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Norbert Lammert zu Atomkraft: "Maß an Inkonsequenz, das mich nicht überzeugt"


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Lammert zur Atomdebatte
"Unangemessen, Kapazitäten mutwillig auszuschließen"

  • Bastian Brauns
InterviewVon Bastian Brauns, Washington

Aktualisiert am 14.07.2022Lesedauer: 7 Min.
Das Kernkraftwerk Isar 2: Der Meiler gehört zu den letzten drei noch aktiven AKW in Deutschland.Vergrößern des Bildes
Das Kernkraftwerk Isar 2: Der Meiler gehört zu den letzten drei noch aktiven AKW in Deutschland. (Quelle: Andreas Haas/imago-images-bilder)

Norbert Lammert kritisiert die Ukraine-Politik der Bundesregierung. Von Begriffen wie Zeitenwende und neuer Wirklichkeit hält er wenig. In der Atomkraftfrage fordert er Bewegung.

37 Jahre lang war Norbert Lammert Mitglied des Deutschen Bundestages. Für 12 Jahre war er Bundestagspräsident. Seit 2019 ist er Vorsitzender der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS).

Zur Eröffnung des neuen KAS-Büros in Washington ist Norbert Lammert in die US-Hauptstadt geflogen. Mit t-online hat er bei diesem Anlass über den Zustand der US-Demokratie gesprochen und deutliche Worte gefunden, wie Sie hier im Video sehen können.

Im Lafayette-Park vor dem Weißen Haus sprach Lammert mit t-online auch über die Ukraine-Politik der aktuellen Bundesregierung. Neben Kritik am Zeitenwende-Begriff des Bundeskanzlers Olaf Scholz beanstandet er auch die Aussage der Grünen-Außenministerin Annalena Baerbock, wonach man am Tag des russischen Angriffs in einer neuen Wirklichkeit aufgewacht sei. Als bekannter Kritiker der Kernkraft stimmt Lammert außerdem jetzt der Forderung nach einer Laufzeitverlängerung für die deutschen Atomkraftwerke zu.

t-online: Herr Lammert, in Ihrer Abschiedsrede im Deutschen Bundestag sprachen Sie 2017 von der deutschen Wiedervereinigung als der "spektakulärsten und zugleich friedlichen Veränderung in der jüngeren Geschichte". Jetzt verändert der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine alles. Mit welchen Worten würden Sie das beschreiben?

Norbert Lammert: Auf jeden Fall habe ich Probleme mit der schnellen Vereinbarung auf den Begriff Zeitenwende. Wenn man darunter das Ende einer Epoche oder den Beginn einer neuen versteht, weil eine vertraute, über lange Zeit stabile Versuchsanordnung aus welchen Gründen auch immer zusammengebrochen ist, dann hat diese Zeitenwende spätestens 2014 stattgefunden mit der Besetzung und Annexion der Krim.

Und wann frühestens?

Meinem Verständnis nach schon 2008, als Russland mit der militärischen Intervention in Georgien zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa gewaltsam Grenzen verschoben hat. Diese werden in Georgien übrigens beinahe wöchentlich weiter verschoben, weil die russischen Truppen mal hier und mal da immer wieder Grundstücke einziehen und Grenzzäune setzen. Das nimmt aber kein Mensch zur Kenntnis.

Worin besteht die neue Qualität der russischen Aggression?

Insbesondere die Krim-Annexion 2014 war ein demonstrativer Vorgang der Revision bestehender Grenzen in Europa, was nicht nur völkerrechtswidrig ist, was beinahe keiner Erwähnung bedarf. Das widerspricht den Garantien, die Russland selber nach der vermeintlich davor stattgefundenen Zeitenwende in den 90er Jahren eingegangen ist, wo die Unverletzlichkeit aller Grenzen, die Souveränität aller existierenden Staaten von allen europäischen Staaten garantiert wurden.

Die von Bundeskanzler Olaf Scholz formulierte Zeitenwende bezieht sich aber auch auf ein verändertes politisches Handeln, wie etwa die beschlossene Sonderausstattung in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr.

Ja, aber diese Zeitenwende ist eine Wahrnehmungswende und keine Realitätswende. Vielleicht kann ich das mit dem anderen Zitat noch deutlicher machen. Am Tag nach der russischen Invasion sagte die Außenministerin Annalena Baerbock in einem Interview "Wir sind in einer neuen Wirklichkeit wach geworden." Natürlich sind wir hoffentlich endlich wach geworden. Aber die Wirklichkeit war eben nicht im Februar 2022 eine andere als im Dezember 2014 oder im Sommer 2008. Wir haben das nur verdrängt.

Was genau ist 2022 anders als 2014?

