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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kritik am Wahl-O-Mat "Wichtige Aspekte werden ausgelassen, das ist problematisch"
Der Wahl-O-Mat hat einige Schwächen, sagt Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider. Trotzdem kann er helfen: Denn viele Parteien werden in ihren Programmen immer unverständlicher.
Seit 2002 hilft der Wahl-O-Mat den Menschen in Deutschland, die Partei zu finden, mit der jede Wählerin und jeder Wähler die höchste Übereinstimmung hat. Immer mehr Menschen nutzen das Programm, das von der Bundeszentrale für Politische Bildung entwickelt wird: Wurde die erste Version 2002 noch von 3,6 Millionen Menschen genutzt, waren es bei der Bundestagswahl 2017 mehr als 15 Millionen Nutzer.
Doch mittlerweile hat der Wahl-O-Mat Konkurrenz bekommen. Einige Alternativen finden Sie hier. Darüber hinaus bemängeln Kritiker, dass die 38 Ja/Nein-Fragen zu undifferenziert seien. Die abgefragten Themen sorgen zudem immer wieder für Diskussionen.
Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim will dem Programm auch keine zu große Rolle im Wahlkampf zuschreiben. Viele Menschen wählen laut dem Kommunikationswissenschaftler nicht das, was ihnen der Wahl-O-Mat empfiehlt. Im Gespräch mit t-online erläutert er die Vor- und Nachteile des Programms, wie er das Auftreten der drei Kanzlerkandidaten bewertet und warum die Wahlprogramme der Parteien in diesem Jahr besonders schwer verständlich sind.
t-online: Heute wurde der Wahl-O-Mat zur kommenden Bundestagswahl veröffentlicht. Machen Sie Ihr Kreuz bei der Partei, mit der Sie die höchste Übereinstimmung haben?
Frank Brettschneider: Meistens schon. Aber das Ergebnis überrascht mich manchmal. Damit bin ich nicht allein: Wir hatten in der Vergangenheit bei einer Landtagswahl Menschen gefragt, ob sie mit dem Ergebnis des Wahl-O-Mat gerechnet hatten. Ein Drittel der Menschen war überrascht, zwei Drittel fühlten sich durch ihr Ergebnis bestätigt.
Das würde bedeuten: Ein Drittel der Menschen wählt anders, als es der Wahl-O-Mat ihnen empfiehlt?
Das ist tatsächlich so. Oft liegen die Ergebnisse bei den Parteien, die keine Extrempositionen einnehmen, ja auch recht nahe beieinander. Die Werte von CDU und SPD unterscheiden sich bei vielen Menschen nur um wenige Prozentpunkte. Der Wahl-O-Mat nimmt einem nicht das Wählen ab. Ursprünglich war er als Orientierung für Erstwähler erdacht worden, mittlerweile nutzen ihn aber viele Bevölkerungsgruppen. Er ist eine Informationsquelle unter vielen, wahlentscheidend ist der Wahl-O-Mat sicher nicht. In der Regel entscheiden drei Faktoren, wem ich meine Stimme gebe: Die Themen, das Spitzenpersonal und ob ich eine langfristige Bindung zu einer Partei besitze oder nicht.
Dennoch ist der Fragebogen mit der Zeit immer beliebter geworden: Bei der Bundestagswahl 2017 nutzten ihn 15,7 Millionen Menschen. Wird er immer wichtiger?
Er hat vielleicht einen größeren Einfluss auf Jüngere, weil er einen spielerischen Aspekt bei der Wahlentscheidung einbringt. Dadurch könnte er die Wahlbeteiligung ein wenig verstärkt haben. Auch gibt er einen guten Überblick über die vielen kleinen Parteien, die sonst nur wenig Aufmerksamkeit erhalten. Aber Wahlergebnisse kann der Wahl-O-Mat nicht beeinflussen.
Am Aufbau des Tools gibt es aber auch immer wieder Kritik: Gerade kleine Parteien haben oft nur zu wenigen Themen eine klare Haltung. Sie müssen sich dann aber zu ganz verschiedenen Inhalten positionieren. Werden dadurch nicht auch Ergebnisse verzerrt?
Die Ergebnisse fußen auf Selbstauskünften der Partei. Dafür sind sie selbst verantwortlich. Deshalb sehe ich kein großes Problem.
Zur Bundestagswahl wurden 38 Thesen ausgewählt. Man kann entweder zustimmen, ablehnen oder sich enthalten. Die Auswahl der Thesen überrascht an manchen Stellen. Zur Corona-Pandemie wird etwa nur nach Patentschutz und Homeoffice-Regeln gefragt. Sind die Schwerpunkte richtig gesetzt?
