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Jobcenter in Panik: "Wissen nicht, ob Bürgergeld in der Praxis funktioniert"


Interview
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Panik im Jobcenter
"Wissen nicht, ob Bürgergeld in der Praxis funktioniert"

InterviewVon Mario Thieme

Aktualisiert am 02.01.2023Lesedauer: 6 Min.
Ursprüngliche Abstimmung über das Bürgergeld im Bundestag im November: Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hält viel vom Bürgergeld.Vergrößern des Bildes
Ursprüngliche Abstimmung über das Bürgergeld im November im Bundestag: Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hält viel von der Maßnahme. (Quelle: IMAGO/Christian Ender)

Das Bürgergeld stellt Jobcenter-Mitarbeiter vor ungeahnte Herausforderungen. Gelingt die Transformation? Eine Sachbearbeiterin packt aus.

Andrea Nahles machte ein Versprechen: Pünktlich zum neuen Jahr werde jeder Betroffene das neue Bürgergeld erhalten, sagte die Chefin der Bundesagentur für Arbeit im Gespräch mit t-online. Das ganze Interview lesen Sie hier.

Doch ist die Umstellung von Hartz IV auf das neue Bürgergeld wirklich so einfach? Keineswegs, glaubt Doreen*. Sie ist seit fast 30 Jahren in der Leistungsabteilung tätig, derzeit in einem norddeutschen Jobcenter. Vor 18 Jahren sorgte sie mit dafür, dass die Umstellung auf Hartz IV in der Praxis gelang. Nun soll sie die Transformation zum Bürgergeld umsetzen.

Doreen ist unsichtbar: Wenn über Hartz IV gesprochen wurde beziehungsweise über das Bürgergeld gesprochen wird, ging und geht es vor allem um die Leistungsempfänger und deren Arbeitsvermittlung. Was sie und ihre Kollegen im Hintergrund leisten, braucht aus ihrer Sicht dringend mehr Beachtung. Im Gespräch mit t-online verrät sie, welchen Herausforderungen sie sich tagtäglich stellen muss.

t-online: Wie unterscheidet sich die Sachbearbeitung der Agentur für Arbeit von der des Jobcenters?

Doreen: Die Agentur hat den Vorteil, dass sich dort die Arbeitnehmer anmelden, die aus einer Beschäftigung kommen oder noch in einer Beschäftigung stehen. Es ist vorgeschrieben, dass man sich bereits drei Monate vor Eintritt in die Arbeitslosigkeit, weil zum Beispiel ein befristetes Arbeitsverhältnis ausläuft, bei der Agentur melden muss. Diesen Vorteil hat das Jobcenter nicht. Hier kommen Menschen oft aus einer Notsituation heraus. Eine solche kann zum Beispiel die einer alleinerziehenden Mutter sein, die den Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten kann, oder dass ein Arbeitgeber nicht die Arbeitsbescheinigung zur Berechnung für Arbeitslosengeld I ausfüllt.

Die Agentur für Arbeit und das Jobcenter sind nicht dasselbe.
Die Agentur für Arbeit und das Jobcenter sind nicht dasselbe. (Quelle: IMAGO/Rolf Poss)

Der Unterschied zwischen den Arbeitslosengeldern

Wer in den letzten 24 Monaten mindestens 12 Monate einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachging, hat nach Drittem Sozialgesetzbuch (SGB III) Anspruch auf Arbeitslosengeld I (ALG I), welches die Agentur für Arbeit regelt. Außer bei älteren Arbeitnehmern greift nach spätestens einem Jahr ALG-I-Bezug das Zweite Sozialgesetzbuch (SGB II) und es besteht Anspruch auf Arbeitslosengeld II (ALG II), besser bekannt als Hartz IV, wofür das Jobcenter zuständig ist.

Die ersten Fragen richten sich dann wohl eher an Sie als an den Arbeitsvermittler.

Den Termin beim Arbeitsvermittler wahrzunehmen, steht für viele nicht an erster Stelle. Gibt es aber Probleme mit der Zahlung, wird schon eher angerufen und nachgefragt. Sollte es ganz eng werden, spricht ein Leistungsempfänger auch schon mal persönlich vor und fordert das Geld ein. Die Anrufe im Telefonservice, die eingehenden E-Mails und die persönlichen Vorsprachen betreffen überwiegend leistungsrechtliche Themen. Wenn ich mir vorstelle, die Leistungsabteilung könnte für vier Wochen nicht arbeiten, bekomme ich Gänsehaut.

Sollte die Leistungsabteilung mehr Aufmerksamkeit bekommen?

