Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Ausschluss aus der SPD Das Verteufeln Sarrazins wird kein Problem lösen
Jetzt ist er raus: Thilo Sarrazin darf nicht länger Mitglied der SPD sein. Der Parteiausschluss kommt zu spät – die Narben für die Deutschen muslimischen Glaubens sind geblieben, schreibt Lamya Kaddor.
Thilo Sarrazin wird nun zweimal in die Geschichte eingehen: zunächst als Wegbereiter für Pegida und die AfD. Dann als erster ehemals ranghoher Politiker und Bundesbanker, der explizit aufgrund von Anfeindungen gegen Musliminnen und Muslime aus einer großen deutschen Partei ausgeschlossen wurde – der über 150 Jahre alten SPD.
Der SPD selbst wird die jetzige Entscheidung allerdings nichts nutzen. Dafür kommt der Beschluss deutlich zu spät. Hätte sie parteipolitischen Profit ziehen wollen, hätte der Rausschmiss auf dem Höhepunkt der monatelangen "Deutschland schafft sich ab"-Debatte vor nunmehr zehn Jahren erfolgen müssen. Damals, als sich SPD-Granden wie Helmut Schmidt oder Klaus von Dohnanyi hinter den Neuautor Sarrazin gestellt haben. Damals, als sämtliche Medien von Flensburg bis Füssen, von "Die Glocke" bis zur "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", vom Stadtfernsehen bis zum ARD-Hauptprogramm Sarrazin wochenlang ein Forum geboten und seine Buchverkäufe in die Millionen getrieben haben. Damals hätte ein Parteiausschluss Wirkung entfalten können. Stattdessen scheiterte die SPD zweimal mit einem Parteiausschlussverfahren.
Bis heute ein Trauma für Deutsche muslimischen Glaubens
Wenn die Sozialdemokraten damals Haltung bewiesen hätten, wäre vielleicht auch eine Art Wiedergutmachung für die von Sarrazin so sehr angefeindeten Bevölkerungsgruppen möglich gewesen. Bis heute ist die Sarrazin-Debatte von 2010 vor allem für Deutsche muslimischen Glaubens oder türkischer, arabischer und nordafrikanischer Herkunft ein Trauma. Bis hinauf in die Bildungselite ließ der Hype um den Neuautor viele an einer Zukunft in diesem Land zweifeln. Der tiefsitzende Stachel ist zwar inzwischen entfernt worden, doch die Narben bleiben. Das Scheitern ist somit für viele Menschen mit Migrationshintergrund, aber auch für viele überzeugte Demokratinnen und Demokraten ohne Migrationshintergrund fest mit der SPD verknüpft.
Im Kampf gegen Islamfeindlichkeit im Speziellen und Rassismus im Allgemeinen wird der Parteiausschluss ebenfalls weitgehend wirkungslos verpuffen. Kein einziger Mensch in Deutschland wird dadurch weniger islamfeindlich oder weniger rassistisch sein. Weil die SPD-Entscheidung zu einem Zeitpunkt kommt, an dem sich die Hetzer im Aufwind sehen, werden diese den Parteiausschluss vielmehr dafür nutzen, weiter gegen "das System", "die Einheitsparteien", "die Medien" zu wettern.
Die Täter-Opfer-Umkehr ist ja längst im Gange. So wie die Hater versuchen, aus Sarrazin einen Leidtragenden zu machen, werden sie sich selbst zu Leidtragenden stilisieren. Das tun sie selbstverständlich nicht auf direktem Wege, sondern sie werden dabei hinter heuchlerischen Hinweisen auf eine angeblich bedrohte Meinungsfreiheit in Deckung gehen.
Man wird dieses Verhalten in den nächsten Tagen und Wochen nicht nur bei Sarrazin-Jüngern beobachten können. Auch in jenen, die ihm zwar nicht an den Lippen hängen, die aber die Grundausrichtung seiner Wirkungsmacht gegen Einwanderer, Geflüchtete und Menschen mit Migrationshintergrund teilen, wird der Ex-SPD-Mann weiterhin Verteidiger finden.
Dennoch war es richtig, dass die Parteiführung am Ausschlussverfahren festgehalten hat. Zum einen, weil Sarrazin damit das Deckmäntelchen des Sozialdemokraten genommen wurde. Zum anderen, weil es im Kampf gegen Islamfeindlichkeit und Rassismus nun etwas Schriftliches gibt. Und bei uns in Deutschland zählt bekanntlich vor allem das, was auf dem Papier steht. So ein Dokument liegt nun vor – unabhängig davon, ob ein Einspruch von Sarrazin dagegen irgendwann Erfolg haben sollte.
Sarrazin darf nicht zum Bauernopfer gemacht werden
Zum Schluss muss man nur noch vor einem warnen, aus Sarrazin selbst einen "Teufel" zu machen. Der Mensch Thilo Sarrazin ist nicht aus eigener Kraft zu dem geworden, für das er heute steht. Erst die gesellschaftlichen und politischen Strukturen haben ihn zu dieser Figur, zu diesem Symbol werden lassen. Seine "Erzählungen" markieren einen Dammbruch im gesellschaftlichen Diskurs, denn seitdem ist völkisches Gedankengut sagbar geworden.
Er darf dennoch nicht zum Bauernopfer gemacht werden. Das Verteufeln Sarrazins wird kein Problem lösen. Es erscheint zwar einfach und bequem, alles Übel der Welt auf eine Person abzuladen, um die Sache schnell abhaken zu können. Doch um die eigentliche Auseinandersetzung mit dem strukturellen Rassismus in Teilen unserer Gesellschaft werden wir nicht herumkommen – Sarrazin hin oder her.
Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e. V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.