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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Faktencheck zu Wagenknecht-Thesen Sahras Informationskrieg
Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht provoziert gern – und bekommt dafür auch viel Beifall. Doch selten war die Empörung so groß wie nach ihren Äußerungen zu Russland bei "Anne Will". Zu Recht?
Wenn Sahra Wagenknecht in einer Talkshow auftritt, ist Krawall in der Regel programmiert. Denn die frühere Linken-Fraktionschefin und Bundestagsabgeordnete vertritt in vielen politischen Streitpunkten eine Minderheitenposition. Und sie scheut nicht davor zurück, diese in zugespitzten Worten öffentlich zum Ausdruck zu bringen.
So war es auch am Sonntagabend bei "Anne Will". Wagenknechts Einlassungen zum Ukraine-Konflikt lösten nicht nur bei ihren Gesprächspartnern (darunter die Sicherheitsexpertin Constanze Stelzenmüller und der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen) Irritationen aus, sondern wurden auch in den sozialen Netzwerken heftig diskutiert. Das reichte bis zum Vorwurf, die frühere Linken-Größe wäre sich für Kremlpropaganda nicht zu schade.
All das wirft Fragen auf: Wie fundiert sind ihre Thesen? t-online hat die wichtigsten Aussagen vom Sonntag zusammengefasst und mit Sicherheitsexperten gesprochen.
Eine kühne Aussage. Denn obwohl Sahra Wagenknecht enge Kontakt nach Russland pflegt, russischen Medien immer wieder Interviews gibt, vermag weder sie noch irgendjemand anderes sicher zu sagen, was der russische Präsident Wladimir Putin will. Selbst langjährige Beobachter des Kremls halten ihn inzwischen für unberechenbar.
Richtig ist, dass Putin sehr wohl weiß, dass ein Einmarsch in die Ukraine massive Sanktionen gegen Russland nach sich ziehen würde. Möglicherweise hat er die Reaktionen des Westens auf den jüngsten Truppenaufmarsch aber unterschätzt: Mit der Annexion der Krim 2014 ist Russland am Ende trotz massiver internationaler Proteste und Sanktionen auch durchgekommen.
Aber auch geostrategisch hat Putin ein handfestes Interesse an der Ukraine. "Es liegt sehr wohl im geostrategischen Interesse Russlands, sich Teile der Ukraine einzuverleiben, um sich einen Landzugang zur Krim zu verschaffen und dem Narrativ zu folgen, dass Putin im Juni letzten Jahres in einem Aufsatz hervorhob, Russland und Ukraine seien ein Land", sagt der CDU-Außenexperte und Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter.
Im vergangenen Jahr hatte Putin auf der Webseite des Kremls einen Aufsatz mit dem Titel "Über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer" veröffentlicht. Er vertritt darin die Auffassung, die Ukraine sei ein "Geschöpf der Sowjetära" (also kein souveräner Staat, sondern ein künstliches Gebilde). Russen und Ukrainer seien ein Volk, das aber von äußeren Mächten auseinandergetrieben worden sei, um eine Art "Anti-Russland" zu schaffen. Damit macht Putin sowohl ideologische als auch territoriale Ansprüche auf die Ukraine geltend.
"Die eigene russische Logik legt doch ein faktisches Interesse nahe", findet auch Carlo Masala, Professor für Sicherheitspolitik an der Universität der Bundeswehr München: "Wenn die Nato nicht zugesteht, dass die Ukraine niemals Nato-Mitglied werden wird und damit der Russischen Föderation offiziell einen Sicherheitspuffer zur Nato verweigert, dann liegt es doch auf der Hand, sich einen solchen durch eine Invasion in die Ukraine selber zu schaffen."
2. Aussage: Wer so argumentiert, hat internationale Politik nicht verstanden.
Bei "Anne Will" hat Sahra Wagenknecht auf Nachfrage ausgeführt, es gehe Russland nicht darum, die Ukraine zu besetzen, sondern um "Sicherheitsgarantien". Die Amerikaner, so die Linken-Politikerin, redeten einen Einmarsch der Russen in der Ukraine "mit Aggressivität" herbei. Auch diese These findet der Politologe Masala abwegig: "Die USA haben zum gegenwärtigen Zeitpunkt am wenigsten ein Interesse an einer militärischen Eskalation, da sie eigentlich nicht mehr militärisch in Europa gebunden sein wollen und es lieber sehen würden, wenn sie all ihre Kräfte auf die Auseinandersetzung mit China konzentrieren könnten." Naiv sei auch die Vorstellung, Russland könnte sich zu einem Einmarsch "drängen" lassen: "Wer so argumentiert, hat von internationaler Politik nichts verstanden."
