Ruf nach Meinungsfreiheit Sind wir ein Volk von Mimosen geworden?
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Wer heutzutage lästige Kritik loswerden oder Widerspruch unterdrücken will, beschwört die angeblichen Gefahren für die Meinungsfreiheit in Deutschland. Sind wir eigentlich zu einem Volk von Mimosen geworden?
Der Ruf nach Meinungsfreiheit ist eine Keule im öffentlichen Diskurs geworden, die einen zumeist von rechts trifft. Das Schlagwort verkommt dabei zusehends zur Worthülse. In den Händen von Rassisten, Rechtspopulisten und Rechtsradikalen soll es heute primär eines bewirken: Gegenrede totschlagen und die eigene "Meinung" zum Mainstream ohne Widerspruch machen. Wir erleben keinen Kampf um Meinungsfreiheit, sondern einen um politische Ideologien.
Mir kam die inzwischen so viel bemühte "Losung" Voltaires: "Ich lehne ab, was Sie sagen, aber ich werde bis auf den Tod Ihr Recht verteidigen, es zu sagen", vor vielen Jahren das erste Mal unter, als es darum ging, pauschalisierende und abwertende Meinungen gegenüber Muslimen oder dem Islam zu etablieren. Schon damals ging es den falschen Voltaire-Jüngern primär darum, sich der lästigen Kritik zu entledigen, mit der "Links-grün-Versiffte" anderen ihre Menschenverachtung aufzeigten.
Künast-Beleidigungen und Weidel-Satire sind verschieden
Inzwischen schlagen diese Meinungsfreiheitspolitiker noch einen weiteren Bogen, um selbst vulgäre Beschimpfungen für legitim zu erklären. Die Entscheidung des Berliner Landgerichts, die Grünen-Politikerin Renate Künast dazu zu verdonnern, Äußerungen wie "Geisteskranke", "Drecks-Fotze" und "Stück Scheiße" hinzunehmen, ist zu Recht als Skandal kritisiert worden; und wird hoffentlich bald revidiert. Doch die vermeintlichen Meinungsfreiheitskämpfer freuen sich über das Urteil, weil es eine Grüne betrifft, oder sie relativieren es, indem sie einen Vergleich zum Fall der AfD-Politikerin Alice Weidel ziehen, die laut Hamburger Landgericht "Nazi-Schlampe" genannt werden durfte.
Dabei wissen sie genau, dass die Anfeindungen gegen Künast bitterer Ernst war, während es sich bei Weidel um eine Überspitzung durch das NDR-Satire-Format "extra3" gehandelt hat. Nun, Sachargumente spielen bekanntlich keine Rolle in diesen Kreisen.
Manchmal endet die aufkommende Hysterie in Sachen Meinungsfreiheit in einer Sackgasse. Das demonstrierte Weidel an diesem Wochenende, als sie, wie t-online.de berichtete, versehentlich einen eigenen Anhänger des Saales verweisen ließ, weil sie offenbar dessen Klopfen auf die Brust nach einem Hustenanfall für eine Kopf-ab-Geste hielt. Bei allem Verständnis für die Empörung über Anfeindungen, denen Weidel sich im Alltag ausgesetzt sieht, es ist gerade ihre Partei, die, wenn es ihr passt, am lautesten nach Meinungsfreiheit schreit, den SPD-Politiker Michael Roth jedoch abmahnen lässt, weil dieser einen Bezug zwischen AfD und Rechtsterrorismus herstellt.
Das lernt man schon auf dem Spielplatz
Beleidigungen, Hetze oder falsche Behauptungen in Bezug auf einen Menschen oder auf eine Menschengruppe haben nichts mit Meinungsfreiheit zu tun. Sie sind in der Regel illegal – egal von wem sie kommen. Das gilt insbesondere, wenn die beabsichtigte Verunglimpfung an Eigenschaften geknüpft wird wie Herkunft, sexuelle Orientierung, körperliche Einschränkung und bis zu einem gewissen Grad auch religiöse und weltanschauliche Überzeugungen, sprich alles, was einen Menschen qua Geburt an biologischen Merkmalen mitgegeben wurde und man nicht ablegen kann.
Der Schutz wird umso wichtiger, je mehr es um Minderheiten oder Gruppen in schwächeren, marginalisierten Positionen geht. Sich über den "alten weißen Mann" auszulassen, ist hierzulande etwas anderes, als über Trans*Menschen herzuziehen. Wenn eine Minderheit eine Mehrheit verbal attackiert, ist das qualitativ etwas anders, als wenn eine Mehrheit auf eine Minderheit losgeht; je kleiner und verletzlicher die Minderheit, desto relevanter ist der Unterschied.
Positioniert sich eine Mehrheit gegen eine Minderheit, kann es für die Minderheit schnell existenziell werden, umgekehrt ist das weitgehend ausgeschlossen. Das lernt man schon im Kindergarten und auf dem Spielplatz.
