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Corona-Krise weltweit: Den Ärmsten der Armen droht fürchterliches Elend


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Syrien in der Corona-Krise
Den Ärmsten der Armen droht fürchterliches Elend

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

Aktualisiert am 26.03.2020Lesedauer: 7 Min.
Helfer in Syrien: Die Welt darf angesichts der Coronakrise nicht die Länder vergessen, die dem Virus größtenteils schutzlos ausgeliefert sind, fordert Lamya Kaddor.Vergrößern des Bildes
Helfer in Syrien: Die Welt darf angesichts der Coronakrise nicht die Länder vergessen, die dem Virus größtenteils schutzlos ausgeliefert sind, fordert Lamya Kaddor. (Quelle: Anas Alkharboutli/dpa)

Im vom Krieg geplagten Syrien könnte ein Ausbruch das Coronavirus dramatische Folgen haben. Angesichts unserer eigenen Sorgen darf die Welt die Ärmsten der Armen nicht vergessen.

Bomben, Hunger und jetzt Corona. Inmitten der kriegsgebeutelten Menschen in Syrien steht ein Pulverfass. Wenn es hochgeht – und die Lunte brennt bereits , wird das volle Elend seinen Lauf nehmen. Im Norden Syriens, in der umkämpften Region Idlib leben Hunderttausende Menschen dicht gedrängt in Flüchtlingslagern mit schlechter Hygiene und schlechter Versorgung.

"Wenn hier das Coronavirus ausbricht, dann haben wir ihm nichts, aber auch gar nichts entgegenzusetzen", sagt der einheimische Arzt Sameeh Qaddour, einer der letzten verbliebenen Mediziner, die seit 9 Jahren den Krieg in ihrer Heimat ertragen. Niemand könne sich im Falle einer Covid-19-Erkrankung auf die wenigen verbliebenen und noch intakten Krankenhäuser in der abgeriegelt und von Rebellen kontrollierten Provinz verlassen.

"Gerade mal 300 Corona-Testkits"

"Wir könnten hier niemanden beatmen", sagt Qaddour: "Es gibt hier keine Intensivstationen. Wir haben auch keinen Platz, Menschen zu isolieren und testen können wir auch kaum. Die Hilfsorganisation ACU hat uns gerade mal 300 Corona-Testkits zur Verfügung gestellt." Was diese angesichts der desolaten Lage vor Ort ausrichten sollen, steht in den Sternen.

Die Menschen müssen sich auf sich selbst verlassen. Denn dass das Virus unter den Geflüchteten und den Bewohnern der Region über kurz oder lang ausbrechen wird, scheint nur eine Frage der Zeit zu sein. Am Sonntag wurde der erste Coronafall in Syrien bestätigt. Für viele ältere und vorerkrankte Menschen dürfte seine Ausbreitung ein sicheres Todesurteil sein.

Doch in Nordsyrien gibt es bislang kaum ein Gespür für die Gefahren von Sars-CoV 2. Flächendeckende Ausgangssperren oder Kontaktsperren gibt es nicht. Einzelne Aufklärer in den Trümmern der staatlichen Strukturen wie Qaddour sind vielfach Rufer in der Wüste. Erst diese Woche wurde der belebte Basarbetrieb, der dienstags in der Stadt Atmeh stattfindet, gestoppt. Am Tag zuvor waren noch Scharen von Menschen in der Nachbarstadt al-Dana auf einem großen Markt.

Es ist Frühling, die Natur erwacht und es herrscht weitgehend Kampfpause. Viele freuen sich über diese surreale Normalität inmitten eines Kriegs. Viele denken sich vermutlich, wenn sie den neun Jahre anhaltenden Krieg überlebt haben, was soll ihnen dann so ein unsichtbares Virus schon groß antun können.

Nicht nur Syrien droht Gefahr

Ganz ähnlich ist die Lage an den anderen Hotspots von Flucht und Vertreibung. Am Dienstag wurde in Cox's Bazar in Bangladesch nur eine Autostunde vom größten Flüchtlingslager der Rohingya entfernt, das Coronavirus bei einer Frau nachgewiesen. Dort leben ebenfalls Hunderttausende Menschen auf engstem Raum in Hütten, Verschlägen und Zelten.

Der Jemen, wo heute vor fünf Jahren der Krieg ausbrach, steckt bereits in einer Katastrophe. Wenn Covid-19 dazukommt, gibt es dort die Steigerungsform von Katastrophe und es wird noch schlimmer sein! An allen Orten, wo Krieg und Vertreibung regieren (man denke auch an Zentralafrika), droht fürchterliches Ungemach. Die Ärmsten der Armen trifft es wieder einmal besonders hart.


