Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Gast bei Servus-TV Julian Reichelt inszeniert sich als Opfer
Der Ex-"Bild"-Chef behauptet in einer krawallig-kontroversen Privatsender-Talkshow, "Frauenkarrieren ermöglicht" zu haben. Und kündigt eine neue Plattform an.
Bei Servus-TV durfte der ehemalige "Bild"-Chef Julian Reichelt sich in Szene setzen – auch wenn es eigentlich um Corona-Maßnahmen in Österreich ging.
Stets provokant war Julian Reichelt bereits während seiner Zeit als Chefredakteur bei der "Bild"-Zeitung und ihrer Internetauftritte wie auch ihres im Sommer 2021 gestarteten gleichnamigen Fernsehprogramms. Seit seinem Rauswurf, der im Oktober den Springer-Konzern erschütterte, ist er es erst recht, zumal die in seinem Twitteraccount prominent platzierte Zeile "I'll be back" Spannungen schürt.
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Reichelt stand mehrere Jahre an der Spitze von "Bild". Monate vor dem Abgang hatte es ein internes Verfahren gegen den Journalisten und zuletzt weitere Presserecherchen gegeben. Nach Springer-Angaben standen im Kern der internen Untersuchung im Frühjahr 2021 die Vorwürfe des Machtmissbrauchs im Zusammenhang mit einvernehmlichen Beziehungen zu Mitarbeiterinnen sowie Drogenkonsum am Arbeitsplatz. Der Konzern kam zunächst zum Schluss, dass Reichelt eine zweite Chance bekommen sollte, trennte sich nach weiteren Enthüllungen in der "New York Times" dann aber doch.
Am Sonntagabend absolvierte Reichelt seinen ersten öffentlichen Auftritt, von einem schriftlich erschienenen Interview in der "Zeit" abgesehen, bei Servus TV – und nutzte die Chance, die der von Red Bull Media betriebene österreichische Privatsender ihm bot.
Thema war eigentlich die Corona-Politik
Die Talkshow "Links. Rechts. Mitte – Duell der Meinungsmacher" folgte im Anschluss an den achtminütigen, nett formuliert: wunderlichen "Wochenkommentar" des Sender-Intendanten Ferdinand Wegscheider, in dem ihn die Corona-Politik an die "letzten Wochen der untergehenden DDR" erinnere.
Als Moderatorin Katrin Prähauser sich mit dem Jens-Spahn-Zitat "Am Ende werden wir uns viel verzeihen müssen" verabschiedete, hatte man eine krawallig-kontroverse Talkshow hinter sich. Allen, die sich bemühten, genau zuzuhören, musste der Kopf brummen vor lauter "Das ist jetzt nicht Ihr Ernst" – "Das ist mein Ernst" – "Lesen Sie es nach!"-Diskussionen.
Thema war das Thema so gut wie aller Talkshows, die Corona-Politik unter besonderer Berücksichtigung der gesetzlichen Impfpflicht, die in Österreich anders als in Deutschland im Februar in Kraft treten soll.
Die Rollen waren sendungstitelgemäß klar verteilt: Die österreichischen Gäste, Mathematiker Peter Markowich und der kurzfristig eingesprungene Journalist Thomas Walach vom Nachrichtenportal zackzack.at, kritisierten zwar Widersprüchlichkeiten in der österreichischen Regierungspolitik, nicht aber grundsätzlich die Corona-Maßnahmen.
Reichelt: "Omikron kein überragendes Übel"
Das taten die deutschen Gäste, neben Reichelt die Popsängerin Julia Neigel, die mRNA-Impfstoffe als "gentherapeutische Impfung" ablehnt und später vor allem Reichelt lautstark unterstützte.
Reichelt, mit schwarz-gelb gestreifter Krawatte, kam als letzter der vier zu Wort, sicherte sich aber den größten Wortanteil, schon weil er in den meisten Rededuellen länger durchhielt. Seine Ansicht, dass es sich bei Omikron um eine "sehr milde Variante" des Virus und daher kein "überragendes Übel" handele, gegen das eine staatliche Impfpflicht vertretbar sei, brachte ihm seitens Walachs den Vorwurf der "Menschenfeindlichkeit, mit der Sie hier über Corona sprechen", ein. Das trug zur Aufstachelung bei.
