Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Nichts als Wohlfühl-Symbolpolitik Warum ich am al-Quds-Tag keine Kippa trage
Der al-Quds-Tag wird für widerliche Hetze gegen Juden genutzt. Trotzdem ist das Tragen einer Kippa als Zeichen des Protests sinnlos. Unsere Probleme mit Antisemitismus reichen weiter.
Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, hat nach seiner Feststellung, dass es in Deutschland Gegenden gebe, wo man als Jude besser keine Kippa trage sollte, Nichtjuden dazu aufgerufen, zum Zeichen der Solidarität mit jüdischen Menschen am morgigen sogenannten "al-Quds-Tag" eine Kippa zu tragen. Dieser – eigentlich iranische – Feiertag wird dazu genutzt, auf Massendemonstrationen gegen Israel zu hetzen und antisemitische Propaganda zu verbreiten.
Warum ich aus Protest trotzdem keine Kippa tragen möchte, liegt zunächst daran, dass ich eine Frau bin und Jüdinnen keine Kippa tragen, sondern allenfalls einen Tichel (also ein Kopftuch), einen Hut oder einen Scheitel (also eine Perücke). Ich möchte aber vor allem deshalb keine Kippa zum Zeichen der Solidarität tragen, weil der Aufruf nichts anderes als Wohlfühl-Symbolpolitik darstellt.
Danach setzt jeder die Kippa wieder ab und geht unbehelligt seiner Wege – selbst in sogenannten NoGo-Areas. Zurück bleiben jene gläubigen Juden, die ihre Kippa auch morgen noch aufsetzen wollen, sich damit aber ausgerechnet im Land des Holocausts nicht mehr sicher fühlen können.
Ich möchte auch deswegen keine Kippa tragen, weil es in Deutschland zum guten Ton gehört und für niemanden an so einem Tag eine Herausforderung ist, Solidarität mit Jüdinnen und Juden zu zeigen, trotzdem aber bis heute im einstigen Land Adolf Hitlers keine Synagoge, nicht einmal ein jüdischer Kindergarten existieren kann, der nicht von der Polizei oder von Sicherheitsdiensten streng bewacht wird.
Die Kippa-Aktion bewirkt nichts
Die Kippa-Aktion mag positiv intendiert sein, sie richtet bestimmt keinen Schaden an, aber sie bewirkt nichts. Sie ist mir schlicht zu wenig angesichts steigender Dramatik – wie die Erfolge europäischer Rechtsradikaler bei der Europawahl vergangenes Wochenende zeigen.
Obwohl durch die Reihen fast aller Bundestags-Parteiführungen hinweg, selbst durch die der AfD, Widerstand gegen Judenfeindschaft offen bekundet wird, war und ist der Antisemitismus in der Bundesrepublik bis heute signifikant. Das macht mir nicht nur Sorgen, das macht mich wütend.
Statt festzustellen, dass es No-go-Areas für Kippa-Träger in Deutschland gibt und statt erneut Wohlfühlaktionen für Nichtjuden zu starten (erst vergangenes Jahr gab es "Berlin trägt Kippa", hat sich danach eigentlich irgendetwas verbessert?), würde ich mir wünschen, dass das Thema endlich offensiv angegangen wird.
Antisemitismus reicht tief in die gesellschaftliche Mitte hinein
Wie? Es könnte damit anfangen, nicht mehr diejenigen zu adressieren, die sowieso bereitwillig ihre Solidarität mit Jüdinnen und Juden zeigen. Die Politik sollte sich mit ihren Mitteln jenen zuwenden, die dies eben nicht tun.
An diese Gruppe jedoch traut sich die Politik nicht heran. Unbestritten sind antisemitische Einstellungen nicht allein ein Merkmal von Rechtsextremisten oder Islamisten, sondern sie reichen tief in die gesellschaftliche Mitte hinein. Diese gesellschaftliche Mitte aber wird bei diesem Thema seit Jahrzehnten von der Politik geschont, weil sie zugleich die zentrale Wählerschicht der Bundestagsparteien ist und einen Großteil ihrer eigenen Basis ausmacht.
Welche Partei bedrängt schon diese gesellschaftliche Mitte, indem sie zum Beispiel deren Vorurteile gezielt, offen und ohne Relativierung angeht? Oder positiv gedacht: Welche Partei tritt schon aktiv dafür ein, dieser Mitte die Realität der Vielfältigkeit der deutschen Gesellschaft deutlich zu machen?
