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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Corona-Talk bei "Lanz" Söder: "Diese Mutation macht mir echt Sorgen"
"Markus Lanz" arbeitete mit seinen Gästen zunächst noch Winfried Kretschmanns Gefühlsausbruch vom Tag zuvor auf. Dann richtete der Talkmaster den Fokus auf die aktuelle Impfdiskussion.
Die Gäste
- Eva Hummers, Medizinerin
- Anna Clauß, Journalistin
- Markus Söder (CSU), Bayerischer Ministerpräsident
- Gabriel Felbermayr, Ökonom
- Michael Bewerunge, Journalist
Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann hatte am Vortag bei Lanz für nachhallende Irritationen gesorgt: mit der Aussage, in seinem Bundesland öffneten Schulen und Kitas früher, als es Beschlüsse von der Bund-Länder-Konferenz vermuten ließen.
- Interaktive Karte: Diese Ausbrüche mit der Corona-Mutation sind bekannt
"Wie halten Sie das?", so die Frage von Lanz an Söder. Dem sah man das Unbehagen an. In Bayern wolle man "auf Nummer sicher gehen" und sich an die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz halten. "Also rate ich dringend zur Vorsicht", so der Nürnberger. Man sei zwar auf einem guten Weg bezüglich der Inzidenzen. "Diese Mutation macht mir echt Sorgen", ergänzte er aber. Frühe Schulöffnungen, schnelle Lockerungen etc. seien für Söder daher unvorstellbar. Konsequentes Durchhalten habe für ihn weiter oberste Priorität, um einen Jo-Jo-Effekt zu vermeiden.
Der Moderator ließ den CSU-Mann da nicht so leicht entkommen. Schulen offen, Schulen zu, da blicke doch keiner mehr durch. Daher sei der Begriff "geschlossen" auch "unglücklich", so Söder. Zumal es Distanzunterricht und Notbetreuung vor Ort gebe. Er könne die schwere Situation für Kinder und Familien auch verstehen. Doch im Gegensatz zum Ministerpräsidentenkollegen aus dem Nachbarland erteilte Söder schnellen Schulöffnungen eine Absage. "Wir haben zu spät reagiert und dann wieder zu schnell gelockert", definierte er das Grundproblem aus der ersten Welle.
Erster Konter gegen Söder
Clauß bildete als Autorin einer nicht von Söder autorisierten Biografie über ihn in der Sendung den Kontrapunkt zum Politiker. Fast symptomatisch erschien da, dass sie nie direkt mit Söder sprach. Botschaften ließ sie ihm via Lanz zukommen. "Uns wurde doch immer die Inzidenz von 50 wie so eine Karotte vor die Eselschnauze gehalten", so ihre provokante Äußerung. Jetzt stehe man knapp davor und dennoch werde als Perspektive nur eine Verschärfung des Lockdowns geboten.
Söder als Reiter der Apokalypse
Weg vom Thema Schule wollte Lanz Söder doch nicht so einfach aus der Mangel lassen. In einer Art biblischem Vergleich bezeichnete er ihn als "Reiter der Apokalypse". Übersetzt auf den Seelenzustand der Gesellschaft heiße das: "Da findet Zermürbung statt", so Lanz. Das, was für alle gelte, sei gerecht, so Söders Konter.
Ungewohnt war der Seeleneinblick, den der Franke der Allgemeinheit hier gewährte. Er sei "tendenziell pessimistisch, aber konsequent." Andere seien da nicht so. "Von wem sprechen Sie?", hakte der Moderator ein, weil er einen Seitenhieb auf die Kollegen von Söder erhoffte. Das machte der CSU-Mann aber nicht. "Wir sollten Demut vor Corona haben", predigte er stattdessen. Clauß hieb nach: "Weil sich Markus Söder mal wieder so schön selber lobt", müsse sie einschreiten. Bayern sei nicht besser auf die zweite Welle vorbereitet gewesen. Und die Maßnahmen träfen nicht alle gleich. Ihre Münchener Friseurin kämpfe um die Existenz. Gerecht gehe es hier nicht zu. Hoffnung müsse Substanz haben, konterte Söder. Im europäischen Vergleich komme Deutschland noch "ganz ordentlich durch die Krise".
Das Impfdilemma
Aber anscheinend gilt das nicht für die Impfstrategie Europas im Vergleich etwa zu Großbritannien oder Israel. "Was ist da schief gelaufen?", fragte Lanz Söder. Der wiegte nachdenklich den Kopf. "Es wirkt so, als hätte man ein klassisch europäisches Vergabe- und Bestellungsverfahren gemacht, das sehr knapp orientiert ist, das eine sehr harte preisliche Komponente hat", so der Politiker. Das sei in Notzeiten "schwierig". Unisono war die Meinung in der Runde – inklusive Söder – dass eine höhere Investition in mehr Impfstoff angebracht gewesen wäre. Man hätte "lieber mehr bezahlt" und den Überschuss dann günstig oder kostenlos an ärmere Staaten weitergegeben, so Söder. Eine Fehleranalyse sei dringend geboten. Etwa was die vertraglichen Ausgestaltungen zwischen Impfherstellern und EU in Bezug auf den Export außerhalb des Kontinents angehe.
Das Verhalten der Pharmaindustrie könne man "sich politisch nicht gefallen lassen", so Felbermayr. 750 Millionen Euro seien allein in Deutschland für die Entwicklung der Impfstoffe an die Hersteller geflossen. Hier müsse von der Industrie mehr kommen. Im Umkehrschluss sei jetzt "jede beliebige Summe, die zu mehr Impfstoff führt, gut ausgegeben."
Der Impfstoff von Astrazeneca
Zu den Diskussionen über die Verfügbarkeiten von Impfstoffen kommen offene Fragestellungen zu deren Wirksamkeit hinzu. Und hier sorgte Hummers als Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko) für eine Aussage, die Lanz und Clauß fast aus den Schuhen kippen ließ.
Es sei ein offenes Geheimnis, dass die Stiko in der bevorstehenden Empfehlung zur Zulassung des Impfstoffs von Astrazeneca dessen Anwendung für Menschen über 65 ausnehme, erklärte die Ärztin. Das heiße nicht, dass er in dieser Altersgruppe nicht wirke. Der Impfstoff werde ja per se nicht wirkungslos, weil jemand 66 wird. Die Datenlage sei aber zu dünn.
Mit dieser Nachricht habe keiner so gerechnet, meinte Lanz. Weil der Wirkstoff aus Oxford auch als "Gamechanger" gehandelt werde, weil er in der Handhabung einfacher sei als die mRNA-Impfstoffe, ergänzte Clauß. Zuständig für die Zulassung sei ja im Endeffekt die Europäische Union und nicht die Stiko, milderte Hummers ihr Statement ab. Und hoffnungsvoll stimme, dass der Impfstoff von Astrazeneca eine Wirksamkeit von 70 Prozent habe. Das sei besser als mancher Grippeimpfstoff.
- "Markus Lanz" vom 27. Januar 2021