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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Einfaches Erfolgsrezept Der Mann, der für die SPD 40 Prozent holen will
15 Prozent, mehr schafft die SPD im Bund nicht. In Hamburg dagegen nähert sich der Erste Bürgermeister Peter Tschentscher im Endspurt des Wahlkampfs der 40-Prozent-Marke. Wie macht er das?
Wenn die Grünen vom Zeitgeist geküsst sind, dann zeigt derselbe Zeitgeist der SPD gerade den Mittelfinger. Kohle und Diesel sind out, die Sozis irgendwie auch. Was macht man da, als Sozialdemokrat?
Peter Tschentscher schlendert über den Wochenmarkt in Fuhlsbüttel. Hände in die Taschen gegraben, graue Strickmütze auf dem Kopf. Er schnackt mit den Leuten von der Müllabfuhr und hört einer Geigenlehrerin zu, die Grundschullehrerin werden will. Ein Einkäufer ruft Tschentscher zu: "Sie müssen sich bekannter machen!" Tschentscher, Erster Bürgermeister der Stadt, lächelt. Das hört er öfter. Bis vor zwei Jahren war er Finanzsenator unter Olaf Scholz, bis dieser im Frühjahr 2018 als Vizekanzler und Finanzminister nach Berlin wechselte. Tschentscher rückte nach.
Er zeigt der Bundes-SPD, wie es geht
Zu Anfang galt er als unscheinbarer Bürokrat, als rechte Hand von Scholz, wenn es darum ging, das Geld zusammenzuhalten. Tschentscher? Mit dem Namen wussten viele in seinem ersten Jahr als Bürgermeister nichts anzufangen. Ob er im Laufe der vergangenen zwei Jahre zum Stadtvater geworden ist?
Jetzt, im Winter 2020, kämpft er zum ersten Mal um die eigene Wiederwahl. Am Sonntag wird in Hamburg gewählt. Tschentschers Motto: "Die ganze Stadt im Blick". So steht es auf den riesigen Plakaten, von denen Tschentscher einem überall in der Stadt ernst in die Augen schaut. So beschreibt sich wohl einer, der sich als Stadtvater sieht. Einer, der der darbenden Bundes-SPD zeigt, wie man deutlich über 30 Prozent in einer Landtagswahl erzielt.
Tschentscher vermittelt den Hamburgern ziemlich erfolgreich, dass er sich für das Wohlergehen der Stadt verantwortlich fühlt. In den Umfragen lag die SPD zuletzt zwischen 35 und 38 Prozent, sie hat wieder aufgeholt. Zwar wird sie aller Voraussicht nach gegenüber dem Wahlergebnis von 2015 (45 Prozent) verlieren, aber das, was zu Jahresbeginn kurz möglich schien, ist wohl aus SPD-Sicht doch nicht mehr zu befürchten – nämlich dass die Grünen, aktuell Koalitionspartner der SPD, die Roten zum Juniorpartner machen könnten.
Katharina Fegebank, derzeit Zweite Bürgermeisterin, will ganz an die Spitze. Zwischenzeitlich lagen beide Parteien in einer Umfrage gleichauf mit jeweils 29 Prozent. Da sind die Hamburger Sozialdemokraten kurzzeitig ins Schwitzen gekommen. Und Peter Tschentscher erklärte, er trete ausschließlich als Erster Bürgermeister an. Nur so könne er die Ziele der SPD umsetzen – einen einfachen Posten als Senator unter der Führung der Grünen schloss er aus.
Keine Wahlkampfhilfe von Esken und Walter-Borjans
Ein Wahlergebnis von 38 Prozent gilt in der Berliner Parteizentrale als traumhaft. Bundesweit liegen die Sozialdemokraten laut einer aktuellen Allensbach-Befragung bei 14,5 Prozent. Mit dem Chaos an der Spitze der SPD wollte Tschentscher bewusst nichts zu tun haben – auf die sonst übliche Wahlkampfhilfe durch die SPD-Führung, also Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, verzichtete er. Die Botschaft: Wir in Hamburg kriegen das allein hin.
