Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Debatte über Energiewende bei "Anne Will" "Unsere Freiheit wird auch im Keller verteidigt"
Öko-Wirtschaftswunder oder Gefahr für den Standort Deutschland? Diese Frage steht am Sonntagabend im Mittelpunkt der Sendung von "Anne Will".
Noch nie war das Wort "Wärmepumpe" so omnipräsent wie zurzeit — denn diese steht im Mittelpunkt der von Vizekanzler Robert Habeck angestrebten Energiewende. Ein ganzes Stück brisanter wurde dieses Thema vor wenigen Tagen, als der deutsche Heizungsbauer Viessmann bekannt gab, einer Übernahme durch den US-amerikanischen Konzern Carrier zugestimmt zu haben.
Wohin führt Habecks Energiewende den Wirtschaftsstandort Deutschland? Und verspricht Kanzler Olaf Scholz dem Volk zu viel? Dazu waren die Meinungen an diesem Abend unterschiedlich.
Die Gäste
- Stephan Weil (Politiker): SPD, Ministerpräsident von Niedersachsen
- Franziska Brantner (Politikerin): Bündnis 90/Die Grünen, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz
- Thorsten Frei (Politiker): CDU, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
- Veronika Grimm (Wirtschaftswissenschaftlerin): Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
- Bernd Ulrich: stellvertretender Chefredakteur "Die Zeit"
Die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, Franziska Brantner, sieht die Entwicklung beinahe überschwänglich positiv — und findet auch die Übernahme von Viessmann unproblematisch.
Mehr noch: "Wir haben eine sehr starke und große Investition eines amerikanischen Unternehmens in Deutschland. Viessmann hört nicht auf zu existieren, sondern es wird im Gegenteil ein transatlantischer Klima-Champion aufgebaut, der es ermöglicht, dass wir in Deutschland günstigere Wärmepumpen haben werden. Viessmann wird Milliarden in neue Zukunftstechnologien in Deutschland investieren können. Das ist eine Win-Win-Situation", so Brantner.
Auf die Frage, ob das nicht etwas zu schnell gehe, entgegnet sie, dass Deutschland eher das gegenteilige Problem habe — nämlich, dass Dinge zu langsam gehen.
Weil: Aufdeutsches Know-how achten
Niedersachens Ministerpräsident Stephan Weil hingegen gibt sich diplomatisch: "Ich bin ein bisschen hin- und hergerissen. Es gibt viele Beispiele dafür, dass deutsche Unternehmen von ausländischen Unternehmen aufgekauft wurden und es war nicht zu ihrem Nachteil", so der SPD-Mann. "Wir müssen darauf achten, dass wir in einem Markt, der zweifellos eine große Perspektive hat, ausreichend deutsches Know-how behalten können". Er sei sich aber sicher, dass sich Viessmann ausreichend Gedanken gemacht habe, da vor allem Familienunternehmen solche Entscheidungen nicht leichtfertig trafen.
CDU-Politiker Thorsten Frei beurteilt Habecks Energiewende kritischer. Man habe ein ähnliches Szenario bereits vor zwölf Jahren erlebt, "als man sehr intensiv mit hohen Fördermilliarden in die Solarenergie reingegangen ist" und bald schon nur ausländische Konzerne am Ruder gewesen seien. Deutschland sei für viele Firmen als Wirtschaftsstandort nicht attraktiv genug, attestiert er in der Sendung — Übernahmen wie jene von Viessmann zeigten dies deutlich.
Grimm: "Ich glaube, dass beide Seiten ein bisschen recht haben"
Wirtschaftswissenschaftlerin Veronika Grimm ortet die Wahrheit in der Mitte ein. "Ich glaube, dass beide Seiten ein bisschen recht haben", sagt sie und räumt ein: "Man hätte das natürlich, wenn man das optimal gemacht hätte, besser vorbereiten müssen, sodass sich die heimischen Hersteller darauf einstellen, Kapital zu beschaffen und wachsen zu können. Auf der anderen Seite ist aber auch so, dass die großen Hersteller aus den USA und aus Asien schon sehr lange aktiv sind und man heizt und kühlt dort ja genau mit dieser Technik, auf der Wärmepumpen basieren. Dort wird so viel produziert, dass man aus Deutschland heraus dem nur sehr schwer Konkurrenz machen kann und wenn man jetzt diese Stückzahlen günstig bereitstellen will für die Wärmewende, ist das der Weg, der absehbar war."
