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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Zündstoff durch die Flüchtlingskrise Russlanddeutsche im Zwiespalt
Deutsche? Russen? Putins Agenten? In den frühen 90ern wurden Aussiedler und Spätaussiedler nicht selten als "scheiß Russen" beschimpft, jetzt geraten die Russlanddeutschen immer wieder in die Schlagzeilen, weil sie gegen Flüchtlinge demonstrieren.
Auch Bewohner aus Pforzheims "Russen-Stadtteil" Haidach waren dabei. Viele favorisieren dort die AfD - aber längst nicht alle.
In die Jahre gekommene Hochhäuser stehen dort, vierstöckige Wohnblöcke, dazwischen große Rasenflächen und Reihenhäuschen mit gepflegten Vorgärten. Mütter schieben Kinderwagen, Rentner sind auf dem Weg zum Einkauf. Ein ganz normaler Morgen in einer deutschen Vorstadt. Rund 8500 Menschen leben in dem Pforzheimer Höhen-Stadtteil Haidach, darunter etwa 5500 Deutsche aus Russland. Seit Jahrzehnten größtenteils unauffällig. Nun sorgt die Flüchtlingskrise für Unruhe innerhalb der Gemeinschaft.
Russisches Öl ins Feuer
Bundesweit ist die Bevölkerungsgruppe wegen Anti-Flüchtlings-Demos in Verruf geraten. Nach dem "Fall Lisa" in Berlin, der angeblichen Vergewaltigung eines russisch-deutschen Mädchens, waren in vielen Städten - auch in Pforzheim - wütende Menschen auf die Straße gegangen. Aufgrund einer Falschmeldung. Angeheizt von Äußerungen aus russischen Regierungskreisen.
Seitdem stoßen in der öffentlichen Wahrnehmung viele Russlanddeutsche ins gleiche Horn wie diejenigen, die sie vor 20, 25 Jahren oft noch als "scheiß Russen" bezeichnet haben: Pegida- und AfD-Sympathisanten, denen die Flüchtlinge hierzulande ebenfalls nicht willkommen sind.
Aber: Es waren nicht alles Russlanddeutsche bei den Demonstrationen in Berlin, betont Waldemar Meser von der Elterninitiative Haidach. "Das lässt ein verzerrtes Bild meiner Landsleute entstehen", klagt ber 65-Jährige. Beim Gespräch im Bürgerhaus Buckenberg-Haidach mit seinem Mitstreiter Johannes Braun (62), Studentin Nicole Herber (24) und Andreas Fabrizius (29), dem Organisator der Pforzheimer Demo, wird vor allem eines deutlich: Es gibt sehr unterschiedliche Positionen unter den Deutschen aus Russland.
"Gut integrierte Gruppe"
Bundesweit kamen seit dem Zweiten Weltkrieg fast 2,4 Millionen Aussiedler und Spätaussiedler aus Russland sowie den alten Sowjetrepubliken nach Deutschland. Inzwischen gelten sie als unpolitisch, fleißig und ordnungsliebend - das Image war aber auch schon mal schlechter. Wenn sie wählen, wählen sie eher konservativ.
"Es ist eine Gruppe, die sich gut integriert hat", sagt der Berliner Publizist Sergey Lagodinsky. Das bescheinigt ihnen auch Baden-Württembergs Innenminister Reinhold Gall (SPD).
Die meisten wollen nur als ganz normale Mitbürger wahrgenommen werden. Aber: "Wenn man sagt, man kommt vom Haidach, heißt es gleich: 'Du bist Russin'", hat Studentin Nicole Herber erfahren. Ihre Eltern sind Russlanddeutsche. Sie ist hier aufgewachsen.
Über das Etikett "Russe" ärgert sich seit fast 40 Jahren auch der ehemalige Daimler-Mitarbeiter und Sohn von Wolga-Deutschen, Johannes Braun: "Ich war drüben kein Russe, warum soll ich jetzt einer sein?" Andreas Fabrizius wiederum, der 2002 von Kasachstan nach Deutschland kam, ist als "Agent Putins" bezeichnet worden, "aber niemals als deutscher Bürger".
Schlechte Deutschkenntnisse
Es sind solche Dinge, die in den Köpfen blieben, und die Tatsache, dass "die Russen" nicht immer freundlich aufgenommen wurden, sagt Jürgen Arnhold, Bundesgeschäftsführer der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland.
Und das sind auch Gründe, warum vor allem Spätzuzügler mit geringen Deutschkenntnissen vorzugsweise russisches Fernsehen schauen. Dass russische Shows nebenbei Propaganda einstreuen, hat Publizist Lagodinsky seit der Ukraine-Krise beobachtet. Mit dem "Fall Lisa" sei das Flüchtlingsthema in russischen Medien emotionalisiert und zugespitzt worden.
Dass es Ende Januar zeitgleich im Südwesten 20 Anti-Flüchtlings-Demos mit Russlanddeutschen gab, war aus Sicht Mesers kein Zufall. "Es gab auf Russisch im Internet einen Aufruf." Alle Aussiedler sollten demnach Flagge zeigen gegen eine angeblich verfehlte Flüchtlingspolitik. Wer den Aufruf startete, ist unklar. Johannes Braun erinnert sich an das Kürzel "ru" für Russland. Die beiden Rentner und die Studentin Herber gingen nicht zur Demo. Andreas Fabrizius brachte dagegen via Facebook in Kürze mehr als 800 Menschen auf die Straße.
Angst vor "Belästigungen überall"
An die 50 Flüchtlinge leben im Stadtteil. "Es gibt schon Ängste", sagt Meser. Wie groß, aber auch wie diffus diese in der AfD-Hochburg Pforzheim sind, zeigte neulich eine Info-Veranstaltung der Stadt. Neben Russlanddeutschen fielen dort Rechtsextreme und die Hooligans "Berserker" auf. Durch Flüchtlinge sahen Redner Frauen und Kinder gefährdet. Konkrete Vorfälle wurden dabei nicht genannt, nur von "Belästigungen überall" geredet. Einige plädierten für eine Bürgerwehr, wie sie Andreas Fabrizius aufziehen will.
Eine Bürgerwehr auf dem Haidach? Polizei und Stadt winken ab. Der Staat könne selbst für Sicherheit und Ordnung sorgen, heißt es. Auch hat sich das in den 1990er Jahren wegen Jugendkriminalität berüchtigte Quartier längst gewandelt: "Der Haidach ist inzwischen einer der sichersten und unauffälligsten Stadtteile", heißt es im Rathaus.