Meiner Meinung nach: ja. Leider wird die Wahrnehmung der Öffentlichkeit nur auf die Arbeitsvermittlung gelenkt. Das ist intern nicht anders, da die Öffentlichkeit die Erfolge nur an den statistischen Ergebnissen der Arbeitsvermittlung erkennen kann.

Wie meinen Sie das?

In der Arbeitsvermittlung werden viele statistische Erhebungen durchgeführt. So kann man angeben, wie viele Menschen in eine Fort- oder Weiterbildung oder in Arbeit vermittelt werden konnten. Dadurch können konkrete Zahlen und somit auch Erfolge abgerechnet werden.

Liest man in den Medien von den Neuerungen, die das Bürgergeld mit sich bringt, liest man nur von Sanktionen, der Vertrauenszeit, den Fort- und Weiterbildungen oder Ähnlichem. Es ist schwierig, der Öffentlichkeit die so umfangreichen Aufgaben der Leistungsabteilung zu erklären. Die der Arbeitsvermittlung sind leichter rüberzubringen.

Haben Sie Beispiele?

Die Öffentlichkeit und die Politiker interessiert zum Beispiel wenig, wie die Anrechnung der verschiedenen Einkommensarten erfolgen muss, wie und ob die Aufteilung von Einmalzahlungen auf sechs Monate erfolgt, wie die Freibeträge berechnet werden, wenn ein Arbeitnehmer vom selben Arbeitgeber in einem Monat zwei Lohnzahlungen für unterschiedliche Monate erhält. Das hört sich kompliziert an. Es sind aber nur drei Beispiele von gefühlt unendlich vielen.

Das hört sich tatsächlich kompliziert an.

Das Leistungsrecht des SGB II ist einfach zu umfangreich und komplex. Die Zahl der Anträge steigt, und die Anträge werden komplizierter und umfangreicher. Alle müssen individuell bearbeitet werden. Da es so viele unterschiedliche Fallgestaltungen gibt, kann der Gesetzestext nicht immer eins zu eins umgesetzt werden. Standardmäßige und einfache Bearbeitung ist selten geworden.

Es müssen Fallbesprechungen erfolgen, auf Klagen erfolgte Urteile müssen gesucht und gelesen werden. Aber Urteile, die in der gesamten Republik von einzelnen Gerichten getroffen werden, sind auch nicht immer hilfreich. Dem Gesetzgeber wird hierdurch vorgeführt, was er alles beim SGB II nicht bedachte, als er das Gesetz entwickelte.

Da sind Fehler programmiert.

Schon jetzt gibt es aufgrund von Mehrbelastung die Gefahr, dass Bescheide nicht korrekt erstellt werden. Aufgrund des Zeitdrucks kann es vorkommen, dass man nicht in Ruhe nachlesen kann. Die Anträge sind bei bis zu sieben Personen in einer Bedarfsgemeinschaft sehr umfangreich. Da kann man schon etwas übersehen oder einen Zahlendreher einbauen.

Video | Neues Bürgergeld: "Das ist Hartz V!"
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Quelle: t-online

Hat das dann viele Widersprüche gegen Leistungsbescheide zur Folge?

Es gibt Menschen, die aus Prinzip gegen alles in Widerspruch gehen, aus Protest. Es gibt auch Anwälte, die sich darauf spezialisiert haben. Die umfangreiche Auslegung der Gesetze lädt auch dazu ein, Widerspruch einzulegen. Irgendetwas wird schon zu finden sein, was nicht korrekt umgesetzt wurde. Ich kann mir vorstellen, dass es mit dem neuen Bürgergeld anfangs mehr Widersprüche geben wird.

Wie begründen Sie das?

Leider wurde das Bürgergeld gefühlt zu kurzfristig und nebenbei beschlossen. Es ist noch zu wenig bekannt zu den Neuerungen. Wir Praktiker stellen uns noch viele Fragen: Wann erfolgt bei Bestandsfällen die Prüfung der Vermögenswerte und die Angemessenheit der Kosten der Unterkunft? Wir arbeiten schließlich schon seit zwei Jahren ohne diese Prüfungen. Wie sehen die neuen Bescheide aus? Schafft die IT die rechtzeitige Umsetzung?

Und von Ihnen wird dann erwartet, alles pünktlich und ordnungsgemäß hinzubekommen?

Die Neuerungen werden an die Ämter gegeben. Bei diesen liegt nun die Verantwortung, eine schnelle Umsetzung zu gewährleisten. In der Theorie und auf dem Papier sieht es einfach aus. Die Umsetzung in der Praxis ist aber nie ohne Probleme.