"Ich habe viele Frauenkarrieren ermöglicht"
Reichelt flocht einige anekdotische Erfahrungen ein ("Ich war neulich bei North Face und wollte eine Mütze kaufen"), wobei ihn die Maskenpflicht an österreichischen Skiliften zu wurmen scheint. Er wetterte gegen "Cancel-Culture und Woke-Wahnsinn" und hatte sich offenkundig Formulierungen zur Selbstdarstellung zurechtgelegt. "Ich bin ein Berufsskeptiker und ich bin stolz darauf", lautete eine.
Einen aus deutscher Sicht zweitrangigen Anlass, als es um Tirols Abhängigkeit vom Tourismus ging, nutzte er für den Vorwurf an die Gegenseite: "Corona hat Ihnen die Verbotshebel, Dinge einfach zu verbieten, weil es ihnen nicht passt, in die Hand gegeben". Was der offizielle Talkshowaccount gerne per Tweet verbreitete.
Schließlich bekam Reichelt auch einen Block, um über seinen Rauswurf und Zukunftspläne zu reden. Die Vorwürfe gegen ihn, also Machtmissbrauch im Zusammenhang mit einvernehmlichen Beziehungen am Arbeitsplatz, seien "perfide erfundener Quatsch", er habe bei "Bild" mit "absolut herausragenden Frauen gearbeitet" und viele "Frauenkarrieren" ermöglicht.
Springer hatte das Ende der Zusammenarbeit im Oktober so begründet: "Als Folge von Presserecherchen hatte das Unternehmen in den letzten Tagen neue Erkenntnisse über das aktuelle Verhalten von Julian Reichelt gewonnen. Diesen Informationen ist das Unternehmen nachgegangen. Dabei hat der Vorstand erfahren, dass Julian Reichelt auch nach Abschluss des Compliance-Verfahrens im Frühjahr 2021 Privates und Berufliches nicht klar getrennt und dem Vorstand darüber die Unwahrheit gesagt hat."
Nun arbeite Reichelt an "einer neuen Plattform", über die er derzeit mit "vielen spannenden jungen Leuten" spreche – und hatte auch dafür einen Slogan parat: "Die größte Marktlücke im Journalismus ist Journalismus", nämlich solcher, "der sagt, was ist und nicht, was die Regierungen gerne gesagt hätten".
Mit der Adaption eines "Spiegel"-Spruchs will Reichelt also auf sein neues Projekt gespannt machen. Um den bei "Bild" von ihm beinhart betriebenen Boulevardjournalismus ging es kaum. Und als Neigel zum Stichwort "unbequeme Journalisten" an den unter Folter-ähnlichen Bedingungen inhaftierten Wikileaks-Gründer Julian Assange erinnerte, wäre es spannend gewesen, Reichelts Meinung dazu zu erfahren. Doch Moderatorin Prahäuser kokettierte lieber mit dem älteren Gerücht, Reichelt würde bei Servus TV anheuern.
Fazit: Hier war eine Schärfe der Diskussionen zu spüren, sehen und hören, wie sie in den meisten deutschen Talkshows aufgrund der relativen Einigkeit der Anwesenden nicht auftritt. War es vor allem krawallig, weil oft mindestens zwei Gäste gleichzeitig redeten und die keineswegs unparteiische Moderatorin sich um Einordnung unterschiedlicher Zahlen selbst zu Todesfällen durch Myokarditis und Suizide nicht bemühte?
War es doch aufschlussreich, weil Fraktionen der gespaltenen Gesellschaft zumindest mal am selben Tisch – an einem runden Holztisch einander gegenüber – saßen und sich zwischendurch doch der eine oder andere gemeinsame Nenner zeigte? Auch dazu dürften die Meinungen auseinandergehen.
- Servus-TV: "Links. Rechts. Mitte - Das Duell der Meinungsmacher" vom 16. Januar 2022