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Islamistischer Terror: Es ist kein Zufall, dass es immer wieder Frankreich trifft


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Islamistischer Terror
Es ist kein Zufall, dass es immer wieder Frankreich trifft


Aktualisiert am 30.10.2020Lesedauer: 5 Min.
Polizisten vor der Kirche in Nizza: Drei Menschen sind bei dem islamistischen Angriff getötet worden.Vergrößern des Bildes
Polizisten vor der Kirche in Nizza: Drei Menschen sind bei dem islamistischen Angriff getötet worden. (Quelle: PanoramiC/imago-images-bilder)

Neben der Corona-Pandemie versetzt auch der Schrecken des islamistischen Terrors Frankreich in Angst. Schon lange gibt es Warnungen vor der Unterwanderung ganzer Stadtteile, aber die Politik agiert hilflos.

Es ist eine weitere schreckliche Gewalttat, die fassungslos macht. Ein 21-Jähriger tötete drei Menschen mit einem Messer in der Kirche Notre-Dame im Zentrum von Nizza. Der mutmaßliche Attentäter habe "Allahu akbar" ("Gott ist groß" auf Arabisch) gerufen. Einer 60-jährigen Frau wurde die Kehle durchgeschnitten, der französische Anti-Terror-Staatsanwalt Jean-François Ricard sprach von einer Enthauptung. Auch der getötete 55-jährige Küster wurde schwer am Hals verletzt. Ein drittes, schwer verletztes Opfer war noch geflüchtet, aber auch die 44-Jährige starb außerhalb der Kirche an ihren Verletzungen.

Die Bestürzung im Land ist groß. "In einer solchen Welt zu leben, ist beängstigend. Es gibt eine große Leere", sagte eine Passantin in Nizza dem Nachrichtensender Welt am Donnerstagabend. "Schon durch die Gesundheitskrise ist es schwierig, die Hoffnung am Leben zu halten. Wenn dann so etwas passiert, ist es noch schwieriger."

Zum dritten Mal in zwei Monaten ist Frankreich von einer extrem brutalen Tat erschüttert worden, die Regierung spricht von einem islamistischen Terrorangriff. Aber warum ist das so?

Fest steht: Schon lange warnen Islamwissenschaftler im Land vor einer Unterwanderung der muslimischen Gemeinde durch radikale Kräfte, aber die Politik agiert hilflos. Sie schafft es nicht, die deutliche Mehrheit der säkularen Muslime zu integrieren und eine vergleichsweise geringe Anzahl von Islamisten zu bekämpfen.

Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Terrorakt von Nizza:

Wer ist der Täter?

Der 21-jährige Angreifer wurde von der Polizei in der Kirche gestellt und lebensgefährlich verletzt – momentan liegt er im Krankenhaus. Laut Angaben der Polizei hat er ein Dokument des Italienischen Roten Kreuzes bei sich getragen, das auf einen 1999 geborenen tunesischen Staatsbürger ausgestellt gewesen sei. Er sei im September über die italienische Insel Lampedusa eingereist und am 9. Oktober dann im süditalienischen Bari gewesen.

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Italiens Behörden waren nach eigenen Angaben von Tunesien nicht vor dem Gewalttäter gewarnt worden. Aus dem Innenministerium in Rom verlautete, dass der Angreifer als ein 21-jähriger Tunesier identifiziert worden sei. Der Mann sei illegal auf Lampedusa angekommen. Nach italienischen Agenturberichten war er mit anderen Bootsmigranten dort an Land gegangen und im Oktober nach Bari gebracht worden. Dort soll er abgetaucht sein.

Am Freitag nahmen Ermittler einen 47-jährigen Mann fest. Er soll am Vorabend der Tat Kontakt mit dem Angreifer gehabt haben. Weitere Hintergründe sind noch unklar.

Warum gibt es in diesem Herbst vermehrt Anschläge im Land?

In Frankreich gilt mittlerweile wieder die höchste Terrorwarnstufe. Erst Mitte des Monats hatte die brutale Ermordung von Samuel Paty im ganzen Land riesiges Entsetzen ausgelöst – der Lehrer wurde auf der Straße in Paris von einem tschetschenischen Islamisten geköpft. Er wurde getötet, weil er in einer Unterrichtsstunde zum Recht auf Meinungsfreiheit vor 13-jährigen Schülern Mohammed-Karikaturen verwendet hatte. Vielen Muslimen gilt eine bildliche Darstellung des Propheten als Blasphemie.

Seither ist der Konflikt über Karikaturen, der das Land seit dem Anschlag auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" begleitete, eskaliert. Der französische Präsident Emmanuel Macron rief zum intensiven Kampf gegen den Islamismus auf. Er verteidigte die Meinungsfreiheit und stellte sich auf die Seite derer, die Karikaturen zeigen oder veröffentlichen wollen. Frankreich werde nicht "auf Karikaturen und Zeichnungen verzichten, auch wenn andere sich davon zurückziehen", sagte Macron bei einer Gedenkfeier zu Ehren des getöteten Lehrers.

Hassrede werde nicht akzeptiert und die vernünftige Debatte verteidigt, schrieb er später auf Twitter. "Wir werden immer auf der Seite der Menschenwürde und der Grundwerte stehen." Macron verbreitete die Botschaft auch auf Arabisch und Englisch. "Unsere Geschichte ist die des Kampfes gegen Tyrannei und Fanatismus. Wir werden weitermachen", schrieb er dazu noch auf Französisch.

