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Europawahl und Wahl in Bremen: Migranten, geht am Sonntag wählen!


Wahlen in Europa und Bremen
Migranten, habt ihr die Zeichen der Zeit nicht erkannt?

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

Aktualisiert am 24.05.2019Lesedauer: 4 Min.
Meinung
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Bundestagswahl 2013: Eine Wählerin wirft ihren Wahlzettel in einem Berliner Wahllokal in die Urne.Vergrößern des Bildes
Bundestagswahl 2013: Eine Wählerin wirft ihren Wahlzettel in einem Berliner Wahllokal in die Urne. (Quelle: Archivbild/Tobias Schwarz/reuters)

Menschen mit Migrationshintergrund gehen seltener wählen. Dabei sollten gerade sie jetzt ihre Stimmen erheben, meint Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor in ihrer Kolumne.

Sebastian Kurz habe ich als kompetenten und aufgeschlossenen Mann kennengelernt. Jemand, mit dem man reden kann, der die Sachen nüchtern betrachtet. Ein Politprofi – ehrgeizig, engagiert, eloquent.

Jan Böhmermann verspottet ihn derweil als "Kinderkanzler" und schmäht ihn als "Fascho-Helfer". Viele haben sich köstlich darüber amüsiert, und waren ganz froh, dass es mal jemand so deutlich in die Alpenrepublik hinüberruft. Selbstverständlich schießt Böhmermann mit solchen Worten weit übers Ziel hinaus, aber der ZDF-Mann ist bekanntlich Satiriker und kein politischer Analyst.

Recht hat Böhmermann jedoch zumindest mit seiner zweiten Einschätzung. Es war Sebastian Kurz’ Wille zur Macht, der ihn offenbar blind gemacht hat für die blaue Gefahr der völkisch-nationalistischen Truppen mit Hang zum Autoritarismus und teilweise wohl auch zum Faschismus. Die FPÖ von Jörg Haider und Heinz-Christian Strache war und ist keine normale demokratische Partei.

Durchs Regierungsamt politisch reingewaschen?

Vor ihrer Regierungsbeteiligung stellte man ihr gemeinhin das Adjektiv "rechtsradikal" bei, seit ihrer Regierungsbeteiligung gilt sie plötzlich – als werde eine Partei reingewaschen, bloß weil ein größerer Anteil der Bevölkerung sie wählt – nur noch als "rechtspopulistisch" oder "rechts-konservativ"; eine erstaunliche Umetikettierung, die sich übrigens auch bei der Lega in Italien, beim Front National (Umbenennung hin oder her) und anderen zeigt. Dass Kurz dieser FPÖ die Hand gereicht hat, ist aller Kritik würdig, und dafür benötigte es nicht erst ein Ibiza-Video.

Doch Kurz allein die Schuld für das Regierungsfiasko zu geben, wäre zu einfach. Ebenso wenig reiche es aus, die uneinsichtigen Anhänger der FPÖ dafür in Verantwortung zu nehmen. Haftbar zu machen sind gleichsam jene, die meinen, aus Wut und Frust über etablierte Parteien eben mal ’n paar Radikalen ihre Stimme zu geben. Verniedlichend werden sie gerne "Protestwähler" genannt, dabei sind sie eher politische Brandstifter.

Wer die Rechten wirklich stark machte

Ganz besonders mitverantwortlich aber für die Entwicklungen, die in Österreich zur Regierungskrise geführt haben, in Großbritannien zum Brexit-Desaster, in Italien zu Salvini, in Ungarn zu Orbán und in Polen zu Kaczyński, in den USA zu Trump, in Brasilien zu Bolsonaro, in der Türkei zu Erdoğan und auf den Philippinen zu Duterte, sind die Nicht-Wähler: in Österreich waren es 20 Prozent, in Großbritannien 28 Prozent, in Italien 27 Prozent, in Ungarn 30 Prozent, in Polen fast 50 Prozent, in den USA mehr als 40 Prozent, in Brasilien fast 30 Prozent, in Türkei mehr als 25 Prozent und auf den Philippinen rund 19 Prozent.

Man darf gewiss davon ausgehen, dass sich einige Nicht-Wähler über die Erfolge der Straches, Salvinis und Trumps gefreut haben. Aber viele von ihnen werden es auch sehr bedauert haben. Noch stärker darf man davon ausgehen, dass sich Wahlberechtigte mit einem Migrationshintergrund nicht darüber freuen, wenn die völkisch-nationalistischen Kräfte, die ihnen allein wegen ihrer Herkunft oder ihrer Religion die Gleichberechtigung absprechen und sie als Gäste betrachten, am Sonntag gestärkt werden.

Doch laut verschiedenen Untersuchungen machen gerade Menschen mit Migrationshintergrund deutlich seltener Gebrauch von ihrem Wahlrecht als der Durchschnitt der Wahlberechtigten; die Gründe dafür sind vielfältig wie eine Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt. In Deutschland sind es einigen Studien zufolge mehr als zehn Prozent, in anderen etwas weniger.

Die Beteiligung an der Bundestagswahl 2017 lag laut einer Schätzung von Wissenschaftlern der Universität Duisburg-Essen zum Beispiel für Deutschtürken bei 64 und für Russlanddeutsche bei 58 Prozent. Dem amtlichen Endergebnis zufolge betrug sie insgesamt 76,2 Prozent. Die Tendenzen werden durch die anderen verfügbaren Daten zu dem Thema bestätigt.

Habt ihr die Zeichen der Zeit nicht erkannt?

Wie kann das sein? Gerade jetzt wäre es so falsch wie nie, nicht zur Wahl zur gehen. Habt ihr denn die Zeichen der Zeit nicht erkannt? Ihr könnt euch doch nicht über den Rechtsruck beschweren, wenn ihr euch aus der deutschen, aus der europäischen Politik raushaltet, als ginge diese euch nichts an? Deutschland und Europa sind eure Heimat oder zumindest euer Lebensmittelpunkt, auch wenn ihr viele Verwandte auf anderen Kontinenten habt.

Mein ganz persönlicher Appell als Deutsche mit syrischen Wurzeln geht somit raus an all die, deren Mamas und Papas, deren Omas und Opas ebenfalls in anderen Ländern als Deutschland geboren wurden: Geht wählen! Am Sonntag ist Europawahl und Bürgerschaftswahl in Bremen! Helft, Regierungs- und Staatskrisen sowie den Ausverkauf des eigenen Landes zu verhindern und jene Parteien kleinzuhalten, die euch nicht leiden können!


Man muss für ein Kreuzchen bei einer Partei nicht zu hundert Prozent mit deren Zielen übereinstimmen. Hätten die fehlenden 20 Prozent in Österreich 2017 von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht, hätte Sebastian Kurz in seinem Machtstreben vermutlich Alternativen zu seiner Koalition mit der FPÖ gehabt oder andere Parteien eine Option zur Übernahme der Regierungsverantwortung bekommen…

Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin und Publizistin. Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr neues Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnisten auch auf Facebook oder Twitter folgen.

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