Druck auf die Hater muss steigen
Von daher ist es keine Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern nur folgerichtig, wenn das Bundeskabinett Social-Media-Plattformen nun dazu zwingen will, Hasssprache nicht nur zu löschen, sondern ebenso einer strafrechtlichen Verfolgung zugänglich zu machen. Ich kann nur allen raten, ob privaten oder öffentlichen Personen, wenn es sie trifft, konsequent Anzeige zu erstatten. Unsere Justiz ist zwar schon überlastet, doch das kann kein Grund dafür sein, massenhaft etwaige Rechtsverstöße laufen zu lassen.
Angesichts des massiven Problems der Hassrede fordert die gesellschaftliche Realität nolens volens zusätzliches Personal in der Justiz. Das ist nun einmal die Folge der sozialen Veränderungen, die uns das Internet gebracht hat. Wo früher maximal der Stammtisch die Hassparolen mitbekam, ist es heute wegen Instagram, Twitter, Facebook und Co. eben die breite Öffentlichkeit. Auch da ist es ein richtiges Signal, wenn der Bund dafür nun neue Strukturen etwa beim Bundeskriminalamt schaffen will. Die Länder müssen dem folgen.
Mir selbst geht es dabei weniger um die tatsächliche Bestrafung jedes einzelnen Täters oder jeder einzelnen Täterin. Gewiss muss man bestimmte Dinge sanktionieren. Wichtiger aber ist: Der Druck auf die Hater muss weiter steigen. Wir müssen eine gesellschaftliche Sensibilisierung erreichen und bestimmte Äußerungen ächten. Denn auch Äußerungen, die legal sind, können gefährlich sein.
Sprache schafft Wirklichkeit
Man kann in diesem Sinn zwar einfach alles raushauen, was einem so durch den Kopf geht, aber das zieht eben auch reale Konsequenz nach sich. Sprache schafft Wirklichkeit. Für einen selbst. Und für unbeteiligte Dritte. Wenn ich in meinem Zorn die Gewaltanwendung eines Geflüchteten pauschalisiere, dann treffe ich damit ebenso Geflüchtete, die sich tadellos verhalten. Deren tadelloses Verhalten nützt ihnen dann nur wenig, wenn Mitmenschen in ihnen wegen meiner Worte potenzielle Gewalttäter sehen. Das macht dann was mit diesen tadellosen Geflüchteten – früher oder später.
Meinungsfreiheit im eigentlichen Sinn ist in erster Linie ein Recht gegenüber dem Staat. Der Staat mit seinen überwältigenden Mitteln der Exekutive muss davon abgehalten werden, Meinungen zu unterdrücken oder Zensur zu betreiben, also Informationskontrolle mithilfe seines Machtapparats. Davon sind wir in Deutschland allerdings weit entfernt. Gerade die Möglichkeiten von Widerspruch gegen Menschenverachtung zeichnen die Meinungsfreiheit in unserem Staat aus. Zudem hat die bisherige Rechtssprechung die Meinungs- und Informationsfreiheit in der Vergangenheit sehr oft über die Persönlichkeitsrechte von Menschen gehoben.
Keinen Anspruch, dass Haltung widerspruchslos bleibt
Das ist – abgesehen von solchen Ausfällen wie am Landgericht Berlin – auch gut so, schließlich ist Meinungsfreiheit ein hohes Gut, das nicht zuletzt für meine eigene Arbeit essenziell ist. Die echte Meinungsfreiheit jenseits rechtspopulistischer Instrumentalisierung muss daher unbedingt verteidigt werden.
Wo die Grenzen sind, bestimmt das Strafrecht, und was das Strafrecht an dieser Stelle bestimmt, muss eine Gesellschaft miteinander aushandeln und von seiner Legislative umsetzen lassen. Das machen wir derzeit. Deshalb haben all die Debatten etwas Gutes.
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Ein Bernd Lucke muss selbstverständlich an seiner Universität unterrichten können. Der Staat hat hier die Pflicht zu verhindern, dass er daran gehindert wird. Das gilt für jeden, gleichgültig ob jemand die AfD mitbegründet oder den Friedensnobelpreis bekommen hat. Zugleich muss es Studierenden möglich sein, gegen Lucke zu protestieren. Auch er hat keinen Anspruch darauf, dass seine Haltungen widerspruchslos hingenommen werden.
Und auch die Irritationen von FDP-Chef Lindner sind nachvollziehbar, wenn er an der Uni Hamburg nicht reden darf, Auftritte von Sahra Wagenknecht (Die Linke) und Kevin Kühnert (SPD) indes unproblematisch sind. Mit mangelnder Meinungsfreiheit hat das allerdings nichts zu tun, sondern entweder mit schwammigen Regelungen der Uni oder mit deren inkonsequenter Anwendung.
Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.