Politik allein kann das Problem nicht lösen
In den vergangenen Jahren ließ sich eher das Gegenteil beobachten. Parteipolitiker liefen den exkludierenden Ansichten rechtspopulistischer Parteien nach und propagierten selbst Abschottung, werteten das "Andere" ab, seien es religiöse Praktiken, kulturelle Traditionen, sexuelle Orientierungen, alternative Lebensweisen etc., oder versuchten, den Antisemitismus auf andere Gesellschaftsgruppen abzuwälzen, um sich den Vorurteilsbehafteten anzubiedern, statt deren Haltungen herauszufordern. Antisemitismus ist virulent in allen Bevölkerungsteilen, deshalb muss Antisemitismus ganzheitlich bekämpft werden.
Das gilt für die inhaltliche Ausrichtung wie für die Akteure. Politik allein kann das Problem nicht lösen. Lehrerinnen und Lehrer beispielsweise lassen es zu oft geschehen, dass im Unterricht oder auf Schulhöfen "Du Jude" geschrien wird – weil es ihnen zu unangenehm und häufig zu überfordernd ist, den Schreihals zur Rede zu stellen; weil Schulleitungen zu feige sind, solche antisemitischen Beschimpfungen offen zu problematisieren und damit als Schule mit Antisemiten zu gelten.
Erst diese Woche machte ein Anti-Rassismus-Workshop an einer Schule im Erzgebirge Schlagzeilen, nicht nur weil aus der Klasse mehrfach antisemitische und rechtsextreme Äußerungen gegen die bekannte Dozentin Irmela Mensah-Schramm kamen, sondern auch weil ihren Aussagen zufolge die Klassenlehrerin nicht eingegriffen hatte und die Schulleitung am Ende den Mantel des Schweigens über die Vorfälle decken wollte.
In Wien beschützen Muslime Holocaust-Kunst
Die Gesellschaft, also uns alle, kann man ebensowenig aus der Verantwortung entlassen. Statt einmal im Jahr mit vielen anderen eine Kippa zu tragen, wäre es mutiger, ehrenwerter und effektiver, wenn Menschen im Alltag die Stimme erheben, sobald ein Freund, Angehöriger, Kollege, Nachbar antisemitische Töne spuckt, oder wenn Menschen sich schützend vor Jüdinnen und Juden stellen, damit es eben keine No-go-Areas hierzulande gibt. Wer außer uns Deutschen beziehungsweise uns Europäern trägt mehr Verantwortung dafür, etwaige No-go-Areas für Menschengruppen zu verhindern?
Vorbildlich ist da eine Aktion, die jüngst in Wien gestartet wurde. Der Künstler Luigi Toscano hat großflächige Porträts von Holocaust-Überlebenden "Gegen das Vergessen" im Wiener Stadtzentrum ausgestellt. Zum wiederholten Mal wurden die Exponate mit Hakenkreuzen beschmiert, oder zerschnitten. Daraufhin teilte Toscano auf Facebook mit, er sei gerührt, dass eine Gruppe muslimischer Jugendlicher gekommen sei, um die Ausstellung den ganzen Tag und die ganze Nacht zu beschützen.
"Heute Kippa, morgen Kopftuch"
Diese Solidaritätsaktion hat doppelten Vorbildcharakter: 1. als Anregung für gesellschaftliches Engagement, 2. als Signal an Mitglieder von Minderheitengruppen, sich ganz besonders gegen Antisemitismus einzusetzen. Gerade Minderheiten, die selbst Diskriminierung und Ausgrenzung beklagen, seien die Worte des früheren Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden, Michel Friedman, nahegelegt: "Dort, wo Juden nicht sicher und frei leben können, werden es bald auch andere nicht mehr können." Der Antisemitismus-Beauftragte der baden-württembergischen Landesregierung, Michael Blume, bringt es in einem Tweet auf den Punkt: "Meines Erachtens darf der Staat NoGoAreas niemals hinnehmen. Heute Kippa, morgen Kopftuch, übermorgen Kreuz – und zwischendrin Hautfarbe?"
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Daran schließe ich nahtlos die Aufforderung an, am Samstag nicht an diesem widerlichen al-Quds-Tag teilzunehmen! Diese Kundgebung ist von Antisemiten geprägt und die Idee dahinter wird von jenem iranischen Regime getragen, das seit seinem Bestehen die eigene Bevölkerung drangsaliert und mit seiner Israel-Feindschaft bloß davon ablenken will. Wer sich für die Belange der Palästinenser einsetzen will, muss sich etwas anderes einfallen lassen, als bei dieser Hetz-Veranstaltung mitzulaufen, oder sich die Missbilligung ganz Deutschlands gefallen lassen und als Paria gelten.
Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin und Publizistin. Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr neues Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnisten auch auf Facebook oder Twitter folgen.