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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Attentat in Berlin Russland unter Mordverdacht – Details werden bekannt
Nach dem Mord an einem Georgier legen Ermittler die Indizien offen. Sie verdächtigen den russischen Staat. Zwei russische Botschaftsmitarbeiter müssen ausreisen.
Im Zusammenhang mit dem Mord an einem Georgier in Berlin hat das Auswärtige Amt zwei Mitarbeiter der russischen Botschaft zu unerwünschten Personen erklärt. Mit diesem Schritt reagiere die Bundesregierung darauf, dass die russischen Behörden "trotz wiederholter hochrangiger und nachdrücklicher Aufforderungen nicht hinreichend bei der Aufklärung des Mordes" mitgewirkt hätten, erklärte das Ministerium. Auch Kanzlerin Merkel warf Moskau fehlende Kooperationsbereitschaft vor. Russland kündigte "Vergeltungsmaßnahmen" an.
Ermittlungen decken sich mit Recherchen
Es gibt seit Längerem Hinweise darauf, dass der mutmaßliche Mörder im Auftrag von staatlichen russischen Stellen gehandelt haben könnte. Der Verdächtige war direkt nach der Tat festgenommen worden und schweigt seitdem. Er reiste unter falschen Personalien. "Der Spiegel" und "Bellingcat" hatten zahlreiche Indizien zusammengetragen, die auf eine Verstrickung des russischen Staates deuten.
Der 40 Jahre alte Tschetschene mit georgischer Staatsangehörigkeit war am 23. August in einem kleinen Park in Berlin-Moabit von hinten erschossen worden. Sein Mörder hatte sich ihm tagsüber auf einem Fahrrad genähert und auf Rücken und Kopf gezielt. Zeugenhinweise führten zu seiner zeitnahen Festnahme. Seitdem schwieg er in den Befragungen.
So kamen die Ermittler auf die russische Spur
Nun übernimmt der Generalbundesanwalt aufgrund der besonderen politischen Bedeutung die Ermittlungen. Vorab hatte t-online.de bereits am Dienstag über die Entscheidung berichtet. Die Bundesanwaltschaft verfolgt den Verdacht, dass staatliche Stellen in Russland oder der autonomen Republik Tschetschenien dahinterstecken, wie die Behörde am Mittwoch mitteilte. In seltener Transparenz legte sie die bisherige Beweislage weitgehend offen. Sie deckt sich mit den von den Ermittlungen unabhängigen Medienberichten.
Die Erkenntnisse im Einzelnen:
1) Demnach reiste der Mann unter dem Alias "Vadim Sokolov", heißt aber eigentlich Vadim K. – "Bellingcat" hatte zuvor berichtet, es handele sich um Vadim Krasikov. Die Bundesanwaltschaft glich Lichtbilder des beschuldigten mit polizeilichen Fahndungsdatenbanken ab. Ein Behördengutachten des Landeskriminalamts kam anschließend zum Schluss, dass es sich bei "Sokolov" und K. um ein und dieselbe Person handelt.
Zu K. habe eine russische Fahndungsmitteilung wegen Mordes vom 23. April 2014 vorgelegen, die einige Monate später ergänzt und 2015 schließlich gelöscht worden sei. Aufzeichnungen der Tat in Moskau zeigen demnach den gleichen "Modus Operandi" während der Tat.
2) Die Identität "Vadim Sokolov" trat den Angaben der Ermittler zufolge 2015 zwei Monate nach Löschung der Fahndungsmitteilung in Erscheinung – in einem russischen Inlandsreisepass.
3) Diese Identität führte auch der Beschuldigte laut seinem bei der Festnahme am 23. August festgestellten Reisepass in Berlin. Die russischen Behörden haben bestätigt, dass es ein echtes Ausweisdokument ist.
4) Mit dieser Identität reiste er auch eine Woche zuvor per Flug von Moskau über Paris ein. Dafür nutzte er ein Visum für den Schengen-Raum. Beigefügt war den Ermittlungen zufolge eine Arbeitgeberbescheinigung des Unternehmens "ZAO RUST" in St. Petersburg.
Es gibt eine Stelle als Bauingenieur an mit einem Verdienst von rund 1.100 Euro – das Unternehmen befinde sich laut Regiestereintrag allerdings seit April in "Reorganisation", heißt es seitens der Bundesanwaltschaft. Ein Gewinn werde der laut der Daten kaum erwirtschaftet. 2019 habe es nur einen einzigen Mitarbeiter gehabt.
Eine dem Unternehmen zugeordnete Faxnummer war demnach auch Unternehmen des russischen Verteidigungsministeriums zugewiesen. Sie hießen "Oboronenergosbyt" sowie "Oboronenergo".
5) Drei Tage nach seiner Ankunft, drei Tage vor der Tat, reiste der mutmaßliche Attentäter den Ermittlungen zufolge per Flug weiter nach Warschau. Dort habe er sich vermutlich bis zum Tag vor der Tat aufgehalten – allerdings nicht in dem Hotel, das er gebucht hatte. Persönlich habe er das Opfer in Berlin also wohl nicht ausgespäht oder die Tat logistisch vorbereitet. Die Frage nach möglichen Mittätern lässt die Mitteilung der Bundesanwaltschaft offen.
6) Zusätzlich zu all diesen Indizien sei das Tatopfer von russischen Behörden als "Terrorist" eingestuft worden. Demnach habe ihm Russland vorgeworfen, als Mitglied des "Kaukasischen Emirats" im zweiten Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft zu haben. Seine eigenen Angaben decken sich mit Medienberichten, wonach er später auch im Auftrag der georgischen Regierung eine Kampfeinheit im konfliktreichen Südossetien aufstellte. Laut seinen eigenen Angaben planten russische Behörden schon seit dieser Zeit ihn zu töten.
7) Ein Unbekannter versuchte das Tatopfer von Berlin bereits 2015 in der georgischen Hauptstadt Tiflis mit insgesamt acht Schüssen zu töten.
8) Es gibt den Angaben zufolge bislang keine Hinweise auf einen Auftrag eines nicht-staatlichen Akteurs für die Tat. Es gebe auch keine Bezüge zu organisierter Kriminalität oder Islamismus. Zwischen dem Opfer und dem mutmaßliche Täter gibt es demnach keine bekannte Verbindung und somit auch kein Motiv.
Russland kündigt rasche Antwort an
Nach seiner Flucht aus Georgien hatte der Getötete in Deutschland einen Asylantrag. Dort lebte er seit 2016. Russland weist jede Verwicklung in den Mord an einem Georgier in Berlin von sich. "Das ist eine absolut haltlose Spekulation", sagte der Sprecher des Kreml, Dimitri Peskow. Das russische Außenministerium bezeichnete die Ausweisung seiner Botschaftsmitarbeiter als "unfreundlich und grundlos" und kündigte "eine Reihe von Vergeltungsmaßnahmen" an, die nach Worten von Außenminister Sergej Lawrow nicht lange auf sich warten lassen würden.
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Bundeskanzlerin Angela Merkel hingegen warf der russischen Seite fehlende Unterstützung bei der Aufklärung des Mordes vor. "In den bilateralen Beziehungen ist es natürlich schon ein Ereignis, dass wir eben von Russland leider keine aktive Hilfe bei der Aufklärung dieses Vorfalls bekommen haben", sagte sie. Auswirkungen auf den bevorstehenden Ukraine-Gipfel befürchte sie nicht.
- Bundesanwaltschaft: Pressemitteilung vom 4.12.2019
- mit Material der Nachrichtenagenturen dpa, AFP