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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Es geht um Millionen Stimmen So werden die Merkel-Wähler abgeschreckt
Für Millionen Deutsche war Kanzlerin Angela Merkel der entscheidende Grund die Union zu wählen. Nun tritt sie nicht wieder an. Doch noch hat keine der Parteien ein vielversprechendes Angebot für ihre Anhänger.
Darauf haben SPD und Grüne seit vielen Jahren gewartet: Die Frau, die sie in vier Bundestagswahlen nicht bezwingen konnten, tritt ab. Dann, so die Erwartung, würden sie die vielen Wähler für sich gewinnen, die weniger die Partei CDU als die Kanzlerin Merkel gewählt haben.
Die CDU bangt um diese Wählergruppe, denn sie dürfte mit wahlentscheidend sein. Doch es ist längst nicht ausgemacht, wohin sie sich orientieren wird. Das Problem: Jede der drei Parteien bietet für die Merkel-Wähler derzeit mehr Abschreckendes als Anziehendes.
Merkels erklärungsarmer Regierungsstil zog Wähler an
Bei der letzten Bundestagswahl war Angela Merkel diejenige Spitzenkandidatin, die die meisten Wähler über ihre Person mobilisierte. 38 Prozent der Unionswählerinnen und -wähler gaben ihre Stimme CDU oder CSU vorrangig aufgrund ihrer Spitzenkandidatin. Dies entsprach 5,8 Millionen aller Wählerstimmen.
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Die Kanzlerin führte ihre CDU programmatisch in die Mitte und zog damit viele Wähler an, die vorher SPD, Grüne oder länger gar nicht gewählt hatten. Merkel pflegte einen erklärungsarmen Regierungsstil, der keine umfassenden Debatten benötigte. Große Projekte wie der Atomausstieg wurden über Nacht beschlossen, das parteiliche Tafelsilber wie die Hauptschule, die Wehrpflicht und das traditionelle Familienbild kurzentschlossen über Bord geworfen. Und beim Mindestlohn wurden Forderungen der Gegner übernommen. Viele Merkel-Wähler blieben der Kanzlerin auch während der hitzigen Debatten um ihre Flüchtlingspolitik ab 2015 treu.
"Sie kennen mich"
Merkel musste als Kanzlerin auf mehrere Krisen reagieren und hat als CDU-Chefin ihre Partei aufgrund von gesellschaftlichem Wertewandel modernisiert. Beides war vorher in keinem Wahlprogramm abgebildet. Umso mehr zählte deswegen der Vertrauensvorschuss in ihre Person, den sie bei den Wahlen erringen konnte.
Merkel versprach den Menschen über weite Strecken erfolgreich, ihnen ungemütliche Zukunftsdebatten und politische Konflikte vom Hals zu halten. Ihr Satz "Sie kennen mich" aus dem letzten Kanzlerduell war Ausdruck dessen. Kurz vor dem Ende ihrer Amtszeit ist Angela Merkel die beliebteste Politikerin in einem Land, in dem aktuell immerhin 69 Prozent der Menschen ihre wirtschaftliche Lage als gut beschreiben.
Alle drei Parteien, die bei dieser Wahl mit einem Kanzlerkandidaten antreten, werben nun um diese Wählergruppe. Vor allem natürlich die Union. Doch die Vorstellung, dass diese Wähler unter einem neuen Spitzenkandidaten einfach bei der CDU bleiben werden, ist naiv. Zu sehr waren die vergangenen Wahlkämpfe mit dem persönlichen Stil Angela Merkels verbunden.
Die größte Gefahr für die CDU lauert in ihr selbst
In ihrem aktuellen Wahlprogramm setzt Laschets CDU auf ein gesellschaftliches Sicherheitsversprechen, ohne große Reformen anzustreben. Derzeit profitiert die CDU vor allem von den Diskussionen um die Grünen-Spitzenkandidatin Annalena Baerbock und davon, dass sie sich den Grünen gegenüber als Stabilitätsgarant darstellen kann. Vor dem Hintergrund der langsam zu Ende gehenden Corona-Krise mögen viele Menschen eine Sehnsucht nach der Zeit vor Covid-19 verspüren; nur kann es sein, dass diese Gegenwartsorientierung über den Wahltag hinaus auf manchen zu ambitionslos wirkt.
Die größte Gefahr für die CDU lauert derzeit in der Partei selbst. Durch die Nominierung von Hans-Georg Maaßen für den Bundestag und den Führungswechsel bei der "Werte-Union" haben die Parteirechten im Umfeld der CDU viel Aufmerksamkeit bekommen. Die Merkel-Wähler hingegen haben sich gerade durch das Abschleifen konservativer Positionen für Merkels Partei begeistern können. Eine Rückkehr zu Programmpunkten vergangener Tage oder gar noch radikaleren Positionen dürfte jene wohl eher verschrecken.
SPD-Strategie funktioniert noch nicht
Auf Seiten der SPD wähnte man den Zeitpunkt gekommen, endlich aus dem übergroßen Schatten Merkels herauszutreten. Man glaubte, von einer möglicherweise chaotischen Neusortierung der Union zu profitieren und so einen Großteil ihrer Wähler einfach einsammeln zu können.
Die Ausgangsbedingungen waren zunächst gar nicht schlecht. Der linke Parteiflügel verhält sich seit Längerem ruhig. Mit Olaf Scholz, der in seinem letzten Hamburger Bürgermeisterwahlkampf als "männliche Merkel" bezeichnet wurde, tritt ein unideologisch, pragmatisch und unaufgeregt agierender Politiker an. Doch aktuell verfängt diese Strategie nicht.
Die Union hat sich nach ihrem Duell zwischen Laschet und Söder um die Kanzlerkandidatur wieder gesammelt und der SPD-Kandidat ist als Person weit beliebter als seine Partei. Das bei dieser Wahl zu erwartende, für SPD-Verhältnisse desaströse Ergebnis dürfte innerhalb der Partei alte Konflikte aufbrechen lassen und jene abstoßen, die an Merkels Kanzlerschaft ihre weitgehend geräuschlose Regierungspraxis geschätzt haben.
Das Problem mit dem Veränderungsdrang der Grünen
Die momentan in Umfragen zur zweitstärksten Kraft aufgestiegenen Grünen machen sich ebenso Hoffnungen auf die Merkel-Wähler. Sie haben in den letzten Jahren teilweise ihr programmatisches Angebot, ihr Führungspersonal und ihre Regierungspraxis verbürgerlicht. Trotzdem bleibt abzuwarten, ob für die Merkel-Wähler der Klimawandel das alles überlagernde, zukunftsprägende Thema sein wird, oder ob andere Themen infolge der Corona-Krise mindestens genauso drängend sein werden.
Die Diskussionen um den Lebenslauf und das Buch von Annalena Baerbock stellen nicht nur Fragen an die Glaubwürdigkeit der Kandidatin. Die Fähigkeit, den eigenen Lebenslauf durch erbrachte Leistungen selbst gestalten zu können sowie das Verfassen von Büchern sind Kernbestandteile eines bürgerlichen Selbstverständnis. Gerade im akademischen Milieu dürfte das für Irritationen gesorgt haben. Dies ruft somit besonders dort Kritik hervor, wo die größten Berührungspunkte zwischen grünen und christdemokratischen Wählergruppen liegen. Dort, wo ein Wechsel leicht stattfinden kann oder wegen kleiner Fehler dann auch schnell ausbleibt.
Inwieweit der Veränderungsdrang, der im grünen Wahlprogramm erkennbar ist, bei Merkel-Wählern verfängt, ist ebenso fraglich. Die Liberalisierung der Union bestand darin, dass sie sich auf diese Wählergruppen, etwa beim Familienbild, zubewegt hat und nicht darin, dass sie ihnen viel abverlangte. Jenseits der Energiewende mit ihrer EEG-Umlage sind in der Finanz- und Flüchtlingskrise die spürbaren Eingriffe in den Alltag der Mittelschichten nur gering gewesen.
Umwälzende Reformen hat es unter Merkel nicht gegeben. Die Debatte rund um die geplante 16-Cent-Benzinpreiserhöhung machte bereits deutlich: Inwieweit diese Wählergruppen bereit sein werden, im Rahmen des grünen Wahlprogramms in den Bereichen der Energieversorgung, der Mobilität, der Ernährung und des Konsumverhaltens den eigenen Lebenswandel tatsächlich substanziell zu verändern, bleibt abzuwarten.
Welche Partei auch immer bei der Wahl erfolgreich bei dieser Wählergruppe punkten kann, wird dann aber auch mit einem ganz anderen Problem umgehen müssen: Diese Wähler haben keine feste Parteibindung und treffen im jeweiligen Wahlkampf ihre Wahlentscheidungen besonders stark themenkonjunkturell und auf Basis kurzfristiger Ergebnisbewertungen. So können die Parteien diese Wähler durch gute Kampagnen leichter gewinnen, aber eben beim nächsten Mal auch schneller wieder verlieren.
- Eigene Beobachtungen
- Infratest dimap: Wahlreport zur Bundestagswahl 2017