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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Schmusekurs mit Deutschland Erdogans Rache ist teuer
Der türkische Präsident ist auf Schmusekurs mit Deutschland. Seine politischen Ziele haben sich trotzdem nicht verändert: Erdogan geht es vor allem um Vergeltung und um die Festigung seiner Macht.
Recep Tayyip Erdogan war schon oft in Deutschland, doch noch nie war ein Besuch so umstritten wie jetzt. Der türkische Präsident will die Zeit des Streits hinter sich lassen, aber das deutsch-türkische Verhältnis ist noch weit von Normalität entfernt. Die deutsche Politik debattiert darüber, ob der türkische Präsident mit militärischen Ehren empfangen werden soll und ob der Besuch des Staatsbanketts für deutsche Politiker überhaupt angemessen ist. Einige sagen zu. Andere wollen dem türkischen Präsidenten keine Plattform geben.
Erdogan dürfte das egal sein. Seit Wochen geht er auf Schmusekurs zu Deutschland und wünscht sich "deutlich verbesserte" Beziehungen. Die Gründe dafür sind wirtschaftlicher Natur. Die Türkei leidet unter der Lira-Krise – die Währung hat in den letzten Monaten rasant an Wert verloren, die Inflation liegt bei fast 20 Prozent.
Die türkische Regierung wünscht sich Unterstützung, am liebsten deutsche Investitionen in die türkische Wirtschaft. Aber für seinen innenpolitischen Rachefeldzug und die Festigung seiner Macht würde Erdogan die deutsch-türkischen Beziehungen jederzeit wieder an den Abgrund führen. Zu wichtig ist ihm der Traum einer unangefochtenen Herrschaft über ein neues Osmanisches Reich.
Die vergangenen Jahre haben Misstrauen gesät
Hinzu kommt: Die diplomatischen Krisen der vergangenen Jahre sind auch in Deutschland nicht vergessen. "Seit dem Putschversuch wurden in der Türkei vermehrt deutsche Staatsangehörige willkürlich inhaftiert. Dabei waren weder Grund noch Dauer der Inhaftierung nachvollziehbar", schreibt das Auswärtige Amt. Der Aufbau von Vertrauen zwischen beiden Ländern ist schwer.
Nach wie vor benutzt Erdogan deutsche Gefangene als politisches Druckmittel. Hinzu kam seine aggressive Rhetorik gegenüber Deutschland während des Wahlkampfes im vergangenen Jahr. "Hey Deutschland, ihr habt nicht im Entferntesten etwas mit Demokratie zu tun. Euer Vorgehen unterscheidet sich nicht von den Nazi-Methoden der Vergangenheit", wütete Erdogan bei einer Rede. Vorher hatte die Bundesregierung türkischen Politikern verboten, Wahlkampfauftritte zum umstrittenen Verfassungsreferendum in Deutschland zu absolvieren.
Am Ende gewann der türkische Präsident das Referendum und etablierte mit dem Präsidialsystem seine autoritäre Herrschaft über die Türkei.
Die Türkei hat unter Erdogan einige Wahlkämpfe hinter sich. Genau in dieser Zeit rüstete er verbal auf, oft auf Kosten der westlichen Verbündeten. Vor Wahlen schaffte er es, besonders wenn es knapp wurde, die Diskussion von innenpolitischen Problemen abzulenken. Die Strategie ist immer gleich: Der Westen will in der Darstellung Erdogans die Türken kleinhalten, das Land unterdrücken und nur er ist derjenige, der sich vom Ausland nichts gefallen lässt und sein Land verteidigt.
"Europäer des Jahres"
Noch 2004 war alles anders: Damals galt Erdogan als Hoffnungsträger für die EU. Die Bühnen waren kleiner, die Töne freundlicher und von dem "Sultan vom Bosporus" war auch noch nicht die Rede. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder übergab Erdogan, zu der Zeit türkischer Ministerpräsident, den Preis als "Europäer des Jahres". Erdogan sollte die Türkei in die Europäische Union führen und die Türkei sollte als muslimischer und demokratischer Staat ein Vorbild für den Nahen Osten sein.
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Doch mit der Wahl von Angela Merkel zur deutschen Bundeskanzlerin 2005 und von Nicolas Sarkozy zum französischen Präsidenten setzte ein Wandel in der Annäherungspolitik zwischen EU und der Türkei ein. Deutschland und Frankreich sahen ein Türkei-Beitritt plötzlich skeptisch, die Beitrittsverhandlungen wurden halbherzig geführt.
Erdogans aggressive Rhetorik hat Kalkül
Für viele europafreundliche Türken ist der Fortgang der Beitrittsverhandlungen bis heute ein Schlag ins Gesicht – und Erdogan schaffte es, diesen Kurs der EU innenpolitisch für seine Zwecke zu instrumentalisieren. So sieht er Europa als "Christen-Club" und seine anfangs europäischen Außenpolitik wandelte sich in einen Neoosmanismius
Damit ist er erfolgreich. Die Gründe dafür sind vielfältig: Die Türken haben in ihrem Verständnis Jahrhunderte der Kränkungen hinter sich. Die Auflösung des Osmanischen Reiches und der damit verlorene internationale Einfluss sind noch nicht überwunden, die Abtretung von Gebieten an die westlichen Kolonialmächte nicht verziehen. Die schleppenden EU-Beitrittsverhandlungen sind da nur das neuste Kapitel der gefühlten internationalen Respektlosigkeit gegenüber der eigenen Nation.
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Angesichts dieser emotionalen Gemengelage ist der aktuelle Frieden trügerisch. Im Kampf gegen seine Widersacher ist Erdogan jedes Mittel recht – die Frage ist nur, welches ihm wann passend erscheint. Momentan ist es die Tuchfühlung mit dem Westen. Erdogan hat sich in den letzten zehn Jahren zwei zentraler Gegner entledigt. Die Armee, die den Laizismus in der Türkei verteidigen sollte, entmachtete er, besetzte wichtige Posten mit treuen Gefolgsleuten und konnte so Gesellschaft und Politik zunehmend islamisieren. Darüber hinaus zerschlug er eine Vielzahl kritischer Medien, Journalisten werden bedroht oder landeten im Gefängnis. Ein mächtiger Gegner aber bleibt: der Prediger Fethullah Gülen.
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Die Gülen-Bewegung schaffte es jahrelang, ihre Anhänger in leitende staatliche Positionen in der Türkei zu installieren. Auch in Deutschland sieht man die Bewegung teilweise als Sekte, die junge Menschen gut und religiös ausbilden, um mit ihnen hohe staatliche Strukturen zu infiltrieren. Erdogan macht die Gülen-Bewegung außerdem für den Putschversuch 2016 in der Türkei verantwortlich, bei dem der türkische Präsident nur knapp einem Mordkommando entkam.
Sein darauffolgender Rachefeldzug ist teuer für die Türkei – und führt zu großen politischen und ökonomischen Spannungen. Die Massenverhaftungen und die Verfolgung kritischer Medien lähmen das Land und das Vertrauen von westlichen Verbündeten ging verloren. Klar ist aber: Trotz der wirtschaftlichen Schwäche der Türkei und trotz der Kritik des Westens wird Erdogan nicht von seinem aktuellen Kurs ablassen, denn für ihn ist das Gülen-Netzwerk der letzte große Gegner auf dem Weg zur unangefochtenen Herrschaft.
Danach ist der Traum vom ersten Sultan einer neuen neoosmanischen Türkei für ihn zum Greifen nah.
- Eigene Recherchen