3. Aussage: Russland sieht keinen anderen Weg als "Säbelrasseln", um seine Sicherheitsinteressen gegenüber der Nato zu verteidigen.
Falsch, sagt der Sicherheitsexperte Masala: "Die Nato hat seit 1990 beständig Rücksicht auf die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion und später Russlands genommen." Russland habe dennoch spätestens seit 2008 damit angefangen, seine Streitkräfte zur Durchsetzung politischer Interessen einzusetzen. Und habe in der Krim-Krise gelernt, dass es damit erfolgreich ist. Wenn Moskau militärisch drohe und auch eskaliere, lasse sich der Westen darauf ein, so die russische Erfahrung: "Von daher ist Säbelrassen die russische Strategie der Wahl und nicht der Notwendigkeit."
Auch nach Ansicht des CDU-Außenexperten Roderich Kiesewetter steht Moskau "keinerlei ernsthafter Gefährdung seiner Sicherheitsinteressen durch die Nato gegenüber". Dies zeige sich daran, dass der Kreml in keiner Weise versucht habe, in der aktuellen Krise diplomatische Möglichkeiten wie den Nato-Russlandrat oder die OSZE auszuschöpfen. "Die von Russland geforderten Sicherheitsvereinbarungen widersprechen internationalen Verträgen, die Russland selbst unterzeichnet hat", sagt Kiesewetter: "Insofern sind die Interessen nicht berechtigt, sondern dienen lediglich der Desinformationsstrategie."
Fakt ist auch: Während die USA im Ukraine-Konflikt von Anfang an auf klare Drohungen gesetzt haben, haben Frankreich und Deutschland immer wieder Gesprächsangebote an Russland gemacht. Doch diese wurden vom Kreml bislang ausgeschlagen. Nun hat Wladimir Putin erstmals Bereitschaft zu einem Gipfeltreffen mit US-Präsident Joe Biden zum Ukraine-Konflikt signalisiert. Zeitpunkt und Ort stehen aber noch nicht fest.
4. Aussage: Die Nato-Erweiterung der letzten 20 Jahre war eine Provokation gegenüber Russland.
Für Claudia Major, Verteidigungs- und Sicherheitsexpertin der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, ist diese Aussage Teil eines falschen "Framings". Nicht die Nato habe auf die Aufnahme osteuropäischer Staaten gedrängt, sondern umgekehrt. "Souveräne Staaten haben aus Sorge um ihre Sicherheit um den Beitritt zur Nato gebeten", sagt die Politologin: "Die Nato hat lange gezögert, diese aufzunehmen und es war intern umstritten."
Jeder Erweiterungsschritt sei zudem stets mit einem Schritt auf Russland zu flankiert worden. Als 1997 bei der ersten Nato-Osterweiterung Gespräche mit Polen, Ungarn und Tschechien für einen Beitritt aufgenommen wurden, wurde parallel dazu die Nato-Russland-Grundakte ausgehandelt. In ihr steht auch, dass in den künftigen mittel- und osteuropäischen Nato-Mitgliedern keine permanenten Kampftruppen stationiert werden. "Das war ein Zugeständnis an Russland", betont Major. Als 2002 die zweite Nato-Osterweiterung für einen Beitritt der baltischen Länder vorbereitet wurde, wurde der Nato-Russland-Rat ins Leben gerufen. Die Nato hat insgesamt nur zwei Räte dieser Art, einen mit Russland und einen mit Georgien.
"Dass Frau Wagenknecht die internationalen und US-amerikanischen Bemühungen um die Zukunft der Ukraine verächtlich als Kriegstreiberei hinstellt, während an der Grenze zur seit 2014 teilbesetzten Ukraine weit über 100.000 russische Soldaten stehen, demonstriert den Realitätsverlust mancher Politiker im extremen Spektrum", ergänzt CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt. "Die Ukrainer haben seit 2013 dafür gekämpft, ihre Demokratie gestalten zu dürfen." Hardt sieht in der ukrainischen Demokratie "die wahre Provokation für Putin".
