Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Queere Formate im Fernsehen Minderheiten im TV sind keine Bedrohung
Überall Schwule, Transgender und andere Minderheiten oder Subkulturen. ProSieben sendet "Queen of Drags", RTL setzt auf "Prinz Charming" und die ARD zeichnet Geschichten über Randgruppen aus. Ist das nicht alles zu viel? Überfordert das die Gesellschaft nicht? Unsere Kolumnistin Lamya Kaddor hat darüber nachgedacht.
Rücken wir Minderheiten zu stark in den öffentlichen Fokus? Zu viele Extrawürste für Subkulturen? Bekommt jeder Szenegänger mehr Aufmerksamkeit als der normale Bürger? Überfordern wir gegebenenfalls damit die Gesellschaft? Man könnte derzeit auf diese Gedanken kommen.
ProSieben hat die Casting-Show "Queen of Drags" ins Programm genommen. Außerirdisch, galaktisch, anders sei sie, sagt Bill Kaulitz. Er ist Co-Moderator der im normalen Leben als "Modelmama" agierenden Heidi Klum und des Travestiekünstlers Conchita (Wurst). Ihre Sendung soll die queeren Lebensweisen und vor allem jene Männer feiern, die als humoristische Kunstform Weiblichkeit durch Aussehen und Verhalten übertrieben darstellen.
Darüber hinaus ist seit Kurzem auf Netflix die 2. Staffel von "Pose" verfügbar. Hier steht die Transfrau Blanca Rodriguez-Evangelista im Mittelpunkt. Sie mischt die afroamerikanische und lateinamerikanische Ballroom-Szene im New York der 1980er und 90er Jahre auf und erlebt dabei den Siegeszug des Voguing-Tanzstils.
RTL startet die Datingshow "Prinz Charming" – und "feiert die schwule Community", wie es in der Eigenwerbung heißt. Plakate für die homosexuelle Version vom "Bachelor", in der Prinz Nicolas Puschmann seinen Herzherren aus "20 attraktiven Single-Männern" aussuchen kann, hängen in ganz Deutschland, Programmspots laufen.
Überall LGBT – dabei sind das nicht viele
Der LGBT-Anteil an der Bevölkerung in Deutschland – also der Anteil der Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender – liegt einer Umfrage von 2016 zufolge bei 7,4 Prozent. Mögen diese Ergebnisse auch nur eine Annäherung sein, weil das Messinstrument ungenau ist, so stellt der verdutzte "Normalo" doch fest, das sind echt nicht so viele.
"Chinchilla Arschloch, waswas." Wie bitte? Ich saß dieses Jahr in der Jury des Deutschen Hörspielpreises der ARD und vergangene Woche haben wir die Sieger gekürt. Die Auszeichnung ging an Helgard Haug und Thilo Guschas für ihr Stück mit dem ungewöhnlich Chinchilla Arschloch-Titel. Und auch in dieser WDR-Produktion geht es um eine "Randgruppe": Menschen mit der neuropsychiatrischen Störung des Tourette-Syndroms. Sie werde durch "Tics" erkennbar, spontane Bewegungen, Wortäußerungen oder Laute, die ohne ihren Willen zustande kommen. Vagen Schätzungen zufolge sind laut der Tourette-Gesellschaft Deutschland 0,4 bis 0,7 Prozent der Bevölkerung betroffen.
Die Kolleginnen und Kollegen, die den Deutschen Kinderhörspielpreis vergaben, zeichneten Angela Gerrits für "Eineinhalb Wunder und ein Spatz" aus. In dieser Produktion des Hessischen Rundfunks und des Deutschlandfunk Kultur geht es um ein Flüchtlingskind, das abgeschoben wird. Und auch dreht sich wieder alles um eine Minderheit; laut dem Mediendienst Integration lebten Ende Juni ungefähr 1,3 Millionen Geflüchtete in Deutschland, nur rund ein Drittel davon sind Minderjährige.
Wird die Mehrheit unter all den Minderheiten vergessen?
