Langes Ringen um Kompromiss Ab 1. Januar: Bürgergeld ersetzt Hartz IV
Das Bürgergeld steht in den Startlöchern: Im zweiten Anlauf ging die geplante Sozialreform durch den Bundesrat.
Nach der Einigung im Vermittlungsausschuss haben Bundestag und Bundesrat am Freitag die Einführung des Bürgergelds beschlossen. Damit kann die neue Grundsicherung für Langzeitarbeitslose wie geplant zum 1. Januar in Kraft treten. Im Bundestag votierten die Ampelfraktionen und die Union für die Vorlage, AfD und Linke stimmten dagegen. Die anschließende Zustimmung im Bundesrat erfolgte mit großer Mehrheit der Länder.
Im Bundestag hatten zuvor in namentlicher Abstimmung 557 Abgeordnete für das Gesetz gestimmt, 98 waren dagegen bei zwei Enthaltungen
Die Union hatte die Reform des bisherigen Hartz-IV-Systems zunächst blockiert. Sie konnte daraufhin in Vermittlungsgesprächen deutliche Abstriche an den Reformplänen der Ampelkoalition durchsetzen. So wurde insbesondere die weitgehend sanktionslose Zeit für Arbeitssuchende während der ersten sechs Monate gestrichen und das Schonvermögen für Bürgergeld-Bezieher von 60.000 auf 40.000 Euro reduziert.
53 Euro mehr für alleinstehende Erwachsene
Dass die Ampelparteien trotz der vielen Abstriche den Kern der Bürgergeld-Reform gerettet sehen, liegt auch am Wegfall des Vermittlungsvorrangs: Das Bürgergeld soll anders als Hartz IV auf langfristige Beschäftigungsmöglichkeiten setzen anstatt auf die schnelle Vermittlung auch in Aushilfsjobs. Dies gilt insbesondere für die Zeit, in der eine Weiterbildung gemacht wird.
Vorgesehen sind außerdem höhere Regelsätze und höhere Hinzuverdienstmöglichkeiten. Der Satz für alleinstehende Erwachsene soll um 53 Euro auf dann 502 Euro pro Monat steigen. Was die neue Regelung konkret für Betroffene bedeutet, lesen Sie hier.
Kein neuer Antrag für Bürgergeld nötig
Die Bundesagentur für Arbeit sicherte indes eine pünktliche Auszahlung ab Januar zu. "Wir haben nun Klarheit und können loslegen. Die erhöhten Regelsätze werden wir pünktlich zum Jahreswechsel auszahlen", sagte die zuständige Vorständin der Bundesagentur, Vanessa Ahuja, am Freitag in Nürnberg.
Für das Bürgergeld sei kein neuer Antrag notwendig, betonte Ahuja. "Wer über den Jahreswechsel hinaus Leistungen des Jobcenters bezieht, bekommt automatisch den höheren Regelsatz ausgezahlt."
Das Bürgergeld sei eine wichtige Reform, in die auch die Erfahrungen der Bundesagentur aus den vergangenen 17 Jahren eingeflossen seien. "Bei den Fördermöglichkeiten wird unser Instrumentenkasten größer", erklärte die BA-Vorständin. "Mehr Fördermöglichkeiten bei Weiterbildungen, mehr Motivation durch das neue Weiterbildungsgeld und der Wegfall des Vermittlungsvorrangs stehen für einen klaren Fokus auf Bildung und Nachhaltigkeit der Vermittlung."
Schwesig: Debatte wurde "vergiftet geführt"
Im Bundesrat nannte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) die erzielte Einigung eine "Sternstunde der Demokratie". Er hob das deutsche System hervor, das auf Ausgleich und Kompromissbereitschaft setze.
Auch Hessens Ministerpräsident Boris Rein (CDU) lobte das "schnelle und über Parteigrenzen hinweg gefundene Ergebnis". Die Anrufung des Vermittlungsausschusses habe nichts mit Blockade zu tun, betonte er. Trotz mitunter weit auseinander gehender Vorstellungen sei es gelungen, "einen guten und unterschiedliche Interessen berücksichtigenden Kompromiss zu erarbeiten". Das Bürgergeld werde "für viele Menschen in Deutschland eine spürbare Verbesserung bringen".
Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) nannte als den für sie "allerwichtigsten Punkt" den Wegfall des Vermittlungsvorrangs hervor. Das gebe den Betroffenen "das Recht und die Möglichkeit", sich zu qualifizieren und sogar eine Ausbildung zu machen.
Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) sagte an die Adresse der CDU/CSU, die Debatte in den vergangenen sei "leider vergiftet geführt worden". Es sei die Behauptung im Raum gestanden, dass sich mit dem Bürgergeld Arbeit nicht mehr lohne. "Das stimmt nicht", betonte Schwesig. In einem sozialen Staat müsse sich Arbeit immer lohnen, das wäre auch mit dem ursprünglichen Entwurf der Ampelparteien so gewesen.
Kritik an Union von Lang und Esken
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) verwies in der Länderkammer auf den Kern des Sozialstaates, dass es immer um "Schutz und Chancen" gehe. Mit dem Bürgergeld könne dieser Grundsatz erneuert werden, sagte Heil.
Grünen-Chefin Ricarda Lang sowie die SPD-Vorsitzende Saskia Esken hatten nach dem Kompromiss im Vermittlungsausschuss gegen CDU und CSU nachgelegt. Lang sagte den Zeitungen der Mediengruppe Bayern: "Wofür ich kein Verständnis habe, ist, dass die Union als Partei der sozialen Kälte jetzt noch stolz darauf ist, wochenlang die Menschen in diesem Land gegeneinander ausgespielt zu haben." SPD-Chefin Esken sagte den Zeitungen, CDU und CSU hätten "mit ihrer Kampagne gegen das Bürgergeld offenbart, dass sie den Umfang der Reform, die wir nun durchführen, nicht überblicken".
Lang nannte das Bürgergeld ein "starkes Signal der sozialen Sicherheit in Krisenzeiten". Damit sei Hartz IV Geschichte. Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann sagte der Deutschen Presse-Agentur: "Sanktionen werden deutlich abgemildert. Der Vermittlungsvorrang wird gestrichen, damit beenden wir den Drehtür-Effekt vom Jobcenter zum Aushilfsjob und zurück."
Städtetag fordert mehr Geld
Der Paritätische Wohlfahrtsverband kritisierte die neuen Regelsätze erneut als unzureichend. "Die Erhöhung des Regelsatzes um 52 Euro ist gerade einmal ein Ausgleich des inflationsbedingten Kaufkraftverlustes des letzten Jahres", sagte der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, den Zeitungen der Funke Mediengruppe. "Nach unseren Berechnungen müsste der Regelsatz statt auf 501 auf 725 Euro angehoben werden, um den Menschen tatsächlich das gesellschaftliche Existenzminimum sicherzustellen."
Der Deutsche Städtetag mahnte zum Jahreswechsel eine bessere finanzielle Unterstützung für die Jobcenter an – nicht nur wegen des neuen Bürgergelds, sondern auch angesichts der Ausweitung des Wohngelds sowie des Zuzugs weiterer Geflüchteter aus der Ukraine. "Die Jobcenter können diese Herkulesaufgabe stemmen", sagte Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Sie brauchen aber umfassende finanzielle Ressourcen für mehr Personal und die Verfahren."
Mehrheit der Deutschen für Verschärfungen
Einer Umfrage zufolge begrüßt die Mehrheit der Deutschen die Verschärfungen beim Bürgergeld. 74 Prozent der Befragten finden es laut "ZDF-Politbarometer" gut, dass es von Anfang an strengere Regelungen und Sanktionsmöglichkeiten geben soll. Bei den Unions-Anhängern sind dies 92 Prozent, bei denen der FDP 86 und denen der AfD 83 Prozent. Aber auch die Anhänger von SPD (68 Prozent), Grünen (55 Prozent) und den Linken (58 Prozent) finden dies mehrheitlich richtig.
44 Prozent befürworten zudem, dass bei der ab dem 1. Januar geplanten Sozialleistung – dem früheren Hartz IV – der Regelsatz für alleinstehende Erwachsene um 53 Euro auf 502 Euro angehoben werden soll. 23 Prozent halten dies für zu hoch, 26 Prozent für zu niedrig.
- Nachrichtenagenturen dpa, AFP und Reuters
- Bundestagssitzung am 25. November 2022