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Terrorangriff in Frankreich: Der Islamismus ist zurück? Er war nie weg!


Meinung
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Terrorangriff in Nizza
Der Islamismus ist zurück? Er war nie weg!

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

Aktualisiert am 31.10.2020Lesedauer: 7 Min.
Ein Polizist zündet vor der Kathedrale in Nizza eine Kerze an: Hier wurden drei Menschen von einem mutmaßlichen Islamisten ermordet.Vergrößern des Bildes
Ein Polizist zündet vor der Kathedrale in Nizza eine Kerze an: Hier wurden drei Menschen von einem mutmaßlichen Islamisten ermordet. (Quelle: Hans Lucas/imago-images-bilder)

Was treibt Menschen zu solch bestialischen Taten wie in Nizza, Paris oder Dresden? Die Frage lässt sich nicht von der vorangegangenen Hetze entkoppeln.

Es sind Menschen, die sich Muslime nennen, die im Internet gegen den Lehrer Samuel Paty Stimmung gemacht haben, weil er Muhammad-Karikaturen thematisiert hatte. Es sind Muslime, die Christen und andere als "Ungläubige" diffamieren. Es sind auch Muslime, die lieber über verletzte religiöse Gefühle und Beleidigung sprechen wollen als über die abscheulichen Morde im Namen ihrer Religion.

Große Teile der islamischen Welt verhalten sich so. Erst gestern gab es ungeachtet der Corona-Pandemie in zahlreichen Staaten nach den Freitagsgebeten wieder Proteste, Boykott-Aufrufe und Drohungen – nicht etwa gegen Islamisten, nicht gegen Dschihadisten, nein, gegen Frankreich und seinen Präsidenten Emmanuel Macron.

Islamisches Satiremagazin zeigt Macron als Baby in Windel

Diese Proteste sind skurril. Ausgerechnet in autoritären Staaten mit massivem strukturellen Rassismus echauffieren sich führende Politikerinnen und Politiker über Diskriminierung von Minderheiten in Europa. Und in Europa ist es vielen nicht mal peinlich, sich an deren Worte zu hängen und deren Doppelmoral weiterzuverbreiten.


Da ist das Beispiel des islamischen Satiremagazins "Misvak". Das hatte Anfang der Woche eine Karikatur, die Emmanuel Macron als Baby in einer Windel zeigt. Es saugt an einer Milchflasche mit der Aufschrift "Hass" und wird von einer skelettierten Frau mit blonden Haaren im Arm gehalten. Die Zeichnung ist eine Anspielung auf seine 23 Jahre ältere Ehefrau und frühere Lehrerin, Brigitte.

Es geht nicht um Fakten, Argumente oder Logik

Das Narrativ vom "gerontophilen" Emmanuel Macron wurde ebenso von gläubigen Musliminnen und Muslimen in Deutschland höhnisch verbreitet. Bei Gläubigen darf man sich da schon wundern. Der Prophet Muhammad selbst hatte als erste Ehefrau die deutlich ältere Khadijah geheiratet. Sie war Herrin über ein Handelsgeschäft, in das Muhammad eingetreten war. Und gerade in der islamischen Welt kursiert die Vorstellung, ältere Männer könnten deutlich jüngere Frauen – teilweise noch Kinder – heiraten.

Dass die Macron-"Kritiker" solche Aspekte ausblenden, zeigt, wie wenig es um Fakten, Argumente, Logik und sachliche Abwägung geht und wie sehr viel mehr sich das Handeln um Hass, Verletzung, Aufstachelung und Rache dreht. Solche Stimmungsmache ist Wasser auf die Mühlen von potenziellen Attentäterinnen und Attentätern, weshalb wir unbedingt alle verbal abrüsten sollten.

Erdoğan-Karikatur ist keine Volksverhetzung

Ein Großteil der Stimmungsmache kam aus der Türkei. Das Magazin "Charlie Hebdo" hatte eine Karikatur von Präsident Recep Tayyip Erdoğan aufs Titelblatt gehoben. Der Staatschef wird darin als Lustmolch dargestellt, der einer Kopftuch tragenden Muslima das Gesäß entblößt. Das wirft kaum weniger Fragen auf. Zum Beispiel: Warum muss wieder eine Frau als Instrument herhalten, obwohl es gar nicht um Weiblichkeit geht?

Ansonsten erfüllt die Zeichnungen die ureigene Aufgabe von Karikaturen: Mächtige bloßzustellen. Sie ist keine Volksverhetzung! Sie ist kein Ausdruck von Turkophobie, sondern von Freiheit, und als solche positiv zu bewerten.


