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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Grünen-Politikerin Tessa Ganserer "Dieses Verfahren ist entwürdigend"
Tessa Ganserer von den Grünen sicherte sich als erste trans Person einen Platz im Bundestag. Jetzt spricht die Politikerin über ihre Pläne und darüber, warum sie den Begriff "Identitätspolitik" ablehnt.
Über die bayerische Grünen-Landesliste gelang ihr der Sprung in den Bundestag: Hinter Tessa Ganserer liegt eine ereignisreiche Woche nach der Wahl am 26. September. Zusammen mit ihrer Parteikollegin Nyke Slawik sind nun erstmals zwei offen lebende trans Frauen im Deutschen Bundestag vertreten. Die 44-Jährige war zuvor seit 2013 Mitglied im Bayerischen Landtag.
Im Gespräch mit t-online verrät die Politikerin, was sich für trans Personen im Bundestag unbedingt ändern muss, wie sie zu Diskriminierungen steht – und ob eine Quote für Minderheiten künftig helfen könnte.
t-online: Frau Ganserer, die Bundestagswahl ist nun schon ein paar Tage her und somit auch die Meldung, dass Sie über die Landesliste ins Parlament einziehen dürfen. Wie war Ihre letzte Woche?
Tessa Ganserer: Sie war extrem ereignisreich und wahnsinnig schnell vorbei. Wir haben am Sonntag noch das Wahlergebnis gefeiert, am Montag kamen schon unendlich viele Presseanfragen. Ich konnte mich kaum pünktlich loseisen, um den Zug nach Berlin zu erwischen. Es gab die ersten Kennenlerngespräche, die erste Fraktionssitzung und unzählige Glückwunschbekundungen.
Anlässlich der Bundestagswahl ist auf ihrem Twitter-Profil ein Bild mit der Aufschrift „Für Vielfalt Tessa wählen“ zu sehen. Was bedeutet Vielfalt für Sie?
Vielfalt bedeutet, dass in den Parlamenten ein Querschnitt der Bevölkerung vertreten ist. Ich bin der Überzeugung, dass der politische Diskurs und die Beschlüsse dann besser werden und die Menschen ihre persönlichen Erfahrungen einbringen können. Wir haben insofern Geschichte geschrieben, denn zum ersten Mal wurden zwei offen lebende trans Personen in den Bundestag gewählt.
Auf Instagram nennen Sie trans als Ihre Superkraft. Warum?
Ich glaube, dass trans Personen vielfältigere Erfahrungen in ihrem Leben gemacht haben, auch weil sie in einem falschen Geschlecht sozialisiert wurden und so gelebt haben. Ich weiß, wie die Gesellschaft mit Menschen umgeht, die als Mann gelesen werden. Ich weiß aber auch, wie die Gesellschaft mit Frauen umgeht.
Als trans Person denke ich viel bewusster über Geschlechterstereotypen und Klischees nach. Wir werden alle von der Gesellschaft geprägt und reproduzieren permanent Gesellschaftsnormen – auch unbewusst.
Es fällt auf, dass in den Medien vielfach von Nyke Slawik und Ihnen als „die ersten trans Frauen im Bundestag“ die Rede ist. Warum spielt die Geschlechteridentität immer noch so eine große Rolle?
Weil Frauen in dieser Gesellschaft in vielerlei Hinsicht noch benachteiligt werden. Ein Beispiel ist der Gender-Pay-Gap: Frauen verdienen weniger und bekommen eine geringere Rente. Die Grüne Fraktion hat einen Frauenanteil von 58 Prozent im Bundestag. Aber über alle Fraktionen hinweg sind im Bundestag Frauen noch immer in der Unterzahl.
Für Geschlechtergerechtigkeit ist eine möglichst paritätische Besetzung der Entscheidungsgremien notwendig. Der Deutsche Bundestag entscheidet über das Schicksal und Leben von trans Personen. Da halte ich es für wichtig, dass dort auch trans Personen vertreten sind. Sie sollen ihre Stimme erheben können und gehört werden.
Braucht es aus Ihrer Sicht denn eine Quotenregelung im Bundestag?
Ich bin davon überzeugt, dass es eine vielfältige und ausgewogene Vertretung in den politischen Entscheidungsgremien braucht. Wir Grünen haben mit einem Vielfaltsstatut begonnen. Wir haben uns gefragt: Wo gelingt es uns noch nicht, alle Gruppierungen zu vertreten? Die Grünen sind bestimmt nicht perfekt, aber Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen sollten am politischen Diskurs teilnehmen können.
Wir haben auch zu wenig Menschen mit Behinderung in den Parlamenten. Da hätten wir uns gewünscht, dass wir neben Stephanie Aeffner auch Wiebke Richter aus Bayern, eine weitere Frau mit Behinderung, in den Bundestag schicken können. Für Wiebke Richter hat es leider nicht geklappt.
Was könnte helfen, damit die Vielfalt in der Gesellschaft im Bundestag abgebildet wird?
Es müsste so sein: Wir haben eine bestimmte Prozentzahl an Menschen mit Behinderung oder Menschen mit Migrationshintergrund in unserer Gesellschaft und wir bekommen für jede Gruppierung eine feste Quote, um die 100 Prozent repräsentativ auf den Listen zu vertreten.