Warum der Hype um kleine Teile der Bevölkerung? Warum müssen wir über Veganismus, Zero-Waste, Abstinenz und sonstige "Seltsamkeiten" des Alltags reden? Erleben wir eine Rückkehr der Belle Époque, in der man vor lauter Faszination für die zahlenmäßig geringe Bohème scheinbar die schwer schuftenden Arbeiter und Bauern in den Fabriken, Bergwerken und auf dem Land vergaß – wessen man sich erst nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs gewahr wurde? Ist es nicht einfach zu viel an Besonderheiten, die heutzutage auf uns einprasseln?
Man kann, wie gesagt, durchaus auf diese Idee kommen. Allzu oft geht es in Öffentlichkeit und Politik tatsächlich nicht um die Mitte der Gesellschaft, sondern um deren Ränder. Das schürt bei vielen Unzufriedenheit. Bei manchen reift deshalb sogar Wut heran, und mit ihr wächst die Gefahr, dass sie sich irgendwann entlädt. Der derzeitige Zuspruch für Rechtsradikale und Rechtspopulisten ist ein Ausdruck davon.
Bis zu einem gewissen Grad ist es jedoch nicht ungewöhnlich, das Sonderbare und Abweichende heller zu beleuchten als das Normale. Denn das ist es schließlich, was uns Menschen interessiert und anlockt. Es liegt in unserer Natur. Dieser Trieb erlangte mit den Völkerschauen einen Höhepunkt – oder besser gesagt einen Tiefpunkt. In einer Mischung aus Neugier und Ekel flanierte das Volk durch die Menschenzoos und bestaunte die ausgestellten Vertreter fremder Kulturen. Noch heute scheint es Relikte davon zu geben, wenn man sich die folkloristischen Klischee-Inszenierungen für Ethnotouristen in Hotelanlagen wachruft: Hüften schwingende Polynesierinnen in Baströcken, trommelnde und stampfende Massai mit beinah handtellergroß geweiteten Ohrlöchern.
Mein Lebensmotto: Leben und leben lassen
Als aufgeklärte Menschen des 21. Jahrhunderts sollte es uns jedoch irgendwann gelingen, die Attitüde dieser Arroganz abzulegen und die menschliche Vielfalt endlich als den eigentlich normalen Zustand zu akzeptieren. Die Welt, in der wir leben, ist nun einmal ein Ort voller Diversität und Pluralismus und wird es auf absehbare Zeit bleiben. Mit diesem Faktum setzt man sich besser heute als morgen auseinander! Unser Land verändert sich.
Mein Lebensmotto war schon immer: leben und leben lassen. Von daher fällt mir Wandel und Veränderung an dieser Stelle vielleicht einfacher als anderen. Dafür stehe ich anderenorts tagtäglich vor der Herausforderung, die mir zugegebenermaßen nicht immer leicht fällt, bestimmte Randgruppen und Minderheiten zu tolerieren: Rechtspopulisten, Islamisten, Identitäre, Deutschomanen und alle sonstigen, die mir als liberale Muslimin mit syrischen Wurzeln Hass und Antipathie entgegenbringen. Im Umgang mit ihnen muss ich mich täglich trainieren und an meine demokratische Gesinnung appellieren: Der wichtigste Teil einer funktionierenden Demokratie ist nicht die Mehrheit, sondern die Minderheit!
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Wenn man jedoch Minderheiten übertrieben stark in den Vordergrund rückt, verliert man die Mitte der Gesellschaft, und ohne diese ist kein Staat zu machen. Die Lösung heißt nun aber nicht, weniger Minderheiten zu thematisieren, sondern öfters auf die Mehrheit zu schauen. Außerdem müssen Veränderungsprozesse in einer Gesellschaft erklärt und aktiv begleitet werden. "Queen of Drags", "Pose", "Prinz Charming" und andere Programme sind keine Bedrohung. Solche Formate machen nur einen geringen Teil des Unterhaltungsangebots aus; "Prinz Charming" läuft sogar nur im Stream und nicht im RTL-Hauptprogramm. Und schließlich verfügen wir über eine grundlegende Freiheit: Wir können einfach wegzappen, weggucken oder weggehen, wenn uns etwas nicht gefällt.
Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.