Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Biden mutig, SPD langweilig Die USA haben Kamala Harris, wir nur Olaf Scholz
Die US-Demokraten schicken Kamala Harris als Vize-Kandidatin ins Rennen. Das ist historisch, das ist mutig. Was macht die SPD dagegen? Auf Olaf Scholz zu setzen, ist eine vertane Chance.
Die Demokraten haben diese Woche Kamala Harris nominiert, die Sozialdemokraten Olaf Scholz. Damit ist beinahe alles gesagt über den Zustand der beiden Traditionsparteien in den USA und in Deutschland. Progressivität, was sich für gewöhnlich beide auf die Fahne schreiben, kann man wie so oft nur auf der einen Seite des Atlantiks bewundern. Man fragt sich, kann das gute alte Europa eigentlich mehr als gewöhnlich und althergebracht? Warum hat die SPD nicht Kevin Kühnert als Kanzlerkandidaten aufgestellt?
"Das wäre völlig verrückt", dürfte es den meisten politischen Beobachterinnen und Beobachtern bei diesem Vorschlag entgeistert entfahren. Ja, eben! Es wäre wagemutig, überraschend, innovativ und in der Tat durchaus verrückt! Genau deshalb wäre so eine Entscheidung ein echtes Statement gewesen, bei dem alle aufgehorcht hätten. "Umparken im Kopf" werbetextete einst ziemlich erfolgreich ein deutscher Automobilhersteller; bezeichnenderweise auf Anraten einer Agentur namens "Scholz & Friends".
Aber, klar, wir sprechen hier von der alten Tante SPD. Was kann man von ihr anderes erwarten als das Erwartbare: Olaf Scholz, das "verkörperte Nichts", wie der Kabarettist Dietmar Wischmeyer frotzelt. Lieber langweilig statt spektakulär. Dabei hat die SPD bei ihren miesen Umfragewerten wenig zu verlieren. Dass sie tatsächlich den nächsten Kanzler stellen wird, glaubt sie selbst nicht. Also: Wenn nicht jetzt, wann dann soll das Ruder herumgerissen und der Neuanfang inklusive Personalwechsel gestartet werden?
Bidens Entscheidung für Harris ist alles andere als langweilig
Blicken wir in die USA. Dort beweist ein "alter weißer Mann" mehr Fortschrittlichkeit als viele jüngere Politikergenerationen hierzulande. Dass Joe Bidens Wahl für seine Vize-Präsidentschaftskandidatin auf Kamala Harris fiel, ist alles andere als langweilig. Es ist historisch und womöglich in ein paar Jahren epochal, sollte sie dereinst US-Präsidentin werden.
Joe Bidens Entscheidung inspiriert die Fans von Gleichberechtigung, Toleranz und Freiheit. 244 Jahre nach der Unabhängigkeit vereint der 77-Jährige endlich die Politik mit der Realität im Mutterland der gesellschaftlichen Diversität. Endlich eine weibliche Person of Color (PoC) an der Spitze, 55 Jahre alt, geerdet, gebildet, klug, modern, durchsetzungsstark, charismatisch, sympathisch, attraktiv und ein schönes Lächeln auf den Lippen (Ja, das ist wichtig für Wahlentscheidungen. Wer glaubt, nur Inhalte zählten beim Wähler, träumt.).
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Mit Kamala Harris und Joe Biden bieten die Demokraten den Bürgerinnen und Bürgern der USA den maximal möglichen Kontrast zu Donald Trump und Mike Pence – ohne dabei auf radikale Botschaften zu setzen. Denn sowohl Kamala Harris als auch Joe Biden sind ideologisch weder besonders weit links noch rechts zu verordnen. Sie sind Pragmatiker der Mitte. Zusammen mit der aufbruchsbereiten Juristin könnte der grundsolide Brückenbauer Joe Biden ein perfektes Team bilden, das den Zustand der amerikanischen Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhundert ziemlich gut widerspiegelt.
Biden und Harris können ihrem Land Würde zurückgeben
Es ist vielversprechend in jeglicher Hinsicht, was wir gerade im "Land of the Free" beobachten können. Biden/Harris könnten ihrem Heimatland die Würde wiedergeben, die ihm Trump/Pence genommen haben. En passant könnten sie dabei ein paar wichtige Signale zu uns nach Europa hinüberschicken; vielleicht erreichen sie irgendwann auch die SPD, sollte es sie dann noch geben.