Der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev hat auf eine entsprechende Frage gesagt: Der Unterschied ist, dass die Ukrainer sich jetzt gewehrt haben. Hätten die Ukrainer sich wieder nicht gewehrt, hätte der Westen wieder beigedreht. Das hat, auch wenn es glücklicherweise nicht beweiskräftig ist, eine hohe Plausibilität. Die wesentliche Veränderung ist nicht die Aggression, die hat vorher stattgefunden, sondern die Wahrnehmung einer Aggression, weil die Angegriffenen gesagt haben: Ab sofort nehmen wir das nicht mehr hin.

Und der Westen hat mitgezogen.

Ja, das macht den Vorgang aufschlussreich. In dem Augenblick, wo einer oder viele sagen, wir nehmen das nicht mehr hin, vermuten wir einen Wechsel der Verhältnisse, während der tatsächliche Wechsel der Verhältnisse längst vorher stattgefunden hat, aber hingenommen wurde, weil er nicht für einen Wechsel gehalten wurde.

Sie haben unlängst davor gewarnt, dass der Rückhalt für die aktuelle Ukraine-Politik in Deutschland, in Europa und auch in den USA bröckeln könnte. Die Diskussionen um hohe Energiepreise nehmen jetzt immer mehr an Fahrt auf. Wie sollte die Bundesregierung darauf reagieren?

Ich bin illusionsfrei. Vor einer Woche wurde nun zum ersten Mal in einer Umfrage nach dem wichtigsten Problem die Inflation genannt. Davor war es zehn Wochen lang der Ukraine-Krieg. Es gibt einen Gewöhnungseffekt, der in Ermangelung neuer, spektakulärer einzelner Ereignisse dann in der individuellen Wahrnehmung von anderen Problemen eingeholt und schließlich verdrängt wird.

Wie soll man damit umgehen?

Ich empfehle all jenen, die jetzt "wach geworden sind", um Annalena Baerbock noch einmal zu zitieren: Wir brauchen eine andere Sicherheitsarchitektur in Europa, wir brauchen einen anderen Stellenwert der Sicherheitspolitik im eigenen Lande. Wir müssen einen größeren Teil unseres Bruttosozialprodukts und einen noch größeren Teil unseres Bundeshaushalts für Verteidigung ausgeben.

Eine Forderung, die Sie schon vor dem russischen Einmarsch formuliert hatten.

Ja, aber es ist jetzt offensichtlich dringender geworden. Jede Verzögerung in der Umsetzung dieser Einsichten wird auf eine immer geringere Akzeptanz der Bevölkerung stoßen. Darum ist es gut, dass das 100 Milliarden-Sonderprogramm für die Nachrüstung der Bundeswehr inzwischen vom Bundestag beschlossen ist. Hätte man das langwierig evaluiert, ahne ich, was am Ende stattgefunden hätte. Jedenfalls wäre es wohl nicht zu dem Beschluss gekommen, genau dies jetzt auch im Grundgesetz zu verankern.

Das klingt so, als müsse Politik schneller sein, als das Volk seine Meinung ändert.

Das ist nun mal Glanz und Elend einer funktionierenden Demokratie. Sie darf sich nicht von Stimmungen abhängig machen, aber sie kann sich auch nicht von der Mehrheitsfähigkeit politischer Entscheidungen emanzipieren.

Was, wenn eine Minderheit dann trotzdem sehr laut wird?

Man muss auch eine gewisse Stimmungsresistenz entwickeln. Der Umstand, dass bestimmte Vorbehalte gegen was auch immer besonders lautstark vorgetragen werden, ist kein hinreichender Grund, etwas nicht zu tun, von dessen Notwendigkeit man überzeugt ist. Aber bei allem, von dem man überzeugt ist, muss man wissen: Am Ende muss es mehrheitsfähig sein. Sonst wird eine Mehrheit, die in regelmäßigen Abständen über diese Kompetenz verfügt, mit ihrer Mehrheit andere Mandatsträger wählen, die genau diese Überzeugungen nicht teilen.

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In den USA stehen im Herbst die Zwischenwahlen an. Bereits jetzt kündigen einzelne Republikaner an, dass sie die große Unterstützung für die Ukraine nach gewonnenen Wahlen im Kongress blockieren wollen. Fürchten Sie, dass der Rückhalt für die Ukraine zuerst in den USA bröckelt?

Nein, wir sollten tatsächlich in Ruhe abwarten, was passiert. Aus der jüngeren Vergangenheit lässt sich jedenfalls eine wesentlich größere eigene Urteilsbildung der Republikaner in Verteidigungs- und Sicherheitsfragen auch gegenüber dem Präsidenten beobachten, als das in der unsäglichen Stützung eines unsäglichen, aus den eigenen Reihen stammenden vorherigen Präsidenten zu beobachten ist.

Auch, wenn dieser vielleicht bald wieder Donald Trump heißt?

Wären die Republikaner gegenüber ihrem eigenen Präsidenten ähnlich souverän in der eigenen Urteilsbildung, wie sie es in außenpolitischen Verteidigung- und Sicherheitsfragen offenkundig sind, wäre uns beinahe schon geholfen.

