Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Heimlicher Aufstieg der AfD Wie die Rechten bei den Linken wildern
Von der Linken lernen, heißt siegen lernen: Nach diesem Motto macht sich die Neue Rechte auf den Marsch durch die Institutionen. Nicht nur die Parlamente sind das Ziel, sondern auch Gewerkschaften oder die Diskurse in den Feuilletons.
Von März bis Juni finden in Deutschland Betriebswahlen statt. Normalerweise sind das keine Ereignisse von höherem Aufmerksamkeitswert, aber diesmal lohnt es sich hinzuschauen. Bei Daimler tritt in den Standorten Untertürkheim, Rastatt und Wörth die Gruppe "Zentrum Automobil" an. Am Stammwerk Untertürkheim stellt sie schon vier von 45 Betriebsräten, also knapp zehn Prozent und bald könnten es mehr sein.
Bei BMW in Leipzig tritt eine "Interessengemeinschaft Beruf und Familie" auf. Bei Opel in Rüsselsheim und bei Audi gibt es ähnliche Gruppen, die für Aufsehen sorgen.
Gitarrist in einer rechtsextremen Band
In Deutschland sind Gewerkschafter meistens links – ich würde sagen: linkskonservativ. Diese neuen Gruppen sind aber entschieden rechts. Bei Daimler ist Oliver Hilburger der Organisator, er trat vorher für die Christliche Gewerkschaft Metall an, war Gitarrist in einer rechtsextremen Band und bewegt sich geschmeidig in den intellektuellen Zirkeln der Neuen Rechten.
Aus seiner Sicht sind die Gewerkschaften vom System gekauft und verraten die Interessen der Arbeiter. So haben die Frankfurter Spontis geredet, als sie in den Siebzigerjahren "beim Opel" Unterwanderung betrieben.
Daimler-Chef Zetsche ist in Sorge
Was sich derzeit in der deutschen Automobilindustrie abspielt, habe ich im Wirtschaftsteil der "Süddeutschen Zeitung" gelesen, die Daimler-Chef Dieter Zetsche so zitiert: "Wir verfolgen diese Entwicklung mit Sorge. Das lässt uns nicht kalt."
180.000 Betriebsräte gibt es in Deutschland, weshalb der DGB sagt, diese Rechten seien doch nur eine kleine, radikale Minderheit. Na ja, bei der Bundestagswahl im September wählten 15 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder die AfD. Das ist wie der Einbruch in eine friedliche Familie, die sich über viele Jahre schön eingerichtet hat und jetzt nicht wahrhaben will, dass es mit dem Idyll vorbei ist.
Rassismus getarnt als Feminismus
Aufgefallen ist mir auch ein Interview mit der Münchner Genderforscherin Paula-Irene Villa, die in München lehrt. Sie erzählt, dass sich über Hashtags, Internetseiten und Videos Feministinnen äußern, die nicht dem klassischen Muster entsprechen: links, emanzipatorisch, international. Stattdessen sind sie rechts, national und konservativ. Sie schreiben über Frauenverachtung und sexualisierte Gewalt, wie es eben in der Genderforschung gang und gäbe ist. Sie meinen aber nicht die Männer im Allgemeinen, sondern die Flüchtlinge, die aus ihrem fremden Kulturkreis Gewalt gegen Frauen importierten. Dagegen setzen sie: Biedermeier, Heimatliebe, Mutterstolz.
Man kann sich darüber wundern oder das Neue ideologisch als
"Feminismus mit rassistischen Ressentiments" entlarven, wie es Paula-Irene Villa vormacht. Man kann aber auch erstaunt feststellen, wie sich rechtes Denken und Handeln hineinfrisst in das, was bei ihnen "das System" heißt, womit sie Institutionen wie Gewerkschaften und Parlamente meinen, und natürlich auch in das, was Linksliberale "den Diskurs" nennen.
Wofür ist das Menscheln ein Symptom?
Was tut sich da? Sind wir abgelenkt? Ich habe mich gefragt, warum wir eigentlich so fasziniert sind vom Menschendrama in der SPD, von der Frage, warum der Sigi (Gabriel) stinksauer auf den Martin (Schulz) war, warum der Martin alles aufgeben musste und die Bätschi-Andrea aus der Asche immer höher aufstieg, weil die Jungs rechts und links von ihr niedersanken wie ehedem bei Angela Merkel – die es sich allerdings nicht nehmen ließ, persönlich zu meucheln. Wofür ist das Menscheln ein Symptom?
Der erhellende Begriff lautet "Entleerung": Die Sozialdemokratisierung der CDU hat nicht nur die CDU entleert, sondern auch die SPD. Deshalb wissen wir nicht mehr, was das Christlich-Konservative an der CDU ist und wofür die SPD steht. Weil das so ist, müssen sich beide Parteien neu definieren. Sie müssen sich häuten, anknüpfen an den Zeitgeist, wie man früher sagte – näher an die Menschen heranrücken, wie man heute sagt.
