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Frankfurt: Bahnsteig-Mord an Kind – Herkunft des Täters spielt keine Rolle


Meinung
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Kind vor ICE gestoßen
Die Nationalität des Täters tut nichts zur Sache

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

Aktualisiert am 02.08.2019Lesedauer: 5 Min.
Frankfurt: Polizisten und Feuerwehrleute spannen im Hauptbahnhof eine weiße Plane als Sichtschutz vor einen ICE. Ein achtjähriger Junge ist im Frankfurter Hauptbahnhof von einem Mann vor den einfahrenden ICE gestoßen und getötet worden.Vergrößern des Bildes
Frankfurt: Polizisten und Feuerwehrleute spannen im Hauptbahnhof eine weiße Plane als Sichtschutz vor einen ICE. Ein achtjähriger Junge ist im Frankfurter Hauptbahnhof von einem Mann vor den einfahrenden ICE gestoßen und getötet worden. (Quelle: dpa)
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Nach der grausamen Tat von Frankfurt bestimmen Hetze und Gegenrede die Debatte. An den eigentlichen Problemen rauschen wir vorbei. Daraus gilt es Lehren zu ziehen, kommentiert Lamya Kaddor.

Als die Nachricht vom Tod eines achtjährigen Jungen, den ein Mann zusammen mit dessen Mutter vor einen einfahrenden Zug im Hauptbahnhof Frankfurt am Main gestoßen hatte, über die Handys tickerte, begann die Suche nach Hinweisen auf die Herkunft des Täters: Eritrea. Aus der ethnischen Herkunft beziehungsweise der Nationalität wurden die ersten Schlüsse auf die Ursache der Tat gezogen. Ausfälle inklusive.

Auf dem Twitter-Account von Verena Hartmann, Bundestagsabgeordnete der AfD, tauchte die – inzwischen gelöschte – Botschaft auf: "Frau Merkel, was wollen Sie uns noch antun? Sie werden nie wissen, was es bedeutet, Mutter zu sein, weder für ein Kind, noch für dieses Land! Aber ich verfluche den Tag Ihrer Geburt."

Solche Äußerungen empörten viele andere. Der Chefredakteur "Der Welt", Ulf Poschardt, sprach von "einer Schande für Deutschland" und von "Niedertracht als Leitkultur für Verlierer". Der Comedian Oliver Pocher schrieb, solange Abgeordnete wie Hartmann für die AfD im Bundestag sitzen, brauche man "mit euch nicht diskutieren".

Solche Gegenrede ist richtig und wichtig. Und dennoch bleibt ein fader Beigeschmack: Hier stirbt ein Kind bei einer unfassbar sinnlosen Tat und das Land ergeht sich in Schuldzuweisung und Schuldabwehr. Diese Abläufe sind beinah ritualisiert und werden sich bei jeder weiteren Tat so ähnlich abspielen, womit sie uns zielsicher an den eigentlichen Problemen vorbeisteuern, wenn wir nicht aktiv etwas dagegen setzen.

Mehr Empathie mit den Opfern

Im Fokus stehen immer die Täter. Jedes kleinste Detail ihres Lebens wird an die Oberfläche gezogen. Bis zu einem gewissen Grad ist es nötig, sie zu durchleuchten, um ihr Handeln im Sinne einer adäquaten Gegenwehr besser zu verstehen. Aber warum gibt es keine Interviews mit Psychologen, die versuchen zu verdeutlichen, was es mit einer Mutter macht, wenn sie ihr Kind auf so unbegreifliche Weise verliert?

Was raten Seelsorgerinnen? Welche Möglichkeiten gibt es, Schicksalsschläge wie diesen zu verarbeiten? Was sagen Eltern, die Ähnliches erfahren haben? Wie kann das private Umfeld jemandem helfen, dem so etwas passiert ist? Wie findet man die richtigen Worte für Hinterbliebene? Was tun Fremde? Posten sie Mitleidsbekundungen, bringen sie Blumen an den Tatort, sprechen sie ihre eigenen Ängste vor solchen Geschehnissen an?

Empathie mit Opfern zu erzeugen, ist eine Präventionsmaßnahme. Täter in den Mittelpunkt zu rücken, kann indes leicht das Gegenteil bewirken: Nachahmungseffekte. Doch ungeachtet dessen liegt die Aufmerksamkeit bei der Gleis-Attacke von Frankfurt allein auf dem Täter, weshalb man dazu einiges anmerken muss.

"Gut integriert"? Ist für den Fall unerheblich

Die Herkunft des Mannes spielt für die Sachlage keine Rolle. Sie müsste nicht genannt werden. Es ist schließlich auch in Eritrea nicht üblich, Menschen vor Züge zu stoßen. Die Herkunft ist keine Erklärung für die Gräueltat, genauso wenig wie sich die Amokfahrt von Münster 2018 mit vier Toten dadurch begründen lässt, dass der Täter Deutscher ohne Migrationshintergrund ist. Es ist somit ebenso unerheblich, ob der "Eritreer" bisher "gut integriert gewesen" ist, wie so viele betont haben. Allein die Annahme basiert auf rassistischen Grundmustern, beim Amokfahrer in Münster wäre "gut integriert gewesen" schließlich niemandem in den Sinn gekommen.