Die Politiker als Theoretiker haben ihren Job getan. Um die tieferen Auswirkungen und die Einzelheiten kümmern sich dann andere Leute. Das ist ein Delegieren von Aufgaben. Ich wünsche mir, dass auch wir Praktiker einbezogen werden. Man beschreibt diese Neuerung als die Errungenschaft zur Abschaffung von Bürokratie, ohne zu wissen, ob es in der Praxis tatsächlich funktioniert.

Wird die rechtzeitige Umstellung von Hartz IV auf Bürgergeld gelingen?

Ich hoffe es. Ansonsten müssen wir mit Provisorien und Listen arbeiten. Es müssen Nacharbeiten erfolgen. Leider kenne auch ich nur die Informationen zu den Neuerungen des Bürgergeldes aus den Medien.

Ich wusste bis vor Kurzem nicht, dass es eine Prämie als Belohnung dafür geben soll, dass jemand eine Weiterbildung aufnimmt. Da frage ich mich, wer die Auszahlung übernehmen soll. Auch die Leistungsabteilung? Was ist mit den Fällen, die aus dem Leistungsbezug fallen? Besteht für diese Personen weiterhin Anspruch auf diese Prämie? Wird bei Abbruch der Weiterbildung die Prämie zurückgefordert? Was ist, wenn eine Person erkrankt? Ich weiß nicht, welche Änderungen noch auf uns zukommen, wie umfangreich diese sein werden und ob die Umsetzung einfach wird.

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Sorgen die Flüchtlinge aus der Ukraine für eine Mehrbelastung bei Ihrer Arbeit?

Zu der laufenden Arbeit kamen noch die Anträge der Ukrainer hinzu. Viele gesetzliche Entscheidungen wurden nicht sofort getroffen, das war auch nicht möglich. Das war uns klar. Aber auch hier war es wichtig, dass das Geld gezahlt wurde, dass alle zum Arzt gehen können, dass alle eine Unterkunft beziehen können, dass die Erstausstattung der Wohnung bewilligt wird oder dass die Kaution an den Vermieter überwiesen wird.

Der Wechsel der rechtlichen Zuständigkeit vom Asyl zum SGB II erfolgte zum 1. Juni 2022, also im Sommer und damit auch in der Urlaubszeit. Die Leistungsabteilung im Jobcenter hat schon über Personalmangel zu klagen, die Urlaubszeit verschärfte die Situation noch.

Wie hat sich Ihre Arbeit in den letzten drei Jahrzehnten verändert?

Sie ist stressiger geworden. Die Einsparungen der Mittel, der Personalmangel, die Aufgabenübertragung auf die wenigen noch verbliebenen Mitarbeiter sind spürbar. Die Rechtsprechungen werden komplizierter und komplexer. Die Antragsteller haben sich verändert. Es ist alles selbstverständlich geworden. Hat jemand Ansprüche auf SGB-II-Leistungen, wird er diese auch erhalten. Der Ton wird aber aggressiver, fordernder, ungeduldiger.

Gefühlt ist alles dringend, muss umgehend und sofort erledigt werden. Eine angemessene Bearbeitungszeit ist nicht gegeben. Da das Jobcenter oft in Vorleistung gehen muss, ist es sehr oft die letzte Anlaufstelle. Können andere Ämter keine Berechnungen vornehmen, aus welchen Gründen auch immer, werden sie zum Jobcenter geschickt. Dann ist es meistens schon sehr dringend und somit steigt der Druck.

Ist das nicht belastend?

Das ist sehr belastend. Man wird beschimpft, weil man Unterlagen benötigt, die der Antragsteller nicht beschaffen kann. Nun sollen wir es richten. Es wird erwartet, dass wir uns um alles kümmern. Die Antragsteller sind aber für die Vollständigkeit des Antrags zuständig. Spuren wir nicht, wird mit der Presse, mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde oder mit persönlichem Erscheinen gedroht. Beschimpfungen musste ich mir schon genug anhören.

Was wünschen Sie sich?

Ich wünsche mir einfachere Gesetze und Regelungen sowie weniger Bürokratie und mehr Rechte aufseiten des Jobcenters.

Vielen Dank für das Gespräch.

* Um die Anonymität der Interviewpartnerin zu gewährleisten, wird sie nur beim Vornamen genannt und das Jobcenter, in dem sie arbeitet, nur grob verortet.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Doreen, Mitarbeiterin in der Leistungsabteilung eines norddeutschen Jobcenters
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