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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Politik uneins Der Intensiv-Kollaps droht - und jetzt?
Deutschland befindet sich im Teil-Lockdown, doch die Lage auf den Intensivstationen spitzt sich dramatisch zu. Welche Vorschläge haben die Parteien, um einen drohenden Kollaps zu verhindern?
Während sich die Entwicklung bei den Corona-Neuinfektionen zumindest zu stabilisieren scheint, wird auf Deutschlands Intensivstationen ein neuer Höchststand erreicht. Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) meldete am Mittwoch, dass 3.127 Corona-Infizierte intensivmedizinisch behandelt werden, 1.787 davon mussten künstlich beatmet werden.
Selbst wenn die Zahl der Neuinfektionen demnächst zurückgehen sollte, wird es auf den Intensivstationen noch enger werden, glaubt DIVI-Präsident Uwe Janssens. Er machte zuletzt klar, dass wesentlich mehr infizierte Patienten noch auf anderen Stationen liegen – von denen ein Teil noch auf den Intensivstationen landen werde.
Deutschland muss sich also auf dramatische Zustände bei der Intensivversorgung von Corona-Patienten vorbereiten. Und jetzt? t-online hat die Fraktionen des Bundestags nach Lösungen gefragt.
"Mit einem Pflegebonus ist es nicht getan"
"Derzeit bleibt uns nur eines: Die Infektionszahlen müssen runter. Wir können ein Rennen zwischen immer mehr Kranken und immer mehr Betten bei einem exponentiellen Wachstum nicht gewinnen", stellt Bärbel Bas, SPD-Vizefraktionschefin und Gesundheitsexpertin, klar. Sie fordert staatliche Unterstützung für Krankenhäuser noch im November: "Für Krankenhäuser, die planbare Operationen verschieben und zusätzliches Personal für die Intensivbehandlung von Covid-19-Patienten bereitstellen, brauchen wir eine schnelle Lösung. Eine Bettenpauschale wie im Frühjahr ist ungeeignet. Wir wollen einen zielgenauen Rettungsschirm für die Krankenhäuser – den müssen wir noch im November auf den Weg bringen."
FDP-Chef Christian Lindner unterstützt zwar das Ziel einer Eindämmung der hohen Infektionszahlen, kritisiert aber pauschale Schließungen im laufenden Teil-Lockdown. Es drohe ein "Jojo-Effekt" mit einer Abfolge drastischer Einschränkungen, nach denen man wieder zum ursprünglichen Zustand zurückkehre.
Andrew Ullmann, der FDP-Obmann im Gesundheitsausschuss des Bundestags, mahnt gegenüber t-online: "Wir stehen vor einem großen Problem, denn die Bundesregierung weiß nicht, was unser Gesundheitssystem kann. Die Auswirkung der Pandemie auf die Auslastung der Intensivbetten sehen wir immer erst mit deutlichem zeitlichen Verzug". Ullmann hält die Anzahl der tatsächlich für Corona-Erkrankte zur Verfügung stehenden Intensivbetten für umstritten: "Es ist essenziell, dass die Zahlen der freien Intensivbetten differenzierter dargestellt werden. Nun müssen wir wieder improvisieren. Und das heißt, dass durch personelle Umschichtung die Pflegebetreuung am Intensivbett gesichert wird. Nur so erhalten wir unsere im Europa-Vergleich überdurchschnittlichen Intensivbetten-Kapazitäten. Unter allen Umständen müssen Triagen in den Krankenhäusern verhindert werden."
Anmerkung der Redaktion: Unter Triage wird in der Notfall- und Katastrophenmedizin die Einteilung von Verletzten oder Erkrankten im Fall eines Massenaufkommens von Patienten verstanden. Die Entscheidung darüber, wer behandelt wird und wer nicht, richtet sich dabei nach der Schwere der Infektion oder Krankheit sowie unter anderem auch nach den Erfolgsaussichten einer Behandlung.
"Situation in der Intensivpflege nachhaltig verbessern"
Kordula Schulz-Asche, die Sprecherin für Alten- und Pflegepolitik der Grünen, denkt an eine Verbesserung der Arbeitssituation der Fachkräfte: "Pflegekräfte klagen über ein Arbeiten im absoluten Ausnahmezustand. Diese Menschen können wir alle unterstützen, indem wir uns an die Hygieneregeln halten und so das Infektionsrisiko verringern. In dieser Situation ist es allerdings auch wichtig, einen politischen Rahmen zu spannen, der es den Menschen vor Ort erleichtert, die Belastungssituation zu bewältigen."
Schulz-Asche will dabei nicht nur kurzfristig agieren. Sie sagt t-online: "Wir müssen es möglich machen, dass die Fachkräftebasis zeitnah erhöht werden kann. Sollte die Arbeitsintensität in einigen Wochen wieder sinken, braucht es Maßnahmen, um die Situation in der Intensivpflege nachhaltig zu verbessern. Mit einem Pflegebonus für nur wenige Pflegekräfte ist es nicht getan."
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Achim Kessler, der gesundheitspolitische Sprecher der Linksfraktion, sieht ein Versagen der Bundesregierung beim drohenden Notstand der Intensivversorgung: "Die Bundesregierung hat hier versäumt, im letzten halben Jahr trotz aller Warnungen vor einer zweiten Welle ausreichend Pflegekräfte nachschulen zu lassen, damit diese mit dem nötigen Know-How auf den Intensivstationen eingesetzt werden können." Auch er sorgt sich um die Belastung der Pflegekräfte: "Es ist wichtig, dass die geltenden Pflegepersonaluntergrenzen jetzt nicht ausgesetzt werden!"
"Die jahrelangen Versäumnisse lassen sich nicht kurzfristig beheben"
Um einem Kollaps auf den Intensivstationen entgegenzuwirken, fordert Kessler: "Deshalb müssen die beschlossenen Corona-Maßnahmen durchgesetzt und mit den Zahlen im Blick nachgesteuert werden, sodass wir in fünf Wochen nicht doppelt so hohe Zahlen haben, sondern auf eine Entlastung der Situation hoffen können. Denn die jahrelangen gesundheitspolitischen Versäumnisse und Tatenlosigkeit der letzten Monate lassen sich nicht kurzfristig beheben."
Der CDU-Gesundheitsexperte und Unionsfraktionsvize Georg Nüßlein bewertet t-online gegenüber die Lage in den Intensivstationen als – noch – nicht so dramatisch: "In Gesprächen, die ich mit Krankenhausverantwortlichen geführt habe, haben diese auf die angespannte Lage in den Krankenhäusern und auf den Intensivstationen hingewiesen. Sie haben jedoch nicht gesagt, dass die Krankenhäuser die Lage nicht mehr bewältigen können." Nüßlein will zunächst die Wirkung der von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen abwarten: "Das wird sich in ein bis zwei Wochen zeigen. Und das werden wir uns genau anschauen. Es gibt jetzt keinen Grund, Panik zu schüren. Bei allen Diskussionen sollten wir nicht vergessen, dass hinter allen Statistiken Menschen und viel menschliches Leid stehen."
Die AfD-Fraktion hat auf die t-online-Anfrage zu einer Stellungnahme nicht reagiert.
- Eigene Recherche
- Anfragen bei den Fraktionen des Bundestags