Die Herkunft eines Menschen ist kein politisches Statement, solange sie nicht dazu gemacht wird – etwa im Sinne von Nationalismus. Flüchtling zu sein ist keine gewählte politische Ideologie, nach der ein Mensch handelt. Straftaten von Rechtsextremisten lassen sich deshalb nicht mit den Straftaten von Flüchtlingen vergleichen und auf eine Stufe stellen.

Der Mann aus Eritrea hat nach bisherigem Kenntnisstand nicht etwa "flüchtlingistisch" oder "migrantistisch" gehandelt. Das ist absurd. Folglich muss man ihn auch nicht aus Gründen der Gleichbehandlung als Flüchtling benennen. Er hat niemanden für eine höhere Sache anspornen wollen wie Rechtsextremisten, Islamisten oder andere. Er sandte nicht die Botschaft aus: Tut es mir gleich, stoßt Menschen in Bahngleise.

Erst wenn sich durch das jetzt in Auftrag gegebene psychologische Gutachten herausstellen sollte, dass mögliche Traumata aus der Vergangenheit des Mannes in Eritrea, seelische Verletzungen durch seine Fluchterfahrung oder Leid durch Diskriminierung eine Rolle für die Tat gespielt hätten, würde sich die Sachlage ändern. Dann wird die Herkunft zu einem Mosaikstein für die Tatbegründung und gehört in die Debatte.

Wo der Täter von Frankfurt herkam? Tut nichts zur Sache

Viele Beobachter verknüpfen die Frankfurter Tat mit der Einwanderungs- und Sicherheitspolitik und verweisen deshalb auf die Herkunft. Auch das ist problematisch. Beide Themen sollten getrennt voneinander betrachtet werden. Staaten beziehungsweise die Europäische Union müssen wissen, wer sich innerhalb ihrer Grenzen aufhält. Gefährder müssen erkannt und gegebenenfalls nach geltendem Recht abgeschoben werden. Das ist das Eine.

Das Andere ist die aktuelle Tat. Denn bei jemandem, der offenbar ohne ideologisches Ziel oder kulturelle Bedingtheiten handelt, sondern aus einem Affekt heraus oder weil er psychisch erkrankt ist, tut es nichts zur Sache, wo und wie er herkam, wo er oder seine Vorfahren geboren wurden, wo er heute lebt oder an was er glaubt. Er ist an dieser Stelle bloß ein Mensch.


Anders sah es zum Beispiel bei der Kölner Silvesternacht von 2015/2016 aus. Hier spielte die nordafrikanische Herkunft der meisten Männer, die Frauen auf der Domplatte bedrängt, bestohlen und sexuell attackiert haben, durchaus eine Rolle. Zum einen handelten sie in Gruppen, zum anderen war ihr Vorgehen neu für Deutschland, während es in Nordafrika eine eigene Bezeichnung dafür gibt: "Taharrusch". Auch bei den Ausschreitungen in Freibädern kann man annehmen, dass das Verhalten zumindest teilweise mit der Herkunft zu tun hat (wie ich hier vor zwei Wochen ausgeführt habe).

Die konkrete Tat in Frankfurt hat allerdings eine Besonderheit, weil sie vielleicht zu verhindern gewesen wäre. Der Täter ist in der Schweiz gemeldet und die Polizei dort hat nach ihm gefahndet, sodass man ihn bei der Einreise hätte aufhalten können. Das macht den Tod des Jungen und das Leid seiner Mutter noch einmal tragischer. Da nicht jeder polizeilich gesucht wird, lassen sich daraus jedoch keine Verallgemeinerungen ableiten.

Die Frage nach der Herkunft wird forciert

So weit die Theorie. In der Praxis wird diese oft durchkreuzt. Die Herkunft Eritrea passt ins Freund-Feind-Schema. Deshalb wird reflexartig und massenhaft darauf reagiert. Wäre der Täter Muslim und nicht Christ, wären die Reaktionen angesichts verbreiteter Islamfeindlichkeit vermutlich noch extremer ausgefallen. Teile der Gesellschaft forcieren heutzutage die Frage nach der Herkunft.

Daraus kann sich wiederum ein Grund ergeben, die Herkunft einer Täterin oder eines Täters doch zu benennen – freilich nicht, indem man von "dem Eritreer" spricht oder ihn als "integrierten Ausländer" beschreibt; eher dahingehend, dass man erläutert, wie und warum manche die Herkunft thematisieren.


An der Stelle sind wir dann alle gefragt, Selbstkontrolle zu beweisen und nicht der Scheinlogik zu folgen, eine ausländische Herkunft habe sogleich etwas mit dem Verhalten einer Person zu tun. In der Vergangenheit ist es leider gelungen, den Druck auf die Öffentlichkeit im Sinne des Gegenteils zu erhöhen. Damit muss man nun umgehen lernen. Ansonsten muss sich niemand wundern, wenn sich die Mehrheit der Bevölkerung nur noch angewidert abwendet.

Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin und Publizistin. Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr neues Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.

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