Grünen-Parteitag Grüne bestätigen Baerbock als Kanzlerkandidatin
Berlin (dpa) - Die Grünen haben Annalena Baerbock mit überwältigender Mehrheit als Kanzlerkandidatin bestätigt. Zugleich bekräftigten 678 von 688 Online-Delegierten am Samstag die Rolle der beiden Parteichefs Baerbock und Robert Habeck als Wahlkampf-Spitzenduo - das entspricht 98,55 Prozent der abgegebenen Stimmen.
Über beide Punkte entschieden die Delegierten in einer einzigen Abstimmung. Zum Vergleich: Bei ihrer Wahl als Parteivorsitzende 2019 hatte Baerbock 97,1 Prozent der Stimmen erhalten, Habeck 90,4 Prozent.
In ihrer Rede nach der Wahl zur ersten Grünen-Kanzlerkandidatin versuchte Baerbock gezielt, auch Menschen jenseits der Grünen-Stammwählerschaft anzusprechen. Wenn sie "Wir" sage, seien damit nicht nur die Mitglieder der eigenen Partei gemeint, sondern "mit "Wir" meine ich jeden Bürger und jede Bürgerin", betonte Baerbock. Mit Mut, "Erfindergeist, Solidarität und Vielfalt" lasse sich eine Veränderung gestalten, die Halt geben könne in der Zukunft. "Über all dem steht die große Aufgabe unserer Zeit, das Abwenden der Klimakrise", fügte sie hinzu. Die Sorgen, die gerade im Osten viele Menschen beschäftigten, die in ihrem Leben schon sehr viel Veränderung erlebt hätten, "diese nehme ich sehr ernst". Was sie nicht akzeptieren könne, sei dagegen, dass die Union vor allem dann wenn es um mehr Klimaschutz gehe, mit sozialen Argumenten komme.
Die Grünen gehen mit einem Programm in den Bundestagswahlkampf, das auf mehr sozialen Ausgleich setzt. Maximalpositionen wie die Einführung der 30-Stunden-Woche fanden am zweiten Tag des digitalen Parteitages keine Mehrheit. In einem ersten Schritt wollen die Grünen die Hartz-IV-Regelsätze um mindestens 50 Euro anheben. Mittelfristig solle Hartz IV "überwunden" und durch eine sogenannte Garantiesicherung abgelöst werden, die ohne "bürokratische Sanktionen" gewährt werden solle.
Außerdem beschlossen die Grünen die Forderung nach einer Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro. Ein Antrag aus den Reihen der Delegierten, 13 Euro als Ziel ins Wahlprogramm zu schreiben, wurde abgelehnt. Bundesgeschäftsführer Michael Kellner hatte betont, die Grünen seien mit den zwölf Euro "in einem sehr breiten Bündnis mit den Gewerkschaften". Diese Allianz sollte man nicht gefährden. Die derzeitige Lohnuntergrenze liegt bei 9,50 Euro und steigt ab Juli auf 9,60 Euro. Nach bisheriger Rechtslage soll der Mindestlohn dann zum 1. Juli 2022 bei brutto 10,45 Euro liegen. Dann soll er durch die Mindestlohnkommission aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern weiter an die Tariflohn-Entwicklung angepasst werden.
In fast in allen Punkten konnte sich der Grünen-Bundesvorstand mit seinen Vorschlägen durchsetzen. Beim Rentenniveau folgte ihm die Mehrheit in einer Detailfrage nicht. Deshalb heißt es im Programm jetzt: "Die langfristige Sicherung des Rentenniveaus bei mindestens 48 Prozent hat für uns hohe Priorität." Der Vorstand hatte in seinem Entwurf hier nur eine Sicherung von 48 Prozent - ohne den Zusatz "mindestens" - vorgesehen.
Mit großer Mehrheit sprachen sich die rund 800 Delegierten für mehr Investitionen in Bildung und Forschung aus. Sie stimmten klar und ohne Kampfabstimmungen für mehr finanzielle Unterstützung in Kitas, Schulen und in der Berufsausbildung sowie für einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung. Staat und Unternehmen sollten bis 2025 mindestens 3,5 Prozent der Wirtschaftsleistung in Forschung und Entwicklung investieren. Perspektivisch sollen die Investitionen weiter steigen.
Die grüne Spitzenkandidatin für die Abgeordnetenhauswahl in Berlin, Bettina Jarasch, wandte sich mit einem Appell für mehr Bildungsgerechtigkeit an die Delegierten. Die Corona-Pandemie sei "keine gute Zeit für Kinder und Jugendliche" gewesen, sagte Jarasch. Bildungsrückstände müssten dringend aufgeholt werden, erklärte die Grünen-Politikerin. Außerdem müsse es für Familien mehr kostenlose Kulturangebote geben, etwa freie Zoo-, Schwimmbad- und Museumsbesuche. Mehr Gerechtigkeit in der Bildung bedeute etwa auch, das Bafög für Auszubildende und Studenten auszuweiten.
Im Umgang mit autoritären Regimen seien "Dialog und Härte" notwendig, sagte Baerbock. Über ihre Positionierung in außenpolitischen Fragen wollten die Delegierten am Sonntag entscheiden.
Nach Baerbocks Nominierung im April hatten sich die Grünen zunächst über ein Umfragehoch freuen können. In der Sonntagsfrage kamen sie auf bis zu 28 Prozent und lagen teilweise sogar vor der Union, die zu diesem Zeitpunkt mit der Maskenaffäre und dem Führungsstreit zwischen CDU-Chef Armin Laschet und dem CSU-Vorsitzenden Markus Söder zu kämpfen hatte.
Seit dreieinhalb Wochen jedoch belasten eigene Fehler die Grünen. Zuerst wurde bekannt, dass Baerbock Sonderzahlungen an den Bundestag nachmeldete. Dann gab es Kritik, weil sie und ihre Partei mehrmals irreführende Angaben im Lebenslauf von Baerbock korrigieren mussten. Habeck wiederum sorgte mit Forderungen nach der Lieferung von "Defensivwaffen" an die Ukraine für Verwirrung. Auch die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt, wo die Grünen sich nur leicht auf 5,9 Prozent verbessern konnten, lieferte keinen neuen Schwung.
In Umfragen stürzten die Grünen zuletzt ab, während die Union als Spitzenreiter den Abstand vergrößern konnte. Die Forschungsgruppe Wahlen sieht CDU/CSU im Donnerstag veröffentlichten ZDF-Politbarometer bei 28 Prozent und die Grünen bei 22 Prozent. Der ebenfalls am Donnerstag veröffentlichte ARD-Deutschlandtrend platziert die Union ebenfalls bei 28 Prozent und die Grünen bei 20 Prozent.