Doch bei aller Freude über Kamala Harris, man darf die Frau aus Kalifornien auch nicht mit Erwartungen überladen. Sie ist keine Heilige. So wenig wie Barack Obama ein Heiliger war. Dass Joe Biden mit ihr wichtige politische Themen wie die Metoo- und die Rassimus-Debatte im Land besetzt und abräumt, ist kein Garant für den Wahlerfolg. Donald Trump mag mit seinem bewiesenen Dilettantismus nach dem Tod von George Floyd seine Wiederwahl aller Voraussicht nach endgültig verspielt haben, die Unwägbarkeiten bis zum Wahltermin am 3. November sind jedoch groß.
Die Euphorie der Demokraten, die sich gerade über Biden/Harris ergießt, könnte bei den beiden falsche Siegesgewissheit erzeugen. Unvorhersehbare Ereignisse könnten eintreten. Niemand weiß, was sich Trump in den lange drei Monaten, die da noch kommen werden, einfallen lässt. Joe Bidens Talent im Fettnäpfchen-Hopping ist legendär, und auch Kamala Harris birgt Gefahren für die Kampagne der Demokraten.
Angriffe könnten das Feuer von Harris entfachen
Die zu erwartenden rassistischen Hasskampagnen in den Reihen des politischen Gegners könnten das Feuer der einstigen Generalstaatsanwältin von Kalifornien entzünden. Beschimpfungen, Beleidigungen, Fake News – das ist purer Stress.
- John Bolton: Trumps zweite Auszeit wäre schädlich für Deutschland
Man will sich immer wehren und muss sich permanent selbst disziplinieren, um eben das nicht zu tun. Denn genau darum geht’s heutzutage: Reaktionen provozieren, um darauf weiteres Mobbing und neue Demütigungen aufzusetzen. Gerade Kamala Harris’ offene Bereitschaft zur politischen Auseinandersetzung könnte da zum Risiko werden. Unüberlegte Äußerungen, kleine Fehler sind mitunter ausreichend, um ihr die Anfangs-Glorie zu nehmen, so wie sie einst Scholz-Vorgänger Martin Schulz genommen wurde, als dieser sich für die SPD im Wahlkampf beweisen musste.
Der Vorsprung des demokratischen Lagers vor dem republikanischen ist im polarisierten Amerika kleiner als man denkt. Wahlanalysten sagen, die US-Wahl wird sich in ein paar kleineren Bundesstaaten bzw. Wahlkreisen entscheiden.
Kamala Harris steht für ein Amerika ohne weiße Vorherrschaft
Nach wie vor stehen rund 40 Prozent der Wählerinnen und Wähler fest hinter Trump. Für sie ist Kamala Harris eine Bedrohung par excellence. Mit ihren jamaikanischen und indischen Wurzeln steht Harris heute noch mehr als Barack Obama vor zehn Jahren für das künftige Amerika ohne weiße Vorherrschaft, das immer näher rückt und vor allem den Trump-Wählern Angst macht.
Diese Angst muss man den Menschen nehmen, ob das Kamala Harris gelingen kann, bleibt abzuwarten. Gegenwärtig trägt allein ihre äußere Erscheinung dazu bei, dass sich viele eingefleischte Trump-Fans noch enger hinter ihrem Idol versammeln. Sollte Kamala Harris gar den Fehler begehen, gegen diese Menschen verbal auszuteilen (Hillary Clinton beschimpfte einst die Trump-Wählerinnen und -Wähler als "Haufen bedauernswerter Gestalten"), könnte das dramatische Folgen für den Wahlsieg haben.
Von daher kann man nur die Daumen drücken, dass sich sowohl Joe Biden als auch Kamala Harris möglichst ruhig verhalten in den nächsten Wochen, ihre eigene politische Agenda anpreisen und sich in Debatten weitgehend auf sachliche Einwürfe beschränken.
Donald Trump als Jammerlappen zu verspotten, wie sie es gleich bei ihrem ersten gemeinsamen Auftritt in Wilmington, Delaware, getan haben, sollten sie sich sparen. Über Donald Trump ist alles gesagt. Am sichersten für Biden/Harris wäre es, die Präsidentenkarikatur im Weißen Haus einfach machen zu lassen.
Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr aktuelles Buch heißt "Muslimisch und liberal!" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.