Ich selbst finde beide Karikaturen geschmacklos, unwitzig und schlecht, für eine freiheitliche Demokratie ist es dennoch wichtig, dass selbst miese Karikaturen immer und zu jeder Zeit gezeichnet werden dürfen. Das muss – schon zum Erhalt der eigenen Meinungsfreiheit – unbedingt verteidigt werden. Zugleich stellt sich aber die Frage, ob man von seinem verbrieften Rechten immer und zu jeder Zeit Gebrauch machen sollte? Als ich "Charlie Hebdos" Karikatur sah, konnte ich schlecht schlafen, da ich befürchtete, sie wird vielleicht nicht ohne Folgen bleiben. Am nächsten Tag geschah Nizza.

Mosaikstein der Eskalation

Keine Ahnung, ob es hier tatsächlich Verbindungen gibt. Zweifellos ist die Zeichnung ebenso ein Mosaikstein der Eskalation. Daher muss sich einerseits "Charlie Hebdo" fragen lassen, ob es Öl ins Feuer gegossen hat, andererseits müssen sich all jene fragen, die ob der Erdoğan- und der Muhammad-Karikaturen förmlich ausrasten, warum sie über Beleidigungen empörter sind, als über die Barbarei unter Berufung auf Gott?

Zu Recht werfen wir Rechtspopulisten vor, den geistigen Boden für Attentäter wie in Halle oder Hanau bereitet zu haben. Genau so bereiten jedoch Islamisten den geistigen Boden für Dschihadisten. Die Gewaltbereiten sind immer diejenigen, die meinen: "Genug der Worte, einer muss endlich mal zur Tat schreiten."


Diese Erkenntnis muss innerhalb muslimischer Kreise reifen – und sie reift. Als ich vor drei Jahren Muslime zum Widerstand gegen Dschihadisten und zur #Nichtmituns-Demo in Köln aufrief, handelte ich mir viel Kritik ein, weil ich Muslime für Gewalttaten in Verantwortung nehmen würde. Nach Paris und Nizza positionieren sich nun einige dieser Kritiker von damals freiwillig gegen diesen Terror und fordern selbiges von anderen Muslimen.

Islamfeindlichkeit und Islamismus anprangern

Man muss den Gewaltbereiten und ihre Sympathisanten das Umfeld entziehen. Dazu gehört, ein rigoroses staatliches Vorgehen gegen Organisationen, aber auch ein hartes Durchgreifen etwa gegen solche türkischstämmigen Jugendlichen in Wien, die dort am Freitag offenbar in einer Kirche randaliert haben. Dazu gehört, sich an die eigene Nase zu fassen, und sich von Herrschenden in fernen Ländern nicht entmündigen und instrumentalisieren zu lassen.

Wenn Islamisten in Bangladesch zu Protesten gegen Frankreichs Regierung aufrufen, hat das primär innenpolitische Gründe in Bangladesch. Jedes Mal, wenn ein Präsident wie Recep Erdoğan Islamfeindlichkeit anprangert, trägt er aufgrund seiner Unglaubwürdigkeit angesichts der Missstände im eigenen Land mit jeder Silbe zur De-Legitimierung des Phänomens bei.

Prompt heißt es wieder vermehrt, Islamfeindlichkeit sei nur ein Propagandainstrument. Durch Attentate wie in Nizza bekommen solche Ansichten dann zusätzliche Dynamik. Die Erdoğans dieser Welt und deren verlängerte Arme sollten neben der Islamfeindlichkeit ebenso entschieden den Islamismus anprangern.

Eskalationsspirale aus Gewalt, Hass und Spott

Ich muss nur einen Blick in meine Social-Media-Accounts werfen, um festzustellen, dass es völlig egal ist, was ich sage. Solange ich dem Islam nicht abschwöre, werde ich angefeindet. Solange ich die Tochter syrischer Einwanderer bleibe, werde ich angefeindet. Nun geschieht das nicht nur mir, sondern vielen Musliminnen und Muslimen mit Migrationshintergrund, und einige von ihnen verbittern wegen solcher Anfeindungen. Vor allem solche mit persönlichen oder familiären Problemen stacheln sie so sehr an, dass sie sich womöglich dem Terror zuwenden.

Die derzeitige Eskalationsspirale aus Gewalt, Hetze und Spott ist definitiv ein Faktor für die aktuellen bestialischen Taten, eine befriedigende Erklärung ist sie nicht. Die gibt es grundsätzlich nicht, auch wenn manche dies vortäuschen. Exakte Antworten finden sich allein in der psychischen Tiefe des Individuums, ansonsten gibt es nur Annäherungen an die Wahrheit.

Für die Brutalität, zu der Menschen fähig sind, hat die Forschung bereits viele Erklärungsansätze geliefert. Sie reichen vom Autoritätsgehorsam über eigene Gewalterfahrung in jungen Jahren bis zur Psychopathie. Aber diese "Mechanismen" müssen adressiert und aktiviert werden – und das tun Islamisten.