Die von Macron angekündigte neue Islampolitik wurde in der muslimischen Welt teilweise missverständlich verstanden oder wiedergegeben. Führer muslimisch geprägter Länder nutzten Macrons Äußerungen gezielt, um mit einer religiösen Auseinandersetzung von innenpolitischen Problemen abzulenken. So wie der türkische Präsident Erdogan, der den europäischen Staaten Islamophobie vorwarf. Vorwürfe dieser Art befeuern wiederum radikale Islamisten in Frankreich.

Dementsprechend verschlechtern sich die Beziehungen zwischen Teilen der muslimischen Welt und Frankreich erneut. So nahmen einigen Berichten zufolge Supermärkte in Katar, Kuwait und Jordanien französische Produkte aus dem Sortiment. Die einflussreiche Al-Azhar-Lehranstalt in Kairo warnte vor einer Kampagne gegen den Islam. Und Pakistans Premierminister warf Macron Islamophobie vor. "Präsident Macron hat die Gefühle von Millionen von Muslimen in Europa und auf der ganzen Welt angegriffen und verletzt", schrieb er zudem.

Warum trifft der islamistische Terror immer wieder Frankreich?

Eine Erklärung dafür ist unheimlich komplex. In Frankreich leben geschätzt knapp fünf Millionen Muslime, das entspricht 8,2 Prozent der Gesamtbevölkerung – aber wie in Deutschland denkt nur ein minimaler Anteil von ihnen islamistisch-fundamentalistisch.

Aber: Besonders in Frankreich fand der radikale Islamismus in den letzten Jahrzehnten immer wieder einen Nährboden. Ein Grund dafür ist eine große soziale Spaltung im Land – beispielsweise in den verarmten Vierteln der Vorstädte von Paris, in denen auch sehr viele Muslime leben. Sie wurden jahrelang vergessen, nicht integriert, finden keine Arbeit und haben kaum Perspektiven. Dadurch entwickelten sich dort Parallelgesellschaften. Die Gefahr lauert im Untergrund – aber Islamisten können in Frankreich vor allem verdeckt vorgehen, weil die Politik wegschaute.

Eben dieses Problem thematisierte der renommierte Islamwissenschaftler Bernard Rougier in seinem Buch "Les territoires conquis de l’islamisme". Sein erschreckender Befund: 150 Kommunen in Frankreich seien bereits vollkommen in der Hand radikaler Islamisten. Dort gebe es keine Bildung mehr für Kinder, sondern nur noch islamistische Indoktrination. Die Frauen seien aus der Öffentlichkeit verbannt, Repräsentanten des Staates gelten als Feinde. Es gebe Repressionen gegen Muslime, die säkular gesinnt sind.

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Islamwissenschaftler weisen darauf hin, dass die große Mehrheit der Muslime keineswegs der dschihadistischen Vision des Islams anhängt. Aber die sehr aktive Minderheit der Militanten – oft sind es von außen kommende Prediger – schafft es, das religiöse Leben in den Gemeinden zu dominieren.

Mit ihnen verbünden sich kriminelle Kräfte. "Wenn Kriminelle sich den Salafisten anschließen, bekommen sie eine Art Freibrief", schreibt Rougier. "Es sei ja gottgefällig Drogen an die Ungläubigen verkaufen, weil die damit zugrunde gerichtet werden. Also wird ihnen verziehen." Dafür würden Kriminelle im Gegenzug verschleierte Frauen in Ruhe lassen und die Viertel gegen Außenstehende verteidigen. So bekommen Salafisten diese Viertel unter Kontrolle.

Die Politik sei in den letzten Jahren tatenlos gewesen, weil sie Angst davor hatte, als "islamophob" zu gelten. Das sei laut Rougier ein Kampfbegriff militanter Islamisten, um Kritik an jeder Auslegung des Islams zu unterbinden. Dabei profitieren Islamisten und rechtsextreme Parteien politisch gegenseitig voneinander. "Im Grunde brauchen die Islamisten die Rechtsextremen, um behaupten zu können, dass die französische Gesellschaft rassistisch ist", schreibt der französische Sozialwissenschaftler Gilles Kepel. "Und die extreme Rechte braucht die Islamisten, um die Gefahren durch den Islam aufzubauschen."

Die Lage in Frankreich ist aus all diesen Gründen extrem aufgeladen und jeder religiöse Konflikt – national oder international – ist ein Streichholz für ein Pulverfass. Deshalb drohen im Land immer wieder Anschläge.

Warum setzen Terrororganisationen auf Anschläge wie Nizza?

Es ist noch unklar, inwieweit der Täter von Nizza vernetzt war. Doch der Angriff folgt der Strategie der Terrormiliz IS oder von Al Qaida.

Sie versuchen mit maximaler Brutalität und minimalem Aufwand eine möglichst große Öffentlichkeit zu erzielen. "Die brauchen hier keinen Waffenschmuggel, keinen Sprengstoff. Es braucht nur ein Messer und einen hoch-motivierten Attentäter", erklärte Nahost-Experte Daniel Gerlach im Interview mit dem Nachrichtensender Welt. "Das Ziel solcher Anschläge ist, Angst zu schaffen, die Gesellschaft auseinanderzutreiben." Außerdem solle Misstrauen gegenüber der eigenen Regierung geweckt werden.

Die französische Politik will nun scharf gegen den radikalen Islamismus vorgehen – und darf sich dabei nicht den Fehler erlauben, Muslime pauschal zu verurteilen. Davon würden nur die Extremisten profitieren.

Verwendete Quellen
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