TV-Kritik "Anne Will" "Was ist eine gute Volkspartei?"
"Schaffen Union und SPD das noch?", fragt Anne Will angesichts des Zustands der Groko. Gegenfrage: Schafft die Talkshow es mal, andere Gäste einzuladen?
Die Gäste
- Franziska Giffey (SPD), Bundesfamilienministerin
- Volker Bouffier (CDU), Ministerpräsident von Hessen
- Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Instituts
- Dagmar Rosenfeld, Chefredakteurin der "Welt"
- Albrecht von Lucke, Publizist und Politikwissenschaftler
Die Positionen
Die große Koalition hat ihre eigene gefühlte Zeitrechnung. Die Bundesregierung aus Union und SPD ist gerade einmal seit März 2018 im Amt. Es kommt einem so viel länger vor. Am Sonntagabend kamen die Parteispitzen in Berlin nach dem Europawahl-Debakel und dem Rücktritt von SPD-Chefin Andrea Nahles zum Koalitionsausschuss zusammen. Anlass für Anne Will zu fragen: Zusammenhalt gesucht – schaffen Union und SPD das noch? Die überraschende Antwort der Parteienvertreter: Ja.
Bouffier hatte der Groko kürzlich gerade mal bis Ende des Jahres eine Überlebenschance von 50:50 attestiert. "Es ist eine relativ nüchterne Beschreibung des Zustands", bekräftigte der CDU-Vize jetzt bei Will, fügte aber versöhnlich hinzu: "Ich bin zuversichtlich." Es hänge alles davon ab, ob sich die Sozialdemokraten endlich tatsächlich zur Koalition werden bekennen können.
Giffey beteuerte: "Wir streiten uns nicht, wir versuchen, vernünftig zusammenzuarbeiten." Bis zur geplanten Groko-Halbzeitbilanz im Herbst werde ihre Partei die Hände nicht in den Schoß legen und habe etwa bei Kita-Gesetz und Pflegereform Fortschritte vorzuweisen. Für sie leidet die SPD derzeit auch an einer mangelnden Darstellung ihrer eigenen Leistung: "Das müssen wir ganz klar sagen: Das sind sozialdemokratische Erfolge."
Nach Ansicht von Fuest hält derzeit hingegen vor allem die Angst vorm Wähler die geschwächten Koalitionspartner beieinander. Dieser Zusammenarbeit fehle das Fundament. "Sie haben kein gemeinsames Projekt, das ist das Problem der großen Koalition", sagte der Wirtschaftsforscher. Eine Gemeinsamkeit sah Rosenfeld dann aber doch. Sie attestierte der CDU eine negative "SPD-Werdung", was die innere Zerrissenheit angeht.
Das Zitat des Abends
Die miserablen Umfragewerte – vor allem für die SPD – stellen ihren Status als Volkspartei infrage. Der hängt für Giffey aber an weit mehr als Prozentzahlen. "Wissen Sie, was für mich eine gute Volkspartei ist? Die nicht nur das Thema Umwelt thematisiert oder das Thema Wirtschaft, sondern die Umwelt, Wirtschaft und soziale Gerechtigkeit zusammenbringt", erklärte die Bundesfamilienministerin. Eine klare Antwort blieb sie hingegen schuldig, als es um ihre Bereitschaft ging, sich für die Nahles-Nachfolge zu bewerben. "Diese Frage stellt sich heute so nicht", wich Giffey aus.
Bouffier betonte ebenfalls die großen Zusammenhänge erfolgreicher Politik. "Ich will Klimaschutz und Erhalt des Wohlstandes", unterstrich der CDU-Vize. Auch Rosenfeld sah in gesamtpolitischen Kompromissen die ureigene Aufgabe von Volksparteien. Die müssten verhindern, dass die Klimaschutzpolitik nun wie einst die Flüchtlingsfrage Deutschland spaltet – in Großstädte gegen ländlichen Raum oder Reich gegen Arm.
Der Faktencheck
Elf Prozent – auf dieses Ergebnis kommt die SPD im aktuellen Trendbarometer von RTL und n-tv. Damit wurde sie nach Grünen (27 Prozent), Union (24 Prozent) und AfD (13 Prozent) nur viertstärkste Kraft. Im Vergleich zur Bundestagswahl hat sich die SPD damit laut der Forsa-Umfrage fast halbiert. Die Grünen konnten ihr Ergebnis hingegen verdreifachen. Bei Studierenden und Schülern erreichte die SPD sogar nur acht Prozent. Dafür würden 51 Prozent der Jungwähler laut der Umfrage die Grünen wählen.
Die Frage des Abends
Was für einen Erkenntnisgewinn hat sich die "Anne Will"-Redaktion von dieser Sendung versprochen? Der Blick auf die Gästeliste ließ erahnen, wie die Ausgabe dann auch wurde. Alles wurde irgendwie mal angeschnitten, von CO2-Steuer, Mietpreisdeckel und Pflegenotstand über Digitalisierung bis Kanzlerinnenfrage. Der Standard-Mix aus Bundespolitikern, Journalisten/Fachexperten und dem gelegentlichen Geschmacksverstärker-Gast (in diesem Fall der aufgebrachte Schnellredner Lucke) grenzt bei Dauerbrennerthemen wie dem Zustand der Groko mit Verlaub an Faulheit.
Warum wagt man nicht einmal eine Runde mit weitgehend unbekannten Gästen, die neue Perspektiven und Denkansätze liefern können? Was halten Erstwähler, Wechselwähler, Nichtwähler, Nachwuchspolitiker oder ehrenamtlich engagierte Menschen von SPD und Union? Was wünschen sie sich von Volksparteien, wie stehen sie zu Kompromissen, in was für einer Gesellschaft möchten sie leben? Der Hunger nach Antworten auf schwierige politische und soziale Fragen ist groß wie lange nicht mehr. Es wäre schön, wenn Talkshows ihren Teil zum lebendigen Diskurs beitragen könnten.
- N-tv: Trendbarometer