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Corona: "Karl Lauterbach könnte recht haben – oder völlig danebenliegen"


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Medizinstatistiker zur Covid-Datenlage
"Lauterbach könnte recht haben – oder völlig danebenliegen"

  • Annika Leister
InterviewVon Annika Leister

Aktualisiert am 06.01.2022Lesedauer: 6 Min.
Gesundheitsminister unter Zugzwang: Schafft es Karl Lauterbach das Corona-Datenchaos in den Behörden in den Griff zu bekommen?Vergrößern des Bildes
Gesundheitsminister unter Zugzwang: Schafft es Karl Lauterbach das Corona-Datenchaos in den Behörden in den Griff zu bekommen? (Quelle: getty-images-bilder)

Die von den Behörden erhobenen Infektionszahlen sind derzeit nicht aussagekräftig, die Datenlage in Deutschland ist insgesamt schlecht. Warum aber ist das so?

Bund und Länder kommen am Freitag zum Corona-Gipfel zusammen. Neue Beschlüsse stehen an – dabei betonen Bundesgesundheitsminister wie Robert Koch-Institut, dass die von den Behörden erhobenen Infektionszahlen derzeit nicht aussagekräftig sind. Warum ist das so – und ginge es auch anders?

Gerd Antes gilt als Experte der evidenzbasierten Medizin in Deutschland. Der Mathematiker und Medizinstatistiker war unter anderem Mitglied der Ständigen Impfkommission und saß in Gremien der Weltgesundheitsorganisation. Er war Vorstand der Cochrane Deutschland Stiftung, ein Netzwerk, das für eine verbesserte evidenzbasierte Gesundheitsversorgung arbeitet.

Im Oktober nahm Antes an der umstrittenen Aktion "Alles auf den Tisch" teil, im Dezember schrieb der 72-Jährige mit Wissenschaftlern wie Klaus Stöhr und Prominenten wie Jörg Thadeusz einen offenen Brief an die im Bundestag vertretenen Parteien. Ein Gespräch mit dem 72-Jährigen über fehlende Studien und kontroverse Kooperationen.

t-online: Herr Antes, zuletzt wurden mehr als 50.000 Neuinfektionen pro Tag gemeldet. Gesundheitsminister Lauterbach aber warnt: Die Dunkelziffer derzeit sei hoch, vermutlich lägen die Fallzahlen zwei bis dreimal höher. Könnte er mit dieser Einschätzung recht haben?

Gerd Antes: Damit könnte er recht haben – oder völlig danebenliegen. Mir ist unklar, auf welche Basis Lauterbach seine Aussage stützt. Das müsste man ihn fragen. Die Dunkelziffer aber ist ein Problem, das uns in dieser Pandemie schon lange begleitet. Zu Anfang wurde sie sogar noch wesentlich höher, von manchen sogar auf das bis zu 20-fache geschätzt. Nach wie vor wird aber nichts getan, um diesen Missstand zu beseitigen. Das ist unverständlich und beschämend.

An diesem Freitag werden Bund und Länder wieder zum Corona-Gipfel zusammenkommen. Beschlüsse werden auf Grundlage von dann vorliegenden Zahlen gefasst. Glauben Sie, dass die Zahlen der Behörden bis dahin wieder als Grundlage taugen, um politische Entscheidungen zu treffen?

Die Zahlen taugen dann keinesfalls. Wir werden die Dunkelziffer nicht erhellen können in wenigen Tagen. Wir schaffen das ja seit zwei Jahren nicht.

Wo liegen aus Ihrer Sicht die größten Probleme?

Wenn ich eine starke Zunahme von positiven Tests habe, ist sie in der Regel darauf zurückzuführen, dass sich wesentlich mehr Menschen testen lassen. Das lässt einen Rückschluss auf die Testrate zu, nicht aber darauf, wie sehr sich das Virus tatsächlich weiter verbreitet hat. Wir haben nach wie vor keinen Überblick über die Gesamtlage – und wir wissen nach wie vor nicht, wo genau eigentlich Übertragungen stattfinden. Sollen auf dieser Grundlage erneut Schulen, Klubs, Restaurants, ganze Branchen geschlossen werden, ist das unverantwortlich.