Entleerung ist die Voraussetzung für den AfD-Erfolg
"Entleerung" ist der Schlüsselbegriff für die Misere der beiden ehemaligen Volksparteien. Norbert Röttgen spricht von der "inhaltlichen Entleerung" der CDU und macht die Kanzlerin dafür verantwortlich. In den Talkshows benutzen die Teilnehmer den Begriff mit schöner Selbstverständlichkeit. Woher stammt er eigentlich? Ja, das ist wirklich interessant, er stammt von Alexander Gauland, der in seinem ersten, langen Leben der klügste Analytiker des europäischen Konservatismus war und heute als klarsichtiger Renegat in der Wunde der CDU stochert. Entleerung ist die Voraussetzung für den Erfolg der AfD.
Was sich in diesen Tagen politisch ereignet, lässt sich auch so deuten: Die kulturelle Hegemonie der 68er-Generation läuft aus, die Protagonisten sind schon länger in Pension, an den Schulen, in den Zeitungen, in der Politik. Der Höhepunkt war 1998, als Rot-Grün der Ära Kohl ein Ende bereitete. Die Machtübernahme begleitete der Chor der 68er in den Medien. Vorbei war es mit der goldenen Zeit sieben Jahre später im Jahr 2005. Seither dominieren die Schröder-Diadochen zunehmend glücklos in der SPD und die Fischer-Diadochen zunehmend brav bei den Grünen.
Die AfD ist nicht nur ein politisches Phänomen
Deshalb fiel es Angela Merkel leicht, mit der SPD zu regieren, die Weltfinanzkrise zumindest national zu meistern, die Kernenergie auslaufen zu lassen (das klassisch rot-grüne Projekt) und die Flüchtlinge 2015 aufzunehmen (auch ein linksliberales Menschenrechtsprojekt). Allerdings war sie so mit der Entleerung der SPD beschäftigt, dass sie etwas übersah: Die Aufladung rechts von der Union.
Was wir heute erleben, ist der Versuch der Neuen Rechten, ein Vakuum zu besetzen. Die AfD ist nicht nur ein politisches Phänomen, sondern auch ein kulturelles Projekt. Der "Spiegel" machte sich verdient, als er unvoreingenommene Reporter zu Götz Kubischek und Jürgen Elsässer schickte, die deren Gedankenkreis präzise beschrieben und analysierten. Kubischek ist die Spinne im Netz mit einem Verlag, mit einem Thinktank und einem Schulungszentrum.
Deutschland ist heute rechter als vor 2015
Er ist kein Nazi, sondern ein Romantiker, der vom alten Preußen und einem saturierten Deutschland ohne ethnischen Pluralismus träumt, was heißt: ohne Muslime. Elsässer gibt "Compact" heraus, ein rechtes Magazin. Von weit her ist er gekommen, aus einer linken Sekte über "Konkret" und "Junge Welt" bis in den Dunstkreis der AfD.
Deutschland ist heute rechter als vor 2015. 2015 ist ein Wendepunkt. Darüber kann man sich empören, darüber kann man wüten, man muss auch aufspießen, was Figuren wie Björn Höcke oder André Poggenburg im Altnazi-Sprech von sich geben. Nur kann man sich die Rechten nicht wegwünschen. Sie sind da, sie haben Auftrieb, sie breiten sich aus und bald dürften sie auch in Bayern im Landesparlament sitzen und die absolute Mehrheit der CSU unmöglich machen.
Die Grünen als Vorbild
Reale Veränderungen erreichen die Politik immer zuletzt. Vorher prägen sie sich innerhalb der Gesellschaft aus. Als die Grünen in die Parlamente einzogen, hatten sie sich kulturell in der Ökologie-, Antikernkraft- und Frauenbewegung verankert. Gerade deshalb schlug ihnen Verachtung und Empörung aus den etablierten Parteien entgegen. Das stärkte sie. Der Marsch durch die Institutionen dauerte lange und veränderte sie dann auch.
Heute machen sich die Rechten auf den Marsch durch die Institutionen. Sie ernten Wut, Empörung, auch Hass. Dadurch fühlen sie sich bestätigt. Ich bin wirklich gespannt, wie die Betriebsratswahlen im Frühjahr ausgehen werden. Es lohnt sich, die Debatten innerhalb der Neuen Rechten und mit den Linken zu verfolgen. Die Rechte hat die Geschichte der deutschen Linken studiert und kopiert sie.
Parteien müssen den Kulturkampf aufnehmen
Die Neue Rechte steht am Anfang, sie ist, wie Gauland sagt, ein "gäriger Haufen", der sich verändern wird. Die AfD ist jetzt erst einmal dort angekommen, wo die Grünen 1983 ankamen: im Bundestag. Sie werden gären, sie werden sich verändern. Das demokratische System (hier ist der Begriff angebracht) hat bisher noch immer läuternd auf neue Phänomene eingewirkt.
Die Parteien, denen wir viele Jahre vertraut haben und die uns jetzt mit ihrem Menscheln nerven, scheinen verstanden zu haben. Wenn es gut geht, nehmen sie den kulturellen Kampf gegen die Neue Rechte auf. Wer will, kann sie darin unterstützen, zum Beispiel bei der nächsten Wahl.