Zum Rückhalt in Deutschland. Ihre Partei fordert angesichts der drohenden Gas-Notlage zumindest eine Verlängerung der Laufzeiten der verbliebenen drei Kernkraftwerke. Als Angela Merkel nach Rot-Grün einst mit der FDP den Wiedereinstieg in die Nutzung der Kernenergie beschlossen hat, haben Sie das kritisiert. Dann kam das Nuklear-Unglück von Fukushima, der Wiederausstieg wurde beschlossen. Können Sie die Forderungen nach einer Verlängerung nachvollziehen?

Natürlich kann ich das. Fukushima ist wieder ein prägnantes Beispiel für den gleichen Mechanismus wie bei der angeblichen Zeitenwende in Bezug auf die Ukraine. Es hatte sich bei Fukushima nichts an der bis dahin wahrgenommenen Faktenlage verändert. Aber das Ereignis war das spektakuläre Signal, das die übrigens nie vorhandene Mehrheitsfähigkeit der Nutzung von Nuklearenergie in Deutschland endgültig kippen ließ.

Woher kam diese Anti-Atomkraft-Haltung der Deutschen?

In Deutschland gab es seit dem Reaktorunglück von Tschernobyl in der Ukraine keine Mehrheit für die Nutzung von Nuklearenergie. Die Politik hat aber 20, 25 Jahre gegen den erkennbaren Vorbehalt der Mehrheit der Bevölkerung die Nutzung dieser Energie aufrechterhalten mit dem Argument, das sei im Grunde eine sichere Energie. Das Ereignis, was in Tschernobyl stattgefunden hat, sei auf mangelnde Kontrolle und auf technische Inkompetenz zurückzuführen.

Dann passierte Fukushima.

In Japan, einem hochentwickelten Industrieland. Damit war dieses Argument perdu. Das war vor allen Dingen auch für Angela Merkel der entscheidende Punkt. Was sie bislang immer zugunsten dieser Technologie vorgetragen hatte, ließ sich nicht mehr aufrechterhalten. Denn das, womit die Bevölkerung beruhigt wurde, ist mit diesem Ereignis kollabiert. Darin liegt ein entscheidender Aspekt für politisches Handeln.

Können Sie das näher beschreiben?

Die Frage ist: Woran macht man Wahrnehmungsveränderungen fest? An Entwicklungen? Oder an Risiken? Nein, an Ereignissen. Es sind Ereignisse, die unsere Wahrnehmung prägen. So wie Fukushima damals diese Wahrnehmung geprägt hat, prägt jetzt der Militäreinsatz in der Ukraine diese Wahrnehmung. Dass Ereignisse aus langfristigen Entwicklungen resultieren, fällt uns schwer, zu identifizieren. Wahrnehmungen hingegen prägen uns. Jetzt gibt es wieder so eine.

Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Deutschen nun für eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke ist.

Ein klassischer Fall. Platt formuliert geht es um die Alternative zwischen einer kalten Bude mit Aufrechterhaltung des Ausschlusses von ungewünschten Energien oder der vorübergehenden Nutzung unerwünschter Energien bei Aufrechterhaltung einer erwärmten Bude. Was wir sehen, ist eine Veränderung der Mehrheiten zugunsten der zweiten Option.

Sind Sie also dafür?

Ich bin gelernter Parlamentarier und habe mich auf die Rollenverteilung kapriziert, dass die Regierung Vorschläge macht und das Parlament entscheidet, ob diese umgesetzt werden oder nicht. Das heißt, zu dieser Frage muss die Regierung eine plausible Position beziehen. Bisher bezieht sie diese zumindest nicht einheitlich. Dazu müsste sich dann das Parlament verhalten.

Unterstützen Sie also die Haltung der CDU/CSU?

Die Unionsfraktion hat die Präferenz zu sagen: Wir wollen den Ausstiegsbeschluss nicht prinzipiell kassieren. Wir sagen, wir befinden uns jetzt in einer absehbaren, noch nicht akuten, aber vorhersehbaren Versorgungsnotlage. Da ist es unangemessen, Kapazitäten der Eigenversorgung, über die wir selbst verfügen, mutwillig auszuschließen. Zumal wir sie möglicherweise dringend benötigen für einen noch nicht abschließend vorhersehbaren Zeitraum. Das hat eine gewisse Plausibilität.

SPD und Grüne setzen bislang ausschließlich auf den Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken.

Und genau da wird es unplausibel. Man hält am Ausstiegsbeschluss bezüglich der Kernenergie fest, trotz eines auch aus der Sicht des Wirtschaftsministers absehbaren akuten Versorgungsproblems. Die gleiche Regierung aber sagt: Aus dem Ausstiegsbeschluss aus der Nutzung fossiler Energien steigen wir vorübergehend aus, was ja klimapolitisch die mit Abstand schlechtere Versorgungsoption ist. Das ist ein Maß an Inkonsequenz, das mich nicht überzeugt.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Interview mit Norbert Lammert vor dem Weißen Haus in Washington
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