Bundeswehrsoldaten würden im Spannungsfall zügig kommen und dann mit im Land eingelagerten Waffen Gefechtsbereitschaft herstellen, hatten die Politiker in Vilnius nicht überzeugt.
Wie Amerikaner und Briten im Kalten Krieg es in Westdeutschland gemacht haben, sollen die Deutschen im Land leben: Kindergärten, Schulen und Häuser sollen extra für die deutschen Truppen gebaut werden – zusätzlich zu der noch benötigten militärischen Infrastruktur. Mögliche Standorte haben die Litauer schon ins Spiel gebracht, darunter eine Kaserne am Rande der Hauptstadt Vilnius und in der Hafenstadt Klaipeda, dem früheren Memel. Von dort sind es etwa 50 Kilometer bis zur Grenze der russischen Exklave Kaliningrad.
Die östlichen Nato-Partner im Baltikum – aber auch Polen – fürchten, dass sich in der Region etwas zusammenbraut. Sie blicken dabei auf das mit Russland verbündeten Belarus, aber auch die sogenannte "Suwalki-Lücke". Mit diesem Begriff bezeichnet die Nato den engen Landkorridor, der zwischen Belarus und Kaliningrad liegt und der über polnisches und litauisches Gebiet führt. Die Sorge: Russland könnte die baltischen Staaten von den übrigen Nato-Ländern abschneiden und so deren Verteidigungswillen testen.
Am Mittwoch sprach der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu von einer "Stärkung der Truppengruppierungen der Armee der Russischen Föderation an unseren Westgrenzen", ohne genaue Gebiete zu nennen. Am Freitag erklärte Litauen daraufhin, seine Schutzmaßnahmen an der 680 Kilometer langen Grenze zu Belarus zu verstärken. Schon jetzt sind auf der anderen Seite russische Wagner-Söldner stationiert.
Zwei von sechs Grenzübergängen sollen geschlossen werden. "Wir haben mehr Geheimdienstoffiziere im Einsatz, unsere Institutionen funktionieren, und es gibt sicherlich auch viel mehr Kräfte des nationalen Verteidigungssystems und der Strafverfolgungsbehörden. Sie führen auch gemeinsam Übungen durch und ergreifen andere Aktionen", sagte Regierungschefin Ingrida Simonyte.
10.000 polnischen Soldaten an Belarus' Grenze
Am Tag zuvor hatten die polnische Regierung angekündigt, insgesamt 10.000 Soldaten in der Grenzregion zu Belarus zu stationieren, um "den Aggressor abzuschrecken, damit er nicht wagt, Polen anzugreifen". Eine Sorge der Regierung in Warschau dürfte aber auch sein, dass erneut in großer Zahl Migranten unerlaubt aus Belarus über die Grenze kommen. Dass in Polen gerade Wahlkampf ist, trägt nicht zu einer nüchternen Betrachtung der Lage bei.
Die westlichen Nato-Partner sehen keine konkreten Vorbereitungen für militärische Angriffe aus dem Osten, teilen aber die Einschätzung, dass die Abschreckung hochgefahren werden muss. Stationierte Nato-Soldaten sind die größte Form der Verbindlichkeit.
Mögliche Neuaufstellung einer Brigade
Die Bundeswehr ist in Litauen bereits seit 2017 vertreten, derzeit mit etwa 800 deutschen Soldaten und als Führungsnation eines multinationalen Nato-Gefechtsverbandes (eFP battle group) im Rotationsverfahren. Dieser gehört zur litauischen Iron-Wolf-Brigade. Denkbar ist, dass im Gegenzug ein litauisches Bataillon in die künftige deutsche Brigade eingegliedert ist. Zu entscheiden ist auch noch, ob Deutschland für das Vorhaben einen ganz neuen Verband begründet.
"Wir wollen das total offen angehen. Das kann die Verlegung einer bestehenden Brigade oder auch eine Neuaufstellung bedeuten. Wir müssen uns erst mal angucken, welche operativen Forderungen es an diese Brigade gibt, um entscheiden zu können, wie die überhaupt aussehen muss", sagte Freuding. Auch über die innere Struktur ist noch zu entscheiden.
"Ob der jetzt zwei Panzergrenadierbataillone hat und ein Panzerbataillon oder umgekehrt oder aufgrund der geografischen Erfordernisse noch ein Infanteriebataillon hat, das würde ich zu diesem Zeitpunkt auch noch offen lassen. Klar sei, dass der Verband zum eigenständigen Handeln befähigt sein muss, also auch Sanitätsversorgung, logistische Versorgung sowie IT- und Cyberunterstützung haben wird. Freuding sagt: "Das ist Zeitenwende pur."
Pistorius ließ Bombe platzen
Im Juni hatte Verteidigungsminister Boris Pistorius die Stationierung zugesagt und damit an weniger konkrete Zusicherungen von Kanzler Olaf Scholz angeknüpft. Militärintern ließ der SPD-Politiker damit eine unerwartete Bombe platzen. Umgehend meldeten sich die Skeptiker zu Wort.
Allerdings: Würde Pistorius erst alle Einwände abräumen wollen, müsste er wohl bis zur nächsten Bundestagswahl mit leeren Händen dastehen, wie frühere Erfahrungen zeigen. Tatsächlich ist die Stationierung aber auch ein Kraftakt mit offenen Fragen. Bis Herbst müssen auch die Litauer selbst liefern, wenn es beispielsweise um die Unterbringungen der deutschen Truppen geht.
"Da gibt es natürlich viele Modelle. Wir blicken da insbesondere auf die amerikanische Stationierung in Deutschland. Da wissen wir, welche soziale Einbettung es gibt – von Schulen über Kindergärten, über Sozialeinrichtungen bis hin zu kulturellen Einrichtungen", sagt Freuding. "Wir haben damit wenig Erfahrung, aber da werden wir ein gutes Paket mit den Litauern zusammen hinkriegen." Es werde Soldaten geben, die pendelten und andere würden mit Familie umziehen.
Anspruch sei es, jeden Dienstposten mit den Soldaten zu besprechen und "mit einem breiten Instrumentenkasten" attraktiv auszugestalten. Aber es gelte auch: "Freiwilligkeit ist nicht das tragende Grundprinzip von Streitkräften. Wir werden da Truppenteile aufstellen, verlegen und die mit dem erforderlichen Personal ausstatten", sagt der General. "Mein Eindruck ist, dass das eine große Aufgabe ist, bei der für viele der Reiz bestehen wird, dabei zu sein.
- Nachrichtenagentur dpa