Sicherheitsexpertin Major findet einen anderen Punkt noch zentraler: "Es geht um die Frage, ob souveräne Staaten frei ihre Bündnisse wählen dürfen oder ob Russland da ein Wörtchen mitzureden hat." Russland habe mit der Helsinki-Schlussakte oder der Charta von Paris mehrere Abkommen unterzeichnet, "in denen Prinzipien wie die Unverletzlichkeit von Grenzen, freie Bündniswahl und Souveränität verankert sind".
Wenn die Nato nun nicht deutlich mache, dass sie an diesen Prinzipien festhält, könne dies weitreichende Folgen haben, fürchtet Major: "China beobachtet genau, wie der Westen sich in dieser Situation verhält und mit welchen Folgen es selbst zu rechnen hätte, wenn es Taiwan angreifen würde."
5. Aussage: Hätte Putin wirklich in die Ukraine einmarschieren wollen, hätte es dafür schon genügend Anlässe gegeben.
Als Beispiel nannte Wagenknecht den Einsatz von Kampfdrohnen im Donbass durch die ukrainische Regierung gegen russische und prorussische Kämpfer im vergangenen Herbst. "Der Donbass ist völkerrechtlich ukrainisches Gebiet", sagt Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik. "Wenn die Ukraine dort Kampfdrohnen einsetzt, ist das also ein Einsatz im eigenen Land und keine 'Provokation' von Russland." Viel eher könne man umgekehrt argumentieren. Obwohl der Donbass ukrainisches Gebiet ist, ist inzwischen nachgewiesen, dass Russland sich dort an Kampfhandlungen beteiligt und diese unterstützt. "Nach dieser Logik hätte die Ukraine also permanent Anlass, in Russland einzumarschieren – das zeigt die Absurdität der Aussage", sagt Major.
6. Aussage: Die Nato gibt 18-mal so viel für Rüstung aus wie Russland.
Hier wäre zunächst einmal eine genauere Definition vonnöten. Was ist mit "Rüstung" gemeint? Vergleicht man die Verteidigungshaushalte, scheint das Argument zunächst zuzutreffen: So schätzte das Stockholm International Peace Research Institute die russischen Militärausgaben im Jahr 2020 auf 61,7 Milliarden Dollar, die der Nato-Mitglieder lagen im selben Jahr laut "Statista" bei über 1.000 Milliarden Dollar. Davon machte das Budget der USA allein 717 Milliarden Dollar aus.
Trotzdem sieht Verteidigungsexpertin Major darin einen Vergleich zwischen Äpfel und Birnen. "Ein großer Teil des amerikanischen Budgets fließt nicht in die US-Beteiligungen in der Nato. Die Nato hat seit 2014, als Reaktion auf die Annexion der Krim und um die eigenen Mitglieder verteidigen zu können, nicht mehr als 1.000 Mann in jedem baltischen Staat, Russland aber Truppen von 190.000 Mann an der Grenze zur Ukraine aufmarschieren lassen", sagt Major. "Diese Aussage unterstützt den Versuch Russlands, das Narrativ zu drehen und den Westen als Aggressor darzustellen. Das ist er aber nicht."
Der Münchner Sicherheitsexperte Masala weist noch auf einen anderen Aspekt hin: "Das Argument ist nicht von der Hand zu weisen, sagt aber nichts über die Einsatzfähigkeit der Nato-Truppen aus. Denn anders als Russland müssen 30 Staaten einem Nato-Handeln zustimmen, während in Russland diese Frage von einem Präsidenten entschieden wird." Noch wichtiger aber sei, dass die Russische Föderation ihre Streitkräfte seit 2008 modernisiert habe und vor allem im Bereich der Raketen und der unbemannten Systeme den meisten Nato-Staaten weitaus überlegen sei. "Kurzum: Es geht nicht darum, wer wie viel Geld ausgibt, sondern wofür", so Masala.
- Interview mit Carlo Masala, Institut für Politikwissenschaft, Universität der Bundeswehr München
- Interview mit Claudia Major, Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin
- schriftliche Anfrage an Roderich Kiesewetter, CDU-Bundestagsabgeordneter
- schriftliche Anfrage an Jürgen Hardt, CDU-Bundestagsabgeordneter
- Zahlen zu Militärausgaben von Statista