Das liegt an den Auswahlprozessen. Es wird nach Themen gesucht, bei denen es zwischen den Parteien die deutlichsten Unterschiede gibt. Es werden deshalb manchmal Dinge abgefragt, die sehr unterschiedlich betrachtet werden, für die Bevölkerung aber nicht immer relevant sind. Das ist problematisch, denn dadurch werden wichtige Aspekte ausgelassen. Auch die Energiewende, Wohnungsbau oder außenpolitische Themen hätte man stärker in den Fokus rücken können. Ich könnte mir vorstellen, dass es in Zukunft eine Kurzversion mit 38 Thesen gibt und eine längere Fassung, die mehr Themenkomplexe betrachtet. Mittlerweile gibt es aber auch viele Alternativen zum Wahl-O-Mat, die andere Schwerpunkte setzen. Auch die können hilfreich sein.
Die gesamten Wahltools haben eines gemeinsam: Sie reduzieren die Parteien und ihre Programme auf wenige einfache Aussagen. Das steht im krassen Widerspruch zu einer Studie, die Sie kürzlich zu den Wahlprogrammen veröffentlicht haben: Die Programme sind demnach in ihrer Wortwahl immer unverständlicher.
Wir haben untersucht, wie leicht es den Wähler gemacht wird, sprachlich die Ziele der Parteien nachzuvollziehen. Hinderlich sind etwa lange oder verschachtelte Sätze, Fachbegriffe oder zusammengesetzte Wörter. Dafür haben wir eine Software entwickelt, die einen Text auswertet und anschließend einen Wert zwischen 0 und 20 berechnet. Ein hoher Wert drückt aus, dass der Text leicht verständlich ist. Nachrichten im Hörfunk kommen in der Regel etwa auf den Wert 16, Doktorarbeiten in der Politikwissenschaft liegen meistens maximal bei 5.
Im Schnitt kommen alle Parteien in dieser Wahl mit ihren Programmen auf den Wert 7,2. Schlechter waren die Zahlen zuletzt 1994. Am besten schnitt diesmal die Linkspartei mit 8,4 ab, SPD und CDU liegen nicht weit dahinter. Der niedrigste Wert war 5,6 bei den Grünen: Deren Wahlprogramm ähnelt sprachlich also einer Doktorarbeit. Die AfD schnitt kaum besser ab. Wichtig ist aber: Über die inhaltliche Qualität sagt die Studie nichts aus.
Warum können die Parteien immer schlechter ihre Inhalte kommunizieren?
Das hat mehrere Gründe. Einer ist etwa der sogenannte Fluch des Wissens: Einzelne Themenblöcke werden zum Beispiel von Fachpolitikern geschrieben. Alltagssprache kommt dort selten vor. Die Einleitung oder der Schluss ist dagegen meistens deutlich verständlicher, denn den formulieren meistens die Kommunikationsexperten der Parteien.
Beim aktuellen Wahlkampf hat man ohnehin den Eindruck, dass es mehr um die einzelnen Kanzlerkandidaten geht als um Inhalte. Werden unsere Wahlkämpfe immer personalisierter?
Es gab auch in der Vergangenheit schon Wahlen, in denen es sehr stark um die Kandidaten ging. Schon Kurt Georg Kiesinger warb in den Sechzigern für sich mit dem Spruch "Auf den Kanzler kommt es an". Bei Brandt hieß es 1972 "Willy wählen". Dort gab es allerdings häufig auch eine Verbindung zwischen der Person und einem bestimmten Thema: Helmut Kohl stand etwa für die Wiedervereinigung, Willy Brandt für eine neue Ostpolitik. Das ist bei den drei aktuellen Kanzlerkandidaten so nicht erkennbar.
Wie bewerten Sie generell das Auftreten der drei in der Öffentlichkeit?
Rhetorisch sind alle Kanzlerkandidaten keine Überflieger. Da gab es deutlich redegewandtere Politiker, etwa Joschka Fischer oder Gregor Gysi, auch Helmut Kohl auf seine Art. In dieser Liga spielt keiner der Kandidaten. Ein Beispiel ist das Abschlussstatement von Armin Laschet bei dem TV-Triell: Da war überhaupt kein Inhalt erkennbar. Olaf Scholz wirkt auf einige Menschen ebenfalls sprachlich eher dröge, allerdings kommt ihm das aktuell wohl eher zugute. Denn er wirkt für viele dadurch unaufgeregt, fast schon staatsmännisch gelassen. Baerbocks Leistungen schwanken: Sie wirkte auf mich nach einigen Fehlern verunsichert. Beim Triell hat sie sich aber wieder verbessert.
Ist ein beliebter Kandidat am Ende entscheidender als ein starkes Programm?
Wer am kompetentesten wirkt und als integer gilt, gewinnt. Sympathie oder Beliebtheit spielen keine große Rolle. Das Programm liefert ohnehin nur eine grobe Orientierung. Als Kanzler muss man sich mit vielen Themen auseinandersetzen, die ohnehin nie in einem Wahlprogramm standen.
- Interview mit Frank Brettschneider am 2.9.2021