Die meisten Attentäter sind Außenseiter

Eine beliebte Vereinfachung bei der Begründung von Dschihadismus ist wie eh und je, auf die Religion mit ihren angeblich so eindeutigen Dogmen zu verweisen. Der französische Islamismus-Experte Olivier Roy erklärte indes im Deutschlandfunk, man habe viel zu lange gebraucht, um zu begreifen, dass es keine religiöse Radikalisierung per se gebe.

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Die meisten Attentäter seien Außenseiter, die nicht im Mainstream muslimischer Gemeinschaften zu finden seien: "Sehr viele von ihnen werden nicht in den Moscheen gesehen, bevor sie sich radikalisieren." Sie lesen nicht den Koran und ziehen ihre Schlüsse daraus, "vielleicht schauen sie manchmal in den Koran hinein und gebrauchen zwei, drei Verse für ihre Taten, aber um die Theologie scheren sie sich nicht."

Er hat recht. Durch meine Forschungen, meine Präventionsprojekte gegen Islamismus und meine Erfahrung mit Schülern, die ich aus meinem Religionsunterricht kannte und die später nach Syrien zur Terrormiliz "Islamischer Staat" gegangen sind oder gehen wollten, kann ich ihn nur bestätigen. Bei den meisten jungen Leuten geht es statt um Religion um individuelle Bedürfnisse und um Politik – und damit treten wieder die Islamisten in den Vordergrund der Problematik.

Am Beginn stehen persönliche und politische Umstände

Radikalisierung startet nicht durch Indoktrinierung mit religiösen Dogmen. Am Beginn stehen persönliche und politische Umstände. Menschen wie der Tunesier beim Anschlag in Nizza kommen als Geflüchtete oder Einwanderer nach Europa. Sie wollen der Perspektivlosigkeit ihrer Heimatländer entfliehen und treffen hier auf neue schwierige Verhältnisse, da es der Europäischen Union nicht gelingt, eine konsistente Flüchtlings- und Einwanderungspolitik mit konsequenter Abschiebung auf der einen und echter Integration auf der anderen Seite zu machen.


Diese Unzufriedenheit der Menschen ist für Islamisten der wichtigste Nährboden: "Seht ihr, die überheblichen Europäer behandeln euch schlecht. Sie respektieren euch nicht." Wenn es den Islamisten gelungen ist, die Aufmerksamkeit ihrer Opfer auf die Ungerechtigkeiten dieser Welt zu lenken, kommt die religiöse Überzeugung ins Spiel. Sie dient dann als Legitimierung und Rechtfertigung für aktiven Widerstand.

Somit hat selbstverständlich der Islam mit dieser Terrorproblematik zu tun. Man kann den Dschihadismus also nicht vom Islam entkoppeln und so tun, als sei die Religion nicht involviert, als seien Dschihadisten keine religiösen Menschen.

Muhammad selbst ließ Menschen töten, die ihn beleidigten

Selbst für die harschen Reaktionen auf die Karikaturen können Islamisten auf Muhammad zurückgreifen. Spottgedichte auf der arabische Halbinsel im 7. Jahrhundert waren ein verdammt scharfes Schwert. Schmähungen wurden teils schlimmer als Mord und Totschlag bewertet. In der oralen Kultur der Araber hatten Dichter damals magischen Charakter, der vielen Angst einflößte, weil sie ihren Worten reale Wirkungskraft beimaßen. Muhammad selbst ließ vor diesem Hintergrund Menschen töten, die ihn beleidigt hatten, wie Abu Rafi’ und Kaʿb Ibn al-Aschraf.

Solange sich Islamisten Muslime nennen und mit Koranversen, Hadithen und Muhammads Lebensgeschichte argumentieren, bleiben islamische Theologinnen und Theologen gefordert, dem etwas entgegen zu setzen. Fragende dürfen nicht nur auf Antworten von Islamisten und Fundamentalisten stoßen, wenn sie sich (im Internet) über den Islam informieren wollen. Musliminnen und Muslime müssen sprechfähig gegenüber Islamismus werden, so wie Demokraten und Demokratinnen sprechfähig gegenüber Rechtsextremisten werden müssen.

Kampf gegen Islamismus kann nur mit Muslimen gewonnen werden

Frankreich wird seinen begonnenen Kampf gegen den Islamismus und dessen Sympathisanten fortsetzen, so wie Präsident Macron es dieser Tage angekündigt hat. Es reicht. Frankreich braucht dafür die Solidarität von uns allen. Der Kampf gegen den Islamismus kann nur mit den Muslimen gemeinsam gewonnen werden – nicht gegen sie.

Bei der Wahl der Mittel gilt es abzuwägen –Scharfmacherinnen wie Marine Le Pen rufen bereits nach "Kriegsgesetzen", ein Republikaner nach einem französischen Guantamano. Bei aller nötigen Konsequenz, die blindwütigen Krieg gegen den Terror, den einst US-Präsident George W. Busch ausgerufen hat, hat auf tragische Weise gezeigt, dass auf diese Weise noch viel mehr Probleme entstehen.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
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