Ein Grund, warum die Zahlen zurzeit nicht valide sind, ist, dass viele Gesundheitsämter über die Feiertage keine Zahlen an das Robert Koch-Institut melden, sondern Urlaub machen. In Berlin beispielsweise haben von 12 Gesundheitsämtern am 1. Januar nur drei Ämter überhaupt Zahlen gemeldet.

Das ist nicht nachzuvollziehen. Die Feuerwehr stellt das Arbeiten am Wochenende auch nicht ein. Zu Recht hat Merkel die Pandemie als größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet. Mitten in der jetzigen Situation, in der wir auch noch mit einer rapiden Zunahme der Fälle rechnen, muss man unbedingt gegensteuern und Daten erheben.

Die Gesundheitsämter sind auch an anderer Stelle ein großes Problem: Sie verwenden nach wie vor nicht ein einheitliches Programm zur Erhebung der Fallzahlen. Manche verwenden weiter Survnet, andere Sormas, wieder andere eigene Programme – eine einfache, schnelle und einheitliche Datenübertragung gibt es damit nicht. Und mancher Amtsleiter ist auch noch stolz auf seinen Sonderweg. Das kann doch nicht sein, hier müsste die Politik bereits seit vielen Monaten eine funktionierende Einheitlichkeit herstellen. Genau das passiert aber nicht.

Wie ließe sich die Dunkelziffer ansonsten erhellen, das große Problem beheben?

Durch genau dafür geeignete Studien, insgesamt durch eine bessere Datenlage. Dazu aber scheint Deutschland nicht bereit oder nicht imstande.

Experten wie Christian Drosten loben Großbritannien in Bezug auf die Datenlage: Dort würden sehr umfassend und früh valide Daten mit dem Rest der Welt geteilt. Was macht Großbritannien besser, anders?

Großbritannien, aber auch Länder wie Neuseeland oder Australien sind sehr viel besser aufgestellt und arbeiten wesentlich transparenter und professioneller als Deutschland in der Datenanalyse bei der Pandemiebekämpfung. Dort gibt es über viele Jahre gewachsene Strukturen in den methodischen Wissenschaften, dort hat man ein grundlegend anderes Verhältnis zu Empirie und Quantifizierung. Die London School of Hygiene and Tropical Medicine wurde bereits 1899 gegründet, sie verfügt über einen großen, sehr qualifizierten Stab an Mitarbeitern, die in Teams genau zu diesen Themen arbeiten und mit beeindruckender Kontinuität den Komplex offener Fragen wissenschaftlich zu beantworten suchen.

In Deutschland konnte der erste akademische Abschluss in Epidemiologie erst circa im Jahr 2000 gemacht werden. In der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sind rund 300 Menschen angestellt, dort werden aber nicht einmal die laienverständlichen Aufklärungspapiere zu Corona in den relevanten Sprachen zur Verfügung gestellt. Wir sprechen von 100 Jahren Rückstand, eine ganze Kulturentwicklung, die so schnell nicht aufzuholen ist. Wir sind traditionell das Land der Dichter und Denker – in der Arbeit mit Daten ist das leider nicht hilfreich.

Wie müssen Studien aussehen, die tatsächlich helfen können? Was braucht es dazu?

Es müssten für solche Studien große Kohorten gebildet werden, zum Beispiel mit 40.000 bis 50.000 Menschen, in denen sich charakteristische, für die Pandemie relevante Kriterien wie Alter, Beruf, Sozialstatus und weitere wiederfinden. Eine solche Kohorte müsste ein Spiegel unserer Gesellschaft sein. Diese Menschen müssten langfristig verfolgt werden, ihre Daten in Bezug auf Corona zielgerichtet erfasst werden.

Geeignet wäre dafür zum Beispiel die Nako, die Nationale Kohortenstudie, für die circa 200.000 Menschen für die Untersuchung von weit verbreiteten Krankheiten wie zum Beispiel Herz-Kreislauf-Problemen eingeschlossen wurden. Diese Grundlage hätte leicht sehr frühzeitig dafür genutzt werden können, was jedoch unverständlicherweise nicht geschehen ist. Eine Überprüfung müsste endlich auch bei den staatlichen Eingriffen stattfinden.

