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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Rettung aus Afghanistan Woran scheitern die deutschen Versprechen?
Die Taliban zeigen in Afghanistan ihr wahres Gesicht, drohen und morden. Deutschland verspricht, weitere Menschen zu retten – aber es geht nur schleppend voran.
Frauen werden mit Peitschen geschlagen, dürfen keinen Sport mehr machen. Die Taliban setzen in Afghanistan Schritt für Schritt ihre radikal-religiösen Regeln durch – und machen mittlerweile auch bei den Protesten in der Hauptstadt kurzen Prozess: Die Demonstranten werden gewaltsam vertrieben, kurz darauf wurden Proteste vom Innenministerium verboten. Immer mehr Menschen vor Ort berichten von Verfolgungen, Drohungen und Morden der Taliban gegen Familien, die der afghanischen Regierung, der Armee oder der westlichen Koalition nahestanden.
Nach dem Abzug der westlichen Allianz haben Staaten wie Deutschland deshalb versprochen, auch weiterhin gefährdete Menschen zu retten und ihnen Asyl zu gewähren. Doch Recherchen von t-online zeigen: Viele Menschen warten bis heute vergebens auf eine Nachricht von deutschen Behörden, sie fühlen sich vergessen und im Stich gelassen. Eine Flucht aus dem Land ist für sie teilweise nicht möglich, weil sie keine Visa haben.
Hat Deutschland leere Versprechen gegeben? Manche Kritiker werfen der Bundesregierung gar vor, die Rettungen aus Afghanistan mutwillig zu verschleppen.
Viele Afghanen hängen im Land fest
Als am 15. August die Taliban Kabul einnahmen, war der Aufschrei in Deutschland groß – eilig einberufene Pressekonferenzen und das Versprechen: Wir retten unsere Ortskräfte und darüber hinaus diejenigen, die für die Vision einer liberalen afghanischen Gesellschaft gearbeitet haben. Vier Wochen ist das nun her. Die Bundeswehr hat etwas mehr als 5.300 Menschen ausgeflogen, insgesamt wurden über die Luftbrücke mehr als 122.000 Menschen außer Landes gebracht.
Doch seitdem die Bundeswehr ihre Missionen eingestellt hat, hängen viele Menschen im Land fest. Am 31. August meldeten die Friedrich-Ebert-Stiftung und die Konrad-Adenauer-Stiftung, dass afghanische Mitarbeiter der beiden Organisationen mit Familienangehörigen sicher nach Pakistan ausreisen konnten, um von dort weiter nach Deutschland geflogen zu werden – insgesamt etwa 100 Menschen.
Am vergangenen Donnerstag verkündete das Auswärtige Amt, dass "eine erste Gruppe von 15 deutschen Staatsangehörigen" mithilfe von Katar ausgeflogen wurde. Über weitere geregelte Ausreisen finden sich jedoch keine Hinweise, das Auswärtige Amt beantwortete eine entsprechende Anfrage von t-online nicht.
"Leute bekommen Todesurteile zugestellt"
"Sechs Leute, die auf Listen des Auswärtigen Amts standen, sind schon tot, mehrere wurden gekidnappt oder haben Todesurteile zugestellt bekommen", sagt Erik Marquardt, Grünen-Politiker im Europaparlament. Er setzt sich mit der Organisation “Kabul Luftbrücke” für weitere Evakuierungen ein und hat bereits selbst welche durchgeführt.
Als t-online ihn vergangene Woche an einem späten Nachmittag erreicht, ist es bereits Marquardts 66. Telefongespräch. Den gesamten Tag telefoniert er sich durch die Behörden, drängt darauf, dass die Evakuierungen weitergehen müssen. Sein Fazit: "Die Bundesregierung hat ihr Versprechen gebrochen, den Schutzsuchenden zu helfen, die sie selbst auf die Listen gesetzt hat."
Seit Wochen erreichen viele deutsche Staatsbürger und Ortskräfte bei den deutschen Behörden niemanden mehr, so Marquardt, dessen Organisation mit vielen vor Ort in Kontakt steht. Die meisten wüssten nicht einmal, ob sie noch evakuiert werden oder auf sich allein gestellt sind. Auch in Afghanistan verbliebene Ortskräfte bestätigen das gegenüber t-online.
Marquardt sagt: Die Kabul-Luftbrücke könnte sofort bei den Evakuierungen helfen. "Wir haben mit Hunderten Menschen Kontakt und könnten jederzeit weitermachen." Allerdings fehlten noch immer die notwendigen Papiere. Sein Vorwurf: "Die Bundesregierung hält ihre bürokratische Blockadehaltung aufrecht. Vielleicht ist ihnen nicht bewusst, dass sie damit Menschenleben opfern."
Doch woran scheitert das Versprechen der Bundesregierung?
Grund 1: Unklarheit darüber, wen man retten möchte
Die Bundesregierung hat vor allem den Menschen Hilfe versprochen, die einen Deutschlandbezug haben. Es geht demnach prioritär um Ortskräfte, die für die Bundeswehr, deutsche Behörden oder Unternehmen tätig waren. Wenn sie an das Auswärtige Amt schreiben, ihre Gefährdungslage schildern, haben sie und ihre Familien das Recht auf ein deutsches Visum.
Diese Praxis bringt zahlreiche Probleme mit sich: Das deutsche Konzept der Kernfamilie ist für Afghanistan nicht anwendbar, oft leben unverheiratete Frauen in Haushalten mit ihren Brüdern und ihren Familien zusammen. Erst während der Bundeswehrmission lockerte man die Regel für unverheiratete Töchter – weil ihnen die Zwangsheirat droht. Ganze Familien werden von den Taliban bedroht, und eben nicht nur der Ehepartner oder die Kinder.
Eine politische Lösung für gefährdete Menschen, die aus diesem Raster fallen, gibt es nicht mehr – im Gegenteil: Man ignoriert das Problem. Zwar ließen die Ministerien verlauten, besonders gefährdeten Afghanen in Deutschland Schutz gewähren zu wollen. Allerdings endete die "Anmeldefrist" dafür bereits mit Ende der Bundeswehrmission.
Grund 2: Wohin mit den Geretteten?
Das Scheitern der westlichen Koalition in Afghanistan ging nach dem Ende der Luftbrücke in die nächste Runde. Außenminister Heiko Maas (SPD) reiste in die Region, um mit den Führungen der Nachbarländer über Geflüchtete zu verhandeln. Doch schnell wurde klar: Weder Iran noch Pakistan oder Usbekistan sind bereit, größere Mengen an Geflüchteten aufzunehmen. Die Idee des Westens, man könne die Nachbarländer finanziell unterstützen, damit diese möglichst vielen Afghanen Schutz bieten, droht zu scheitern.
Einerseits sind viele Länder in der Region wirtschaftlich angeschlagen, andererseits wollen sich aktuell viele Regime aus wirtschafts- und sicherheitspolitischen Erwägungen mit den Taliban gut stellen. Man würde zwar Flüchtlingen den Grenzübertritt erlauben, aber nur, wenn diese dann direkt in Drittländer weiterreisen. Die Aktivisten von Luftbrücke Kabul sehen hier die Möglichkeit, die Menschen schnell außer Landes zu bringen – und verstehen nicht, warum der Weg nicht genutzt wird. "Wenn die deutsche Bundesregierung also wirklich weiter die Menschen auf ihren Listen evakuieren möchte, dann könnte sie längst beginnen", sagt Marquardt.
Das bringt die Bundesregierung in ein Dilemma. Auch viele andere Länder der Europäischen Union möchten keine Geflüchteten aus Afghanistan aufnehmen. Nachdem Maas unter anderem in Pakistan auf Granit gebissen hatte, liefen auch die Gespräche zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihrem österreichischen Amtskollegen Sebastian Kurz in eine Sackgasse. Österreich, aber auch Ungarn und Slowenien haben bereits einer europäischen Lösung für die Aufnahme von Afghanen eine Absage erteilt. Deutschland wiederum möchte nicht allein nach vorne preschen.
Grund 3: Die Mühlen der Bürokratie mahlen langsam
Es gibt große Ungewissheit darüber, wie und ob überhaupt Afghanen das Land verlassen können. Menschen sind in Lebensgefahr, sie sind panisch und warten auf klare Ansagen der Länder, die ihnen eine Rettung in Aussicht gestellt haben. Um ausreisen zu können, brauchen die Menschen Visa. Viele aber erhielten bislang nicht einmal eine Antwort auf ihre E-Mails.
Das führt zu großer Verunsicherung unter vielen Afghanen: Die einen verstecken sich in Wohnungen vor den Taliban, weil sie denken, dass sie an der Grenze ohne Visum abgewiesen werden. Andere begeben sich aus Verzweiflung auf eine Flucht, ohne jegliche Rückversicherung.
t-online sprach mit ehemaligen deutschen Ortskräften und ihren Angehörigen. Oft stehen sie nach eigenen Angaben schon auf Evakuierungslisten, die von ganz unterschiedlichen Stellen gesammelt und an das Auswärtige Amt weitergegeben werden. Oft bekamen sie auf ihre Hilfegesuche jedoch noch keine oder nur eine automatisch generierte Antwort. Manche bekamen Anrufe aus Deutschland mit dem Versprechen, dass man sie bald aus Afghanistan herausholen wolle. Doch diese Hoffnung wurden immer wieder enttäuscht – passiert ist bei ihnen bislang nichts.
Dabei läuft vor allem die Vergabe von Visa schleppend. Es gab eine immense Anzahl von Gesuchen, die das Auswärtige Amt abarbeiten muss – die Behörde ist für die Vergabe der Visa und die Kontaktierung der Menschen zuständig.
Doch wo stockt es nun konkret in diesem Prozess? Das bleibt unklar. Klar ist, dass das Auswärtige Amt (AA) und das Innenministerium (BMI) dabei eng zusammenarbeiten müssen. Das AA stellt die Visa aus, zuvor müssen die Antragsteller allerdings eine Sicherheitsüberprüfung durch das BMI durchlaufen. Es steht nicht fest, wo sich auf diesem Weg die Fälle aufstauen und warum die Menschen nicht kontaktiert werden. Auf mehrfache Anfrage von t-online gaben beide Ministerien darüber keine Auskunft.
Vorwürfe gegen Seehofer
Dass es aber offenbar erhebliche Koordinierungsschwierigkeiten zwischen dem Innenministerium und dem Auswärtigen Amt gibt, zeigt auch eine Recherche der "Bild". Mehr als 100 Menschen, die von den USA nach Ramstein geflogen wurden, hatten eine Einreisezusage des Auswärtigen Amts. Das Ministerium hatte diese nach eigenen Angaben an das Innenministerium weitergeleitet. Dort aber will man diese Listen nie erhalten haben.
Das Resultat: Die Afghanen konnten die Militärbasis zuerst nicht verlassen. Mehrere wurden gegen ihren Willen ausgeflogen, etwa nach Spanien oder in die USA. Andere konnten vergangene Woche endlich nach Deutschland einreisen, mussten aber erneut Asyl beantragen.
Kritiker wie Grünen-Politiker Marquardt machen für die schleppende Visavergabe vor allem das Innenministerium und Horst Seehofer verantwortlich. "Man hat das Gefühl, dass es dem Innenministerium mehr um Migrationsabwehr geht, als darum, den Ortskräften und anderen gefährdeten Menschen zu helfen", sagt etwa Marquardt. Viele Kritiker vermuten einen Zusammenhang mit der Bundestagswahl. Das Innenministerium nahm zu den Vorwürfen keine Stellung.
Hoffnung auf Einigung mit Taliban
Noch besteht die Hoffnung, mit den Taliban eine Einigung zu finden. Nachdem Botschafter Markus Potzel in Doha mit Teilen der Taliban-Führung verhandelt hat, fanden die Islamisten immer wieder warme Worte für Deutschland. Deshalb gibt es in Kreisen der Bundesregierung die Auffassung, dass man erst einmal abwarten könne, wie die Taliban sich nun verhalten. Vielleicht ließen sich die Fluchtbewegungen diplomatisch verhindern.
Die Hoffnungen auf gemäßigte Taliban scheinen sich allerdings schon jetzt zu zerschlagen. Die Taliban würden zwar gern deutsche Hilfsgelder nehmen, der Bundesregierung dafür aber nicht den gewünschten Einfluss gewähren. Gegenüber der internationalen Gemeinschaft geben sich die Islamisten zwar gemäßigt, aber Priorität hat für sie die Festigung ihrer Macht und die Errichtung eines Staates nach ihrem religiös-ideologischen Verständnis.
Ende August hatte das Auswärtige Amt die Zahl derjenigen, die noch in Deutschland aufgenommen werden sollen, auf 40.000 Menschen beziffert, darunter Ortskräfte, deren Familien, Menschenrechtsaktivisten und Frauenrechtlerinnen. In den vergangenen zwei Wochen wurden – nach aktuellem Kenntnisstand – 115 Menschen evakuiert. Ginge es in diesem Tempo weiter, wären die letzten Evakuierungen im Jahr 2034 abgeschlossen.
- Eigene Recherche
- Gespräche mit Aktivisten, darunter Erik Marquardt
- Gespräche mit afghanischen Ortskräften und anderen gefährdeten Personen in Afghanistan
- Anfragen an das Auswärtige Amt und Bundesinnenministerium
- Bild: Flüchtlinge hatten schon in Kabul Aufnahme-Zusage
- Süddeutsche Zeitung: Wie Bürokratie das Ausfliegen von Ortskräften verhinderte
- Blick: Flugzeuge in Kabul heben leer ab!
- Auswärtiges Amt: Pressemitteilungen und Frage-und-Antwort-Stück
- BMZ: Aktuelle Informationen für afghanische Ortskräfte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit
- BMI: Pressemitteilungen