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Syrien ohne Assad: Grüner Nouripour über deutsche Debatte: "Zynisch"


Verhandlungen mit Rebellen in Syrien?
"Das ist zynisch"

  • Johannes Bebermeier
InterviewVon Johannes Bebermeier

Aktualisiert am 09.12.2024Lesedauer: 6 Min.
Wladimir Putin und Baschar al-Assad: Seit seiner Flucht aus Syrien war über Assads Aufenthaltsort gerätselt worden.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin und Baschar al-Assad: Russlands Machthaber konnte den syrischen Diktator nicht mehr schützen. (Quelle: Aleksey Nikolskyi/Kremlin/reuters)
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Was bedeutet der Fall des Diktators Assad in Syrien? Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour sieht den Iran und Russland geschwächt – und den türkischen Präsidenten Erdoğan in einer wichtigen Rolle.

Am Wochenende veröffentlichte Omid Nouripour auf Instagram ein Foto der Wikipedia-Seite über Baschar al-Assad. Ein "syrischer Politiker, der von 2000 bis 2024 Staatspräsident Syriens war" heißt es dort nun über Assad. Nouripour schrieb dazu: "Ich hatte noch nie beim Lesen eines Wikipedia-Artikels vor Freude geweint ..."

Omid Nouripour hat den brutalen Konflikt in Syrien seit Beginn des Bürgerkriegs 2011 für die Grünen als Außenpolitiker verfolgt. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum der frühere Grünen-Chef jetzt so bewegt ist. Im Interview mit t-online spricht er über Freude trotz großer Unsicherheit, Erdoğans Verantwortung und eine zynische deutsche Debatte.

t-online: Herr Nouripour, Sie haben am Sonntag geschrieben, dass Sie vor Freude weinen mussten, als Assad gestürzt wurde. Was ging Ihnen durch den Kopf?

Omid Nouripour: Dass der Massenmörder Assad jetzt nicht mehr regiert, ist einfach überwältigend. Das liegt auch an der Geschwindigkeit, mit der das passiert ist. Das hat so ja niemand kommen sehen. Ich habe so viel Leid gesehen in diesem Land. Ich habe so viele Freunde gehabt, die nicht mehr leben. Ich musste an Menschen denken, die unendlich gelitten haben. Der Moment war einfach ergreifend für mich. Auch wenn wir natürlich überhaupt nicht wissen, wie es jetzt weitergeht und noch so vieles schiefgehen kann.

Sie mussten selbst als Kind mit ihrer Familie wegen des Kriegs aus dem Iran fliehen. Wird Politik in solchen Momenten noch mal persönlicher als sonst?

Ja, natürlich, da kommen Erinnerungen hoch. Es gibt ja auch regionale Bezüge: Die Tatsache, dass dieselben Leute, die im Iran das eigene Volk knechten, maßgeblich dazu beigetragen haben, dass Assad all diese Verbrechen begehen konnte, war stets unerträglich.

Zur Person

Omid Nouripour, 49 Jahre alt, ist seit 2006 Bundestagsabgeordneter der Grünen mit Schwerpunkt Außenpolitik. Von 2002 bis zum November dieses Jahres war er mit Ricarda Lang Bundesvorsitzender der Partei. Er ist in Teheran geboren und floh mit seiner Familie, als er 13 Jahre alt war, wegen des Golfkriegs nach Deutschland.

Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas hat recht schnell gesagt, Assads Sturz zeige, wie schwach der Iran und Russland als seine Unterstützer seien. Sind Sie auch so optimistisch?

Sie hat völlig recht. In der internationalen Konfliktforschung gibt es den Begriff "Power Projection". Da geht es darum, wie mächtig ein Land wirkt. Russland hat es gerade in Syrien immer wieder geschafft, mit minimalem Einsatz sehr mächtig zu wirken. Diese Wirkung ist komplett zerschellt in dem Augenblick, in dem ein paar Milizen in unglaublicher Geschwindigkeit Assad gestürzt haben, ohne dass die Atommacht Russland irgendwas tun konnte.

Und der Iran?

Für den Iran gilt das erst recht. Zumal es ja einfach große materielle Verluste für beide Staaten gibt. Für die Iraner ist ihre Brücke zur Versorgung der Hisbollah weggefallen. Für die Russen ist überhaupt nicht klar, wie es weitergeht mit ihrem Militärstützpunkt in Tartus, also die russische Brücke zum östlichen Mittelmeer. Es sind harte Niederlagen für Russland und Iran.

Wie viel Sorgen macht Ihnen, dass mit Abu Mohammed al-Dschulani ein Mann die Aufständischen anführt, der Verbindungen zur Terrormiliz IS und zur Al-Nusra-Front hatte?

Das ist ein großer Grund zur Sorge. Leute wie Dschulani waren die härtesten Dschihadisten, die es gegeben hat. Gleichzeitig hat er es die letzten Wochen geschafft, ein sehr breites Bündnis auch mit säkularen und teilweise glaubwürdig demokratischen Kräften aufzustellen.

Was heißt das für die Zukunft Syriens?

Es gibt überhaupt keinen Grund anzunehmen, dass jetzt von selbst alles besser wird. Aber es gibt auch keinen Grund, automatisch davon auszugehen, dass die Dschihadisten ein Kalifat aufziehen werden können. Das hängt von sehr vielen Faktoren ab, militärisch wie politisch.

Was bedeutet das für uns?