Ulrich: "Unsere Freiheit wird auch im Keller verteidigt"
"Mir ist die Diskussion zu kleinteilig und pessimistisch", meint der Journalist Bernd Ulrich, der auf die geopolitische Notwendigkeit der Energieumstellung Bezug nimmt. "Vor einem Jahr hat eine fossile Diktatur einen Angriff gestartet auf die europäisch-demokratische Ordnung. Diese Diktatur haben wir in erster Linie mit unserem fossilen Geld bezahlt. Wir haben gesagt: Wir müssen raus aus der Abhängigkeit von Russland und der Finanzierung ihrer Militärmaschinerie, die uns dann in Europa angreift. Jetzt haben wir das einigermaßen geschafft, aber jetzt zahlen wir das ganze fossile Geld nach Saudi-Arabien. Wir finanzieren wieder die Gegner der Demokratie. Unabhängig von den Klimazielen, die auch viel schneller erreicht werden müssten, war das für unsere Freiheit und Sicherheit. Wenn man das zugespitzt sagen will: Unsere Freiheit wird auch im Keller verteidigt."
Diskutiert wird an diesem Abend auch das Versprechen von Bundeskanzler Olaf Scholz, Deutschland könne sich durch die Umstellung in puncto Klimapolitik auf ein Wirtschaftswachstum wie in den 1950er- und 1960er-Jahren freuen. Grimm dazu: "Ich glaube, dass wir schon in der Position sind, Wachstum aufgrund von klimaneutralen Technologien zu generieren. Aber wir müssen sehr, sehr viel dazu tun, gerade den Unternehmen, die diese Zukunftschancen haben, gute Rahmenbedingungen bereitzustellen."
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Ulrich attestiert Scholz durchaus auch Fehler: "Die Idee des Kanzlers ist, dass man den Klimawandel den Leuten liefert. Die Politik macht ein Meisterstück und liefert den Leuten das. Sie verspricht ihnen im Prinzip, dass – wenn man nicht gerade in der Nähe eines Windrades wohnt – das ohne größere Zumutungen ablaufen kann. Damit schafft er eine komplett falsche Erwartung. Wir sind in einer so tiefgreifenden Umwandlung unserer Welt und Lebensweise, dass das ohne Zumutungen nicht gehen wird", so der Journalist.
Ihm zufolge stehen die Deutschen vor einer grundlegenden Zäsur: "Das Land spürt, dass diese 70 Jahre Normalität, Stabilität und fast automatisches Wachstum, das wir jetzt hatten, in dieser Form vorbei sind. Wir werden eine große Veränderung erleben. Das ist wichtig zu verstehen, zu ertragen und positiv zu gestalten."
"Wir haben eine Vorreiterrolle. Aber wir werden am Ende nur erfolgreich sein, wenn es uns gelingt, andere zu überzeugen, dass unser Weg richtig ist", meint Frei. "Er wird nur dann überzeugend sein, wenn wir erfolgreich sind. Wenn der Weg nicht zu weniger Wohlstand führt, sondern zu mehr Wohlstand."
In die Defensive gerät der CDU-Politiker, als es um seinen Parteikollegen Friedrich Merz geht. Dieser hatte relativierend erklärt, dass man in der Klimafrage im Grunde noch ausreichend Zeit habe. "Natürlich nehmen wir den Klimaschutz ernst", so Frei. "Das, worauf Friedrich Merz eingegangen ist, ist dieses apokalyptische Denken, das wir auch bei der letzten Generation erlebt haben. Das nimmt sehr viel Vernunft aus der Debatte. Am Ende des Tages geht es darum, dass die Ressourcen begrenzt sind und es darum geht, die Ressourcen möglichst zielgerichtet zu nutzen." Ulrichs Einwand: "Herr Frei, mit jedem Aber stirbt ein Baum".
Brantner über Vorwurf der Vetternwirtschaft
Am Ende der Sendung spricht Moderatorin Anne Will Brantner auch auf die Vetternwirtschaft-Vorwürfe in Robert Habecks Team an.
Brandtner versucht zu beschwichtigen: "In einer Demokratie ist Vertrauen das Wichtigste. Deswegen haben Herr Graichen und Herr Kellner zu Beginn ihrer Amtszeit dieses verwandtschaftliche Verhältnis offengelegt und Compliance-Regeln eingezogen. Da wurde eine klare Wand eingezogen von Tag eins an — transparent und mit entsprechenden Regeln. Es ist ein Fehler passiert bei der Nachbesetzung. Für diesen Fehler hat sich Herr Graichen entschuldigt, der Fehler wird geheilt."
Wie der Fehler denn geheilt werden soll, will sie nicht verraten: "Das muss der Aufsichtsrat entscheiden", so Brantner, die aber auch mahnt, dass dies nicht von "den wichtigen Themen ablenken" solle.
- Sendung "Anne Will" vom 30.04.2023