Also zum Beispiel bei und nach Lockdown-Maßnahmen?

Ja, hier bräuchte es dringend Studien dazu, welche Maßnahme überhaupt geholfen haben. Waren geschlossene Schulen der ausschlaggebende Faktor? War es die geschlossene Gastronomie, die für eine Reduktion der Infektionszahlen gesorgt hat? Oder die Kontaktbeschränkungen im Privaten? Man kann das ermitteln – es wird in Deutschland jedoch auf sträfliche Weise vernachlässigt.

Inzidenz- und Hospitalisierungszahlen gehören inzwischen zum schnellen Tagesgeschäft, die Probleme sind bekannt: Verzögerungen beim Melden, eingeschränkte Datenauswertung. Großangelegte Studien könnten diese Werte nicht ersetzen. Was braucht es hier?

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Dafür könnten die Abrechnungsdaten der Krankenkassen zeitnah und anonymisiert ausgewertet werden. Man könnte hier auch rasch ergänzende Informationen gewinnen, die über Alter und weitere Basisdaten hinausgehen und für das Verständnis der Virusverbreitung wichtig sein könnten – zum Beispiel zu Berufsstand und Migrationshintergrund. Genauso wichtig: Risikofaktoren zu finden für die Schwere des Krankheitsverlaufs, für die Hospitalisierung und für die Gefahr, Intensivpatient zu werden.

Gibt es ein positives Beispiel in Deutschland?

Markus Söder hat früh in der Pandemie, noch 2020, in München mit dem Tropeninstitut eine repräsentative Studie gestartet. Dort sind Trupps von Forschern durch die Stadt gelaufen, haben nach einheitlichem Muster ausgewählte Haushalte angesprochen und sie um Teilnahme gebeten. Diese Leute haben ihr Blut gegeben, in einer Antikörperstudie wurde dann untersucht, ob sie bereits infiziert waren. Die Ergebnisse legen nahe, dass im Frühjahr 2020 in München viermal so viele Menschen mit dem Coronavirus infiziert waren als bisher angenommen. Eine wahnsinnig wichtige Erkenntnis, die die Dunkelziffer aufklärt. Ein anderes positives Beispiel ist Bremen mit seinem Spektrum an Maßnahmen, mit denen sie dort die weit überdurchschnittliche Impfquote erzielen.

Sie haben im Oktober bei "Alles auf den Tisch" mitgemacht, die Folgeaktion von "Alles dicht machen". Dort forderten mehr als 100 Künstler, Wissenschaftler und Prominente einen runden Tisch und mehr Transparenz in der Corona-Krise. Gestartet wurde die Aktion von Schauspieler Volker Bruch, der Verbindungen zum "Querdenker"-Milieu hat. Warum haben Sie sich an der Aktion beteiligt?

Mich stört die völlige Kritiklosigkeit angesichts des inkompetenten Verhaltens, das seit eineinhalb Jahren bei Politik und Behörden festzustellen ist. Wer sich dieser Kritiklosigkeit nicht anschließt, gerät schnell ins Fadenkreuz von Moralisten, die ihre eigenen Bewertungen zum Maßstab aller Dinge machen. Es gibt eine Asymmetrie in der öffentlichen Diskussion, eine zunehmende Lagerbildung.

Kritiker würden sagen: Gerade solche Aktionen fördern die Lagerbildung. Warum auch unter einem gemeinsamen Etikett mit Personen aus dem "Querdenker"-Milieu auftreten? Sie als renommierter Experte können Ihre Meinung auch anders äußern – zum Beispiel hier.

Ja, kann ich, aber soll ich mir jetzt – wie auch hier in diesem Interview – vorschreiben lassen, wo ich mich äußern darf? Wenn von 100 Menschen drei oder auch fünf sich in einer Form äußern, die ich nicht unterschreiben würde, diskreditiert das für mich dennoch nicht die Aktion an sich. Die Vielfalt spiegelt die Meinungsvielfalt in der Gesellschaft wider. Wenn ich noch ein Grundverständnis von Demokratie habe, dann ist die heftige Reaktion auf solche Aktionen damit völlig unvereinbar.

Verwendete Quellen
  • Telefoninterview mit Gerd Antes
  • Offener Brief an die Parteien im Bundestag
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