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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Olaf Scholz Seine Argumentation bricht zusammen
Die Ukraine drängt die russische Armee zurück – vor allem dank westlicher Waffen. Gibt die Bundesregierung ihre zögerliche Haltung nun auf?
Eine Grundsatzrede will die Verteidigungsministerin an diesem Montagvormittag halten. Der Termin mit Christine Lambrecht ist seit Längerem geplant, das Thema wichtig: Erstmals erarbeitet eine Bundesregierung eine nationale Sicherheitsstrategie. Das Vorhaben stand bereits im Dezember im Koalitionsvertrag, aber das Timing könnte angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine kaum besser sein.
Für Lambrecht ist das Timing an diesem Montag allerdings nicht ganz so optimal. Denn in den vergangenen Tagen hat sich die Dynamik des Krieges verändert, der Ukraine ist es gelungen, im Osten des Landes die russischen Truppen in die Flucht zu schlagen. Ob das ein dauerhafter Erfolg ist, weiß niemand. Aