Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Forscher zur Wahl "Das Spannende kommt noch"
Ist die Wahl schon gelaufen? Was macht die SPD derzeit so attraktiv? Und was bringen Schmähkampagnen in Deutschland? Ein Meinungsforscher hat deutliche Antworten parat.
Fast täglich sind derzeit neue Umfragewerte in den Schlagzeilen. Am heutigen Dienstag rutscht die Union erstmals unter die 20-Prozent-Marke. Ein historisch schlechtes Ergebnis für CDU und CSU. Die SPD holt derweil weiter auf. Aber was sagt diese Momentaufnahme überhaupt aus?
Das Sozialforschungsinstitut Insa-Consulere erstellt unter anderem für die "Bild" den Insa-Meinungstrend. Geschäftsführer Hermann Binkert, ein früherer CDU-Politiker, kennt sich deshalb mit den aktuellen Zahlen aus. Im Interview mit t-online erklärt der Experte, wie die Umfragen einzuschätzen sind und was man vom Wahlkampf zwischen Nixon und Kennedy in den USA noch heute lernen könnte.
t-online: Herr Binkert, im Moment gibt es ständig neue Umfragen. Bilden die eigentlich nur die aktuelle Stimmung ab – oder machen sie auch Stimmung?
Hermann Binkert: Umfragen beeinflussen durchaus die Wahlabsichten. Das ist aber nichts Negatives, denn viele Wähler wählen strategisch. Sie achten also darauf, welche Koalitionsmöglichkeiten es gibt. Dafür sind Umfragen sehr sinnvoll.
Trotzdem gibt es immer wieder den Vorwurf, dass auch die Umfrageinstitute bewusst Schlagzeilen machen wollen, etwa indem sie aus den Rohdaten eine sogenannte Projektion ableiten. Wie das genau funktioniert, bleibt aber unklar.
Für mein Institut kann ich das ausschließen. Ich halte nichts davon, aus den erhobenen Zahlen eine Prognose zu machen. Denn das bedeutet viel zu viel Unsicherheit. Wir spiegeln lediglich den Moment der Erhebung wider. Es wäre auch pauschal schwer zu sagen, wen eine Umfrage begünstigen könnte. Manche Wähler versuchen, eine abgeschlagene Partei zu stärken, aber die meisten treibt am Ende etwas sehr Menschliches an: Sie wollen zum "Siegerteam" gehören.
Ist der rasante Aufstieg der SPD die Folge beider Entwicklungen?
Die SPD hatte schon immer das größte Wählerpotenzial aller Parteien. Das wurde nur in den "Sonntagsfragen" nie abgebildet. Interessant ist aber: Bei der Frage, welche Partei sie auf keinen Fall wählen würden, haben nur ganz wenige die Sozialdemokraten genannt. Die SPD war für viele Menschen also immer eine Option. Und die scheint derzeit auch deshalb so attraktiv zu sein, weil Olaf Scholz von der Schwäche seiner Mitbewerber profitieren kann.
Inwiefern beeinflussen die Umfragen denn die strategischen Wahlkampfentscheidungen der Parteien?
Die Parteien richten sich natürlich nach der Stimmung. Aber wirklich entscheidend für die Meinungsbildung sind die Medien. Auch wenn es mehr als 60 Jahre her ist: Die TV-Debatte zwischen John F. Kennedy und Richard Nixon von 1960 ist noch immer ein sehr gutes Beispiel. Menschen, die sie im Radio gehört hatten, sagten Nixon habe gewonnen. Aber Fernsehzuschauer fanden Kennedy besser ...
... unter anderem, weil Nixon so geschwitzt hat.
Er ist auch noch über ein Kabel gestolpert.
Es gibt ja auch ziemlich hypothetische Umfragen. Ein "Kanzlerkandidat" Markus Söder hat es kürzlich in einer Umfrage auf 36 Prozent Zustimmung gebracht – deutlich mehr als Olaf Scholz. Ein Glück für den SPD-Mann: Denn Söder ist nicht Kanzlerkandidat.
Auch für solche Umfragen gibt's offensichtlich Interesse. Denn sie zeigen ja, dass Söder vermutlich der stärkere Kandidat als Armin Laschet gewesen wäre. Und es sind insbesondere die Politiker, die wissen wollen, dass sie beliebt sind oder wie sehr.
Was wäre der Effekt, wenn die Union den Kanzlerkandidaten tauschen würde – oder wenn die Grünen statt Annalena Baerbock Robert Habeck aufgestellt hätten?
Wir sind Meinungsforscher, keine Propheten. Wir versuchen uns eher am Spiegeln der Wirklichkeit als am Spekulieren über Szenarien. Ich glaube auch nicht, dass Union oder Grüne den Schritt jetzt noch wagen. Und falls doch: Dann machen wir natürlich neue Umfragen.
Das öffentliche Bild von Laschet und Baerbock ist eher schlecht. Wohl auch, weil es regelrechte Schmähkampagnen gibt. Haben die einen messbaren Effekt?
Keinen unmittelbaren. Aber so entstehen natürlich Vorurteile – und die bleiben im Hinterkopf. Passiert dann etwas Entsprechendes, kann das alles hochkommen. Wäre bei Laschet bis Mitte Juli alles gut gelaufen, hätte etwa sein Lachen im Flutgebiet niemals eine solche negative Wirkung gehabt. Deswegen sollte man im Wahlkampf eher nicht passiv bleiben. Man muss immer aktiv die Leute von sich selbst überzeugen.
In Deutschland sind solche Schmähkampagnen ohnehin nicht so weit verbreitet wie etwa in den USA. Woran liegt das?
Wenn man weiß, dass man sich hinterher für Koalitionsgespräche gemeinsam an einen Tisch setzen muss, sorgt das dafür, dass alles ein wenig gesitteter abläuft. Wir haben auch ein anderes Wahlrecht. Bei uns ist alles mehr auf Konsens ausgelegt.
In diesem Jahr werden vermutlich so viele Menschen Briefwahl machen wie noch nie. Die hat aber längst angefangen. Ist die Bundestagswahl also vielleicht längst gelaufen? Und alle Umfragen, Artikel und Trielle finden eigentlich vor weitgehend leeren Rängen statt?
Briefwähler wollen früh wählen. In diesem Jahr sind sich drei Viertel der Wähler bereits recht sicher, wem sie ihre Stimme geben. Es geht im Endeffekt maximal um jeden Vierten, der noch schwankt.
Das heißt, Sie wagen keine Prognose über den Ausgang?
Nur eine: Das Spannende kommt noch. Beide, Armin Laschet und Olaf Scholz, können Kanzler werden. Es kommt auf das Bündnis an, das sich zusammenfindet.
- Telefon-Interview mit Hermann Binkert