Für das, was in Hamburg in den nächsten Jahren geregelt werden muss, hat Tschentschers Team ein Themenpaket ersonnen, das der Bürgermeister den Wählern bei seinen Auftritten wie eine Geschichte erzählt. Die geht so: Auf dem Wohnungsmarkt schießen die Preise – Miet- wie Kaufpreise – in astronomische Höhen (Wohnungsmarkt, Thema Nummer eins). Weil sich zu viele Menschen diese Preise nicht mehr leisten können, ziehen sie ins Hamburger Umland und müssen zur Arbeit in die Stadt pendeln.
Dort stehen sie dann im Stau und drängen sich in S- und U-Bahnen (Verkehr, Thema Nummer zwei). Weil S- und U-Bahnen aber nicht ausreichend ausgebaut sind, steigen die Pendler meistens doch lieber ins Auto und verpesten die Luft (Klima, Thema Nummer drei). Wenn sie bei der Arbeit angekommen sind, sind sie entweder, typisch Hamburg, in Industrie und Hafenlogistik tätig (Wirtschaft, Thema Nummer vier) oder in modernen Start-ups. Tschentscher, der Geschichtenerzähler, berichtet, was nah dran ist am Alltag der Menschen, um ihnen Politikinhalte zu vermitteln.
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Dass Hamburg in den vergangenen Jahren in ziemlich vielem erfolgreich war, verbucht Tschentscher für seine SPD – und spielt das voll aus. "Es ist ja Wahlkampf", sagt er dann mit einem feinen Lächeln, wenn er einen Werbeblock für die SPD einleiten und ein wenig gegen den grünen Koalitionspartner stänkern will.
Diese Werbeblöcke, so hört man aus seinem Umfeld, sind ihm am Anfang schwergefallen. Tschentscher kam nur schleppend in den Wahlkampfmodus. Das überrascht kaum, schließlich sind SPD und Grüne eigentlich ein gutes Team. Worüber also streiten?
"Bescheidenheit nützt nix, tut mir leid!"
Tschentschers Geschichte lautet deshalb: In Hamburg läuft vieles gut. Damit es so bleibt, muss die SPD weitermachen wie bisher. Und die Grünen mit Katharina Fegebank – die sind in Tschentschers Kampagnen-Tenor einfach zu chaotisch und zu radikal, um die Stadt zu führen. Tschentscher sagt: "Bescheidenheit nützt nix im Wahlkampf, tut mir leid!"
Peter Tschentscher läuft mit einem Kaffeebecher in der Hand weiter über den Markt in Fuhlsbüttel. Die Straßen sind gesäumt von kleinen Einfamilien- und Reihenhäusern, viele davon in typisch norddeutschem Rotklinker. Die Marktbuden verkaufen Pralinen, portugiesische Törtchen, viel Bio, Rentner klönen bei einem Kaffee. Wer Tschentscher hier begleitet, hört hinter seinem Rücken viel positives Raunen über den SPD-Mann. "Es ist doch angenehm, wenn die Leute sich so sachlich äußern", sagt ein älterer Mann. Olaf Scholz und Peter Tschentscher, das seien zwei ähnliche Typen, ähnlich pragmatisch, sagt die Sitznachbarin.
Der Unterschied: Peter Tschentscher mag die Menschen. Olaf Scholz fühlt sich vor allem unter Akademikern wohl. Marktauftritte und Begegnungen mit grantelnden Rentnern sind ihm, der als "Aktenfresser" gilt, zuwider. Tschentschers Ansatz dagegen: immer ran an den Bürger. Der 54-Jährige war vor seinem Einstieg in die Politik Mediziner, er arbeitete als Oberarzt im Zentrum für Diagnostik am Universitätsklinikum Eppendorf. Er stammt aus Bremen, ist verheiratet und hat einen Sohn.
Auf Wochenmärkten, in Schulen und auf der Straße reicht er den Menschen die Hand. Manchen stellt er sich vor. "Manchmal höre ich mir nur fünf Minuten an, was sie sagen", sagt er. "Das löst ihre Probleme nicht. Aber sie fühlen sich ein wenig besser." Tschentscher tourt jetzt schon zum zweiten Mal durch die 17 Hamburger Wahlkreise. Das erinnert an den Sachsen Martin Dulig (SPD), der ein ähnliches Dialogformat mit seinem Küchentisch veranstaltet.
Einer, der nichts übers Knie bricht
Beobachtet man Tschentscher bei seinen Auftritten, bekommt man eine Ahnung davon, was die SPD bundesweit anders machen müsste. Es ist sein Stil, der bei den Leuten gut ankommt. Tschentscher präsentiert seine Politik mit viel Sachkenntnis. Er ist ein unaufgeregter Typ. Wenn er seine Argumente aufzählt, spreizt er die Finger und umfasst jeden mit der anderen Hand, Punkt für Punkt. "Der bricht nichts übers Knie", sagt einer, der ihn gut kennt.
Manche meckern, Tschentscher habe kein Charisma. Jetzt könnte man einwenden: Was hat all das Charisma der Schröders, Steinbrücks und Gabriels der SPD in den vergangenen Jahren genützt? Vielleicht ist es genau das, was sich die Menschen von Politikern wieder wünschen – einen Fokus auf die Sachthemen, weniger Gepolter und vor allem weniger Nabelschau in Personaldebatten.
Doch nicht alle sind zufrieden mit dem, was er und seine Senatskollegen im Rathaus treiben. Zuletzt holte sie der Cum-Ex-Skandal wieder ein: Durch Medienberichte war Kritik daran aufgekommen, dass die Finanzbehörden der Hansestadt im Zusammenhang mit sogenannten Cum-Ex-Geschäften mutmaßlich auf 47 Millionen Euro der Warburg-Bank verzichten. Demnach wusste die Stadt spätestens seit 2016 von einem Anspruch. Damals war noch Olaf Scholz Bürgermeister, Tschentscher war Finanzsenator. Die Linke fordert einen Untersuchungsausschuss zu dem Thema.
Der Wohnungsmarkt – nicht zufällig Tschentschers Thema Nummer eins – ist ein riesiges Problem. Hamburgs Mieten sind in den vergangenen Jahren um 40 Prozent in die Höhe geschossen. Laut Wohnungsbaubericht des Senats fehlen 290.000 öffentlich geförderte Wohnungen. Der rot-grüne Senat kämpft dagegen an. Von einem Mietendeckel wie in Berlin will man hier nicht reden – auch wenn sich laut einer Umfrage von Infratest dimap 69 Prozent für mehr staatliche Eingriffe ausgesprochen haben. Die Hamburger Grünen wollen Mietwucher mit Bußgeldern bestrafen und faire Vermieter mit Steuervorteilen belohnen.
Die SPD will lieber bauen, bauen, bauen. Nach dem Prinzip Drittelmix sollen überall auch Sozialwohnungen in Neubauprojekten enthalten sein. Acht Euro pro Quadratmeter sollen andernorts Wohnungen mit einfacher Ausstattung in sogenannter Modulbauweise kosten, wo es dann eben keinen Fahrstuhl und keine Tiefgarage gibt. Davon will Rot-Grün 4.000 in der kommenden Legislaturperiode hochziehen. Auch Baulücken im Zentrum sollen geschlossen werden. Im Bezirk Hamburg-Nord ist der Neubau von Einfamilienhäusern laut Koalitionsvertrag verboten.
Die SPD hat also Ideen, aber die stoßen nicht überall auf Gegenliebe. Am Blumenstand auf dem Fuhlsbütteler Wochenmarkt regt sich eine Frau auf: "Diese gnadenlos hässliche Innenstadtverdichtung muss aufhören!" Tschentscher hält ihr entgegen: "Wir müssen zehn Prozent Wachstum bei den Wohnungen erreichen, das ist moderat." Sie ist unbeeindruckt. "Ihr dürft Hamburg nicht kaputtmachen!", ruft sie. "Machen wir auch nicht", sagt Tschentscher. Die Frau schiebt ihr Fahrrad weiter.
- Eigene Recherchen in Hamburg