Gerade erst konnten in Syrien viele Menschen über den bitterkalten Winter gebracht werden und jetzt das. Nicht nur die drohende Gefahr einer Infizierung hängt als Damoklesschwert über ihnen, auch Hilfslieferungen können aufgrund weltweiter Grenzschließungen, Zwangspausen von Unternehmen oder Einschränkungen der Bewegungsfreiheit nur noch bedingt oder gar nicht mehr erfolgen.

Das Leben in der Welt steht weitgehend still und damit auch ein Großteil der internationalen Hilfe. Familien und Kinder, die schon ohne Coronavirus auf Unterstützung angewiesen sind, weil weder ein Staat, noch Nachbarn oder Freunde helfen können, treibt die schiere Verzweiflung um.

Schwierigkeiten auf dem Weg zur Hilfe

Ich hatte am 15. Februar eine Hilfsaktion ins Leben gerufen. Es war die Zeit der letzten Wintertage und -nächte in Syrien. Kinder erfroren, weil es keine Decken oder Zelte gab, oder sind verhungert, weil ihre Eltern nichts mehr zu Essen organisieren konnten. Mein Cousin in der Provinz Idlib rief mich an jenem Samstagvormittag an und bat eindringlich: "Lamya, wir brauchen eure Hilfe!"

Ich entschied mich ohne langes Nachdenken zum Handeln. Noch nie während der Kriegszeit hatte sich meine Familie in Syrien so unvermittelt an mich gewandt: "Es geht nicht um unsere Familie, Lamya", erklärte mir mein Cousin weiter: "Wir selbst kommen hier klar. Uns geht es verhältnismäßig gut. Es geht um die Geflüchteten!" Um schnell und direkt helfen zu können, richtete ich in wenigen Minuten eine Spendenseite ein und setzte Aufrufe über meine Accounts bei Facebook, Twitter und Instagram ab. Ich dachte, wenn ich so zusätzlich 2.000 oder sogar 5.000 Euro einsammele, könnte ich zumindest etwas tun.

Nur wenige Stunden später waren bereits 10.000 Euro zusammen. Wahnsinn. Nach dem Wochenende musste ich den Spendenaufruf sogar wieder einbremsen, weil so viel gespendet wurde; ich bin schließlich keine Hilfsorganisation, sondern nur eine Privatperson. Für die großartige Unterstützung möchte ich mich auch an dieser Stelle bei allen Spenderinnen und Spendern ganz herzlich bedanken.

Doch mit dem Geld kamen die Sorgen und ich geriet in die Mühlen der Bürokratie. Im "Westen" für Hilfsbedürftige Spenden zu organisieren, wird einem nicht leicht gemacht vor allem nicht für Syrien. Jedenfalls wurde meine Spendenseite bei einem amerikanischen Unternehmen noch am späten Abend des ersten Tages eingefroren. Ich musste eine zweite eröffnen und auf eine andere Spendenplattform umziehen.

Was hat es mit dem Geld auf sich?

Am nächsten Tag, dem Sonntag, wollte der US-Konzern dann wissen: Wo kommt auf einmal so viel Geld für Syrien her? Warum sammeln Sie für Syrien? Wofür ist das Geld bestimmt? Wer soll es bekommen? Können Sie Rechnungen oder Quittungen vorlegen? Können Sie sich ausweisen?
Diverse Onlineformulare, E-Mails und Anrufe später und nicht zuletzt durch meine öffentliche Bekanntheit gelang es mir nach einigen Tagen, das Geld freigeben zu lassen. Endlich eingetroffen auf einem Konto bei einer deutschen Bank, konfrontierte mich dieses Geldinstitut nun mit Geldwäscheprüfungen und ähnlichen Fragen, was es mit dieser "Syrienhilfe" genau auf sich habe?

Doch die Steine, die sie mir in den Weg warfen, waren noch verhältnismäßig klein. Die von anderen wärmstens empfohlene zweite Plattform eines französischen Mutterkonzerns machte mir das Leben noch schwerer. Auch sie wollten mir die Spendengelder nicht herausgeben.

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Tagelang ließen sie mich warten, vertrösteten mich via E-Mail. Meine beschwörenden Hinweise, dass es um unkomplizierte Hilfe für Witwen, Familien und Kinder gehen sollte, die vor dem Erfrieren und dem Hungertod stehen, kümmerten die Zuständigen nicht weiter. Ich musste Himmel und Hölle in Bewegung setzen, eidesstattliche Erklärungen abgeben und Kontaktpersonen benennen und damit in Gefahr bringen, und bekam das Geld dennoch erst rund drei Wochen später.

Nun könnte man denken, die Bedrohungen durch Islamisten und der Krieg in Nordsyrien sowie die internationalen Sanktionen seien das Problem. Doch zwischendurch erfuhr ich von einer Frau, die für Kenia Spenden über dieselbe Plattform gesammelt hatte, dass sie die gleichen Probleme gehabt hat nur mit dem traurigen Unterschied, dass sie über keinerlei öffentlichen Bekanntheitsgrad verfügt. Sie bat darum, mir ihre Spende für Syrien lieber auf ein Privatkonto überweisen zu dürfen.

Bürokratie steht im Weg

Anfangs dachte ich, es würde schwierig werden, das Geld ins Kriegsland Syrien zu bekommen. Dass mir vor allem internationale renommierte Konzerne Schwierigkeiten machen würden, hätte ich nie für möglich gehalten. Es kann nicht sein, das einem privates Engagement für Menschen in Flüchtlingslagern oder Opfer von Kriegen so schwer gemacht wird. Bei allem Verständnis für den Druck auf europäische Unternehmen, internationales Recht einzuhalten, hier geht es unmittelbar um Menschenleben.

So viele bürokratische Hürden sollten einem nicht in den Weg gelegt werden. Diese Verfahrensweise ist ein echtes Problem.
Am 26. Februar, elf Tage später, sind die ersten Spendengelder dann endlich an Ort und Stelle angekommen. Inzwischen fehlt nur noch ein kleinerer Rest, weil das Virus es derzeit vollends unmöglich macht, Geld runterzubringen und eine Corona-Pause für die Syrienhilfe erzwungen hat.


Dieses Geld folgt, sobald die Wege wieder frei sind. Die Anstrengungen waren es trotzdem wert. Mit der Unterstützung meiner Familie konnte den Bedürftigen auf direktem Weg geholfen werden. Wir haben Arzneien und medizinische Produkte gekauft, Zelte, Decken, Matratzen, Kohlen zum Heizen, Wassertanks, Sanitäranlagen. Wir haben eine Bäckerei beauftragt, Brot zu backen, und OP’s finanziert.

Einzelne Frauen und Kinder wurden mit etwas Bargeld oder Lebensmitteltüten unterstützt. Ich konnte zusammen mit Menschen, die tatsächlich im Norden Syriens leben, direkt entscheiden, was wirklich wo gebraucht wird, wir waren nicht auf Leute angewiesen, die weit entfernt in Büros sitzen und von dort aus entscheiden sollen.

Den Rest der Welt nicht vergessen

Meine Spendenaktion ist kein Misstrauensvotum gegen Hilfsorganisationen. Meine eigenen Spenden gingen bisher an sie und werden künftig wieder an sie gehen. Aber in diesem speziellen Fall musste ich meine Verbindungen nach Syrien nutzen und selbst aktiv werden.
Die Menschen in Syrien aber auch im Jemen, in Bangladesch, in Zentralafrika brauchen weiterhin Hilfe. Die Weltgemeinschaft darf die Geflüchteten und die Opfer von Krieg und Gewalt auf der Welt auch in Corona-Zeiten nicht vergessen.

Natürlich muss der Fokus im Moment darauf liegen, wie wir selbst mit der Bedrohung durch Covid-19 umgehen und wie wir die wirtschaftlichen Folgen dieser Krise überwinden. Doch wir dürfen darüber die Ärmsten der Armen nicht völlig aus dem Blick verlieren. Die UN, die G7 beziehungsweise G20, die EU, die WHO, der IWF müssen die Entwicklungen an solch sensiblen Orten unbedingt im Blick behalten und schnellstmöglich eingreifen.

Es geht dabei nicht nur um eine moralische Verpflichtung, sondern zugleich um Eigennutz: Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, betonte zu Recht, im Kontext einer globalen Pandemie erhöhe sich das Risiko einer weiteren Virusausbreitung für die ganze Welt, wenn in irgendeinem Land die medizinischen Bemühungen im Kampf gegen das Coronavirus unterbunden würden. Der Kampf gegen das Coronavirus in Syrien, im Jemen, in Bangladesch, Zentralafrika und anderenorts schützt uns hier in Deutschland ganz konkret vor weiteren Gefahren und gehört damit fest zu den Bemühungen um eine Eindämmung des Virus dazu.

Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.

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