Dann legen wir aber so viele Quoten übereinander, dass es wahnsinnig schwierig wird, allen gerecht zu werden. Dennoch müssen sich Parteien bemühen möglichst alle Gruppierungen und Bevölkerungsgruppen auf ihren Listen zu repräsentieren.
Wie stehen Sie zur Identitätspolitik? Der Chef einer großen Sonntagszeitung warnte gerade davor, dass der politische Ansatz den "Westen von innen her" zerstöre und schmähte ihn als "radikale Geisteshaltung".
Wer bewusst von Identitätspolitik spricht, der versucht, diese wirklich berechtigte Forderung nach Einhaltung von Grundrechten abzuwerten. Ich mache mir diesen Begriff nicht zu eigen und weise entschieden zurück, dass es hier um Identitätspolitik geht. Mit dem Begriff soll von den eigentlichen Kernproblemen abgelenkt werden.
Von welchen?
Dass es hier nicht um irgendwelche Halligalli-Veranstaltungen, Extravaganzen oder um ein Wunschkonzert geht. Es geht um die Grundrechte von Menschen und den Schutz vor Benachteiligungen. Wir reden hier von Menschenrechtspolitik.
Trans Personen sind besonders häufig von Diskriminierung und Gewalt betroffen. Wie können sie besser geschützt werden?
Wir müssen endlich die rechtlichen Benachteiligungen abschaffen. Zum Beispiel muss das Transsexuellengesetz durch ein Selbstbestimmungsgesetz abgelöst werden. Das Gesetz aus den achtziger Jahren war von Anfang an unrecht – einzelne Teile wurden vom Bundesverfassungsgericht für grundgesetzwidrig erklärt. Trans Personen müssen nach wie vor für eine amtliche Personenstandsänderung einen Antrag bei Gericht stellen.
Dort müssen sie einen ausführlichen Lebenslauf vorlegen und zwei psychologische Gutachten über sich ergehen lassen. Dann entscheidet ein Gericht, ob der Staat sie als den Menschen akzeptiert, der sie sind. Dieses Verfahren ist entwürdigend. Es muss einfacher und unbürokratischer werden.
Was genau wurde beim Transsexuellengesetz als grundgesetzwidrig erklärt?
Das letzte Urteil war aus dem Jahr 2011: Da wurde die Vorgabe, dass für die amtliche Personenstandsänderung eine geschlechtsangleichende Operation notwendig ist, für grundgesetzwidrig erklärt.
Normalerweise ist es dann die Aufgabe der Politik, diese Passagen anzugleichen, das ist bisher nicht geschehen. Seit zehn Jahren wird eine Reform versprochen, passiert ist gar nichts – der Paragraph darf nur nicht mehr angewandt werden.
Seit sechs Jahren fordert auch der Europarat die Mitgliedsstaaten auf, einfache und unbürokratische Verfahren zur Personenstandänderung zu schaffen, welche ohne Zwangsbegutachtungen auskommen und das Selbstbestimmungsrecht von trans Personen wahren. Zahlreiche europäische Länder sind da längst weiter als Deutschland.
Welche queeren Themen liegen Ihnen außerdem am Herzen?
Wir brauchen ganz dringend eine Reform des Abstammungsrechtes. Es benachteiligt nicht nur trans Personen, sondern auch verheiratete, lesbische Frauen, die gemeinsam ein Kind bekommen. Denn die Frau der biologischen Mutter muss das Kind erst adoptieren, um als Mutter anerkannt zu werden. Auch das Thema Blutspendeverbot für homosexuelle und bisexuelle Männer muss endlich abgeschafft werden.
Per Bundestagsbeschluss können wir damit aber nur rechtliche Gleichstellung erreichen. Gesellschaftliche Vorurteile und Hass können wir per Parlamentsbeschluss nicht aus der Welt schaffen.
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Haben Sie in der Politik schon viel Diskriminierung erfahren müssen?
Ich habe im bayerischen Landtag die Abgeordneten der CSU als sehr respektvoll erlebt. Gleiches gilt für die Kandidierenden der Union, mit denen ich im Bundestagswahlkampf zusammengekommen bin. Das zeigt für mich, dass es eine irrationale, nicht erklärbare Angst der Union in der letzten Legislaturperiode war, sich gegen die Rechte von trans Personen auszusprechen.
Aber ich erfahre in den Sozialen Medien regelmäßig Häme, Spott und Beleidigungen – gelegentlich auch Bedrohungen.
Haben Sie Angst, dass Sie nach Ihrem Einzug in den Bundestag von den Kollegen aus dem bürgerlich-konservativen Lager angegriffen werden?
Auf keinen Fall. Ich lasse mich auch von Hate-Speech in den Sozialen Medien nicht beeindrucken.
Die Gespräche zur Regierungsbildung laufen zwischen FDP, Grünen, Union und SPD: Welches Wunschbündnis bevorzugen Sie und warum?
Ein Wunschbündnis für mich ist eine Regierung, die wirklich die großen Aufgaben beherzt anpackt. Das heißt: notwendige Maßnahmen für einen echten Klimaschutz umsetzen, für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen und für eine offene und tolerante Gesellschaft eintreten.
Die Parteispitze führt jetzt Sondierungsgespräche, um zu sehen, wo sind die größten Schnittmengen, um diese Aufgaben möglichst beherzt anzugehen.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Ganserer!
- Interview mit Tessa Ganserer