Wir müssen auf der Hut sein, aber wir sollten die Situation jetzt auch so annehmen, wie sie ist. Alle, die jetzt Prophezeiungen abgeben, wie es weitergehen wird, werden sich noch korrigieren müssen. Aber diese Unsicherheit wäre kein Grund gewesen, an Assad festzuhalten, ganz sicher nicht. Assad ist der Grund, warum das Land in dieser fürchterlichen Lage ist.

Was muss nun passieren?

Als EU müssen wir uns überlegen, wie wir in Syrien helfen können, damit es eine stabile und friedliche Lösung gibt. Viel hängt aber auch davon ab, wie die Türkei sich aufstellt in der Kurdenfrage. Es wäre für die Region nicht hilfreich, wenn wir bald mehrere Syriens hätten. Und das ist durchaus ein Szenario, das im Bereich des Möglichen liegt.

Welche Rolle müsste Präsident Erdoğan spielen, damit es gut ausgeht?

Die Rolle der Türkei ist nun massiv gestärkt – und damit trägt Erdoğan große Verantwortung. Er darf jetzt nicht seinen Kampf gegen die Kurden in den Mittelpunkt stellen, sondern die Stabilität Syriens in der Breite. Und zu dieser Breite gehört, dass auch die Kurden in Syrien eine Rolle spielen müssen.

Frankreich schickt einen Sondergesandten, Christian Lindner schlägt eine Syrienkonferenz vor – was sollte Europa tun?

Eine Syrienkonferenz wäre sehr gut, wenn sie auf europäischer Ebene stattfindet. Die EU-Außenminister sprechen gerade darüber, was zu tun ist. Da gibt es einiges, was man anbieten kann. Am wichtigsten ist, dass wir schnellstmöglich sondieren, welche Gesprächsfäden es mit wem gibt. Das ist noch überhaupt nicht klar.

Mit einem Mann wie Dschulani wird man wahrscheinlich sprechen müssen?

Das wird sich weisen. Wenn es noch der Dschulani ist, der damals bei al-Qaida mitgewirkt hat, dann ist das sicher nicht selbstverständlich. Wenn es ein Dschulani ist, der wirklich an einem inklusiven Regieren unter Beteiligung aller Gruppen und Richtungen interessiert ist, dann schon. Zentral werden auch zwei andere Dinge sein.

Und zwar?

Es braucht, erstens, sehr bald einen Prozess der Willensbildung der Bevölkerung. Legitimität für neue Machthaber darf nicht daraus erwachsen, dass man auf Damaskus zugelaufen ist, sondern durch Wahlen. Zweitens stehen wir vor einer grundsätzlichen Frage, die für die Menschen sehr wichtig ist: Wie kann Assad für seine Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden?

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Der Westen hat sich jahrelang nicht mehr so richtig für Syrien interessiert …

… ich würde sagen: Der Westen hatte jahrelang keinen Einfluss mehr in Syrien.

Aber wegen des eigenen Versagens dort, oder nicht?

Das Versagen des Westens begann aber schon viel früher, spätestens 2016. Da war der Westen so passiv, dass die Russen mit kleinstem Einsatz übernehmen und Assad den militärischen Sieg bescheren konnten. Das Versagen dieser Tage ist eindeutig ein russisches.

Schon 2012 hatte Barack Obama seine berühmte rote Linie gezogen. Als das Assad-Regime sie überschritt und Chemiewaffen einsetzte, folgten keine Konsequenzen.

Ja, der Westen hat sehr viele Fehler gemacht. Es gab eine irgendwie verständliche Kriegsmüdigkeit im Westen, weil die interventionistische Politik in Afghanistan und im Irak nicht funktioniert hat. Syrien ist aber ein klassisches Beispiel dafür, dass es gleichzeitig auch keine Option ist, deshalb einfach die Hände in den Schoß zu legen.

Befürchten Sie das auch heute?

Donald Trump sagt: Das ist nicht unser Krieg, ich habe damit nichts zu tun. Die Amerikaner haben aber gerade 2.000 Soldaten dort. Wenn die Situation komplett eskaliert, dann sind natürlich amerikanische Interessen berührt. Einfach den Kopf tief in den Sand zu stecken und so zu tun, als hätten wir mit der Welt da draußen nichts zu tun – das funktioniert nicht. Die Situation in Syrien zeigt das auf dramatische Weise.

In Deutschland läuft nun eine Debatte über syrische Flüchtlinge. Die Unionsfraktionsvize Andrea Lindholz hat einen Aufnahmestopp gefordert, Jens Spahn Charterflüge und 1.000 Euro Startgeld für Syrien-Rückkehrer. Zu Recht?

Es ist echt bitter, dass der Union nichts mehr zur Außenpolitik einfällt und sie deshalb nur noch über so etwas redet. Es ist Rechtslage, dass Menschen einen Schutzstatus bei uns haben, solange Schutz gebraucht wird. Ob Schutz noch gebraucht wird oder nicht, weiß derzeit einfach niemand, weil wir nicht wissen, wie es in Syrien weitergeht. Sollten am Ende harte Islamisten in Syrien übernehmen, dann wünsche ich Jens Spahn frohe Verrichtung bei den Verhandlungen.

Also eine falsche Debatte?

Man kann über vieles sprechen. Aber im Moment ist die Situation völlig unübersichtlich. Und deshalb ist es zynisch, wenn jemandem gerade nichts anderes einfällt, als über die Lage in Deutschland zu sprechen. Denn dann reden wir nicht mehr darüber, wie wir dazu beitragen können, dass es in Syrien so wird, dass die Leute dort tatsächlich gut und in Würde leben.

Verwendete Quellen
  • Telefonisches Gespräch mit Omid Nouripour am 9. Dezember 2024
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