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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Politik in der Corona-Krise Der Wirklichkeitsverlust
Der jüngste Corona-Gipfel zeigt: Die Politik des Kompromisses ist endgültig an ihre Grenzen gekommen. Das liegt nicht am fehlenden Willen von Bund und Ländern, sondern an etwas viel Gefährlicherem.
Die Pressekonferenz nach dem Bund-Länder-Treffen ist fast vorbei, da wird Markus Söders finstere Miene zum Politikum. "Sie machen ja ein Gesicht heute, als wenn Sie aus fünf Tagen Wintersturm kommen", sagt ein Journalist. Ob er, Söder, vielleicht befürchte, dass er sich mit seinem vorsichtigen Kurs heute nicht stark genug durchgesetzt habe und das in vier Wochen an gleicher Stelle bereuen werde?
Söder, selten um einen Scherz verlegen, winkt dieses Mal ab. "Ich wundere mich, dass Sie sich über mein Gesicht solche Sorgen machen, freue mich aber, dass Sie das genau beobachten", sagt der bayerische Ministerpräsident. Man habe eben einen sehr schweren Winter. Außerdem könne er ja nicht vor sich hin lächeln, die Lage der Pandemie sei ernst. Und außerdem glaube er schon, dass sich sein vorsichtiger Kurs durchgesetzt habe.
Was man als Politiker eben so sagt nach schwierigen Verhandlungen.
Für die einen wird der Lockdown ein bisschen verlängert. Für die anderen gibt es ein bisschen Hoffnung mit einem ersten festen Lockerungsschritt. Und obendrauf gibt es für alle noch eine schöne Haarfrisur.
Da müsste doch für jeden was dabei sein. Oder nicht?
Doch der Jubel will sich nicht einstellen nach dieser Bund-Länder-Runde. Stattdessen lässt der Kompromiss viele Menschen sehr unzufrieden zurück. Mehr als sonst bei den ohnehin immer schwierigen Corona-Kompromissen.
Schuld daran ist nicht der fehlende Wille zum guten Kompromiss. Schuld ist die Wirklichkeit der Pandemie. Oder besser gesagt: die unterschiedlichen Vorstellungen davon, was man eigentlich als Wirklichkeit akzeptiert.
Gute und schlechte Kompromisse
Politik machen bedeutet Kompromisse schmieden, also immer wieder sehr gegensätzliche Haltungen in möglichst einvernehmliche Entscheidungen verwandeln. Ein guter Kompromiss schafft es, dass niemand so ganz zufrieden ist, aber alle möglichst ein bisschen.
Die deutsche Politik bekommt das oft ziemlich gut hin: immer dann, wenn niemand so richtig laut über Entscheidungen meckert und es deshalb auch niemand so richtig mitbekommt. Bei der jüngsten Bund-Länder-Runde ist die Politik der Kompromisse allerdings an ihre Grenzen geraten. Und das zeigt sich nicht nur daran, dass es bei Kitas und Grundschulen schlicht keinen mehr gibt.
Ein guter Kompromiss ist am Mittwoch nicht etwa daran gescheitert, dass die Wirklichkeit der Pandemie auf einmal viel komplizierter geworden wäre und Kompromisse deshalb schwieriger. Wie Pandemie geht, ist nach einem Jahr bekannt. Sollte es zumindest sein.
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Es ist eher so, dass ein guter Kompromiss kaum möglich war, weil sich Bund und Länder nicht mal mehr darauf verständigen können, was die Wirklichkeit der Pandemie eigentlich ist. Und was damit Grundlage für eine Entscheidung sein muss.
Die zwei Wirklichkeiten der Pandemie
Es gibt Politiker, für die ist die Wirklichkeit der Pandemie das, was sie sehen können, und zwar jetzt, in diesem Moment. In den Krankenhäusern und Altenheimen, oder in ihrem täglichen Bericht mit den aktuellen Corona-Zahlen. Wie viele Neuinfektionen? Wie viele Intensivpatienten? Wie viele Tote?
Schwarz auf weiß.
Und es gibt Politiker, für die ist die Wirklichkeit der Pandemie auch das, was Forscher in Modellrechnungen erarbeiten, in bunten Kurven, die die Corona-Zukunft zeigen sollen. In verschiedenen Szenarien zwar, je nachdem, mit welchen Einschränkungen gerechnet wird, vereinfacht und mit Unsicherheiten behaftet. Aber in der Corona-Vergangenheit eben doch meistens ziemlich zutreffend.
Die einen rechnen mit dem schlimmsten. Die anderen hoffen, dass es so schlimm schon nicht kommt.
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Es ist kein ganz neues Phänomen, dass sich die Vorstellungen davon, was die Wirklichkeit der Pandemie ist, in den Bund-Länder-Runden unterscheiden. Man merkt das, wenn man mit verschiedenen Ministerpräsidenten spricht. So wie es die Virologin Melanie Brinkmann getan hat, die in einer früheren Sitzung als Expertin eingeladen war.
Einige der Politiker seien unzufrieden gewesen, erzählte Brinkmann kürzlich dem "Spiegel", weil kein Wissenschaftler exakte Zahlen zur Zukunft habe liefern können. "Unser größtes Problem ist, dass einige aus der Politik zuerst mal sehen wollen, ob es wirklich so schlimm kommt wie vorhergesagt." Schwarz auf weiß eben.
Die verschiedenen Wirklichkeiten sind so problematisch wie nie
Die zwei verschiedenen Wirklichkeiten der Pandemie hatten schon in der Vergangenheit ganz konkrete Auswirkungen auf die Politik. Im Herbst etwa, als die Schwarz-auf-weiß-Zahlen der Gegenwart noch langsam anstiegen und die der Modellrechnungen für die Zukunft schon sehr viel schneller. Herausgekommen ist damals der Lockdown light, den selbst viele Politiker inzwischen als Fehler bezeichnen.
Zu wenig, zu lasch. Weil die Schwarz-auf-weiß-Wirklichkeit eben noch viel besser war als die Modellrechnungs-Wirklichkeit. Und die nötige harte Reaktion deshalb erst Mitte Dezember folgte.
Diesmal aber liegen die zwei Wirklichkeiten noch viel weiter auseinander als damals. In der Schwarz-auf-weiß-Wirklichkeit gibt es Corona-Zahlen, die seit Wochen fast deutschlandweit sinken. In der Modellrechnungs-Wirklichkeit aber gibt es bunte Kurven, die wegen der sich schneller ausbreitenden britischen Corona-Mutation selbst dann wieder deutlich ansteigen, wenn der Lockdown so bliebe, wie er ist.
Die Wirklichkeiten liegen so weit auseinander wie noch nie. Und das macht einen guten Kompromiss so schwierig wie noch nie.
Enttäuschung allüberall
Das ist nicht nur für die Entscheidungsfindung der Politiker ein Problem, sondern eben auch für die Frustrationen der Menschen. Denn es gibt ja auch in der Bevölkerung die Anhänger der zwei verschiedenen Wirklichkeiten. Menschen, die Lockerungen wollen, weil die Zahlen sinken. Aber eben auch Menschen, die den Lockdown wollen, zum Teil sogar schärfer, weil es da eben diese Mutanten gibt.
Die Befürworter von Lockerungen sind dabei laut, sie haben mit einigen Wirtschafts- und Handelsverbänden mächtige Lobbys. Aber sie sind nicht unbedingt in der Mehrzahl. Zuletzt sprachen sich zwei Drittel der Deutschen in einer YouGov-Umfrage dafür aus, den Lockdown zu verlängern. Wer die Maßnahmen mitträgt, macht meistens nur kein großes Aufhebens darum.
Nun aber sind beide Seiten frustriert.
Für die Menschen in der Schwarz-auf-weiß-Wirklichkeit hat die Bund-Länder-Runde keinen Stufenplan erarbeitet, also keine langfristige Perspektive, obwohl das versprochen wurde und obwohl die Zahlen sinken. Stattdessen gibt es ein Inzidenz-Ziel, das nicht mehr bei 50 liegt, wie oft genug angekündigt, sondern bei 35. Weit weg. Über diese Enttäuschung kann auch der baldige Friseurbesuch nicht hinwegtrösten.
Und für die Menschen in der Modellrechnungs-Wirklichkeit gibt es statt zumindest gleichbleibenden Einschränkungen nun vielerorts zügige Öffnungen von Kitas und Grundschulen, bundesweit völlig unkoordiniert, weil die Einigkeit offensichtlich nicht mal mehr für einen Rahmen ausreichte, an den sich die Länder dann halten können oder auch nicht. Die Öffnung der Friseure? Da schüttelt der Mensch in der Modellrechnungs-Wirklichkeit nur noch den Kopf.
Merkels Stilbildung
Die Kanzlerin ist Anhängerin der Modellrechnungs-Wirklichkeit. "Sie wird die Oberhand gewinnen", sagte Angela Merkel nach der Bund-Länder-Runde mit Blick auf die britische Mutation, "das alte Virus wird verschwinden." Deshalb müsse man jetzt vor allem "weiter runter, runter, runter mit der Fallzahl".
Sie hofft jetzt, so kann man das interpretieren, dass die Länder möglichst lange beieinanderbleiben, zumindest bis sich die Schwarz-auf-weiß-Wirklichkeit und die Modellrechnungs-Wirklichkeit wieder etwas weiter angenähert haben. In welcher Form auch immer. Und dann alle wieder auf einer ähnlichen Basis entscheiden können.
Doch wie lange geht das gut?
Merkel nannte es "stilbildend", dass der nächste Öffnungsschritt mit der Inzidenz von 35 verknüpft wurde. Sie will das weiter so machen, Schritt für Schritt. Es sei "vollkommen verfrüht zu sagen, bei 30 mache ich das und bei 29 mache ich das". Vollkommen verfrüht also, einen Stufenplan einzuführen.
Diesen Stufenplan aber, den haben drei Bundesländer für sich schon ausformuliert. In der Hoffnung, dass bald bundesweit ein einheitlicher beschlossen wird. Und mit der impliziten oder expliziten Drohung, dass man im Notfall auch seinen eigenen umsetzen würde. Halten sie jetzt wirklich so lange still?
Würde man die Zukunft der deutschen Corona-Politik in einer Modellrechnung abbilden, dann würde zumindest das schlechteste aller Szenarien in einem Lockerungswettrennen wie im Frühjahr enden. Ob es dazu kommt? Das wird man sehen.
Schwarz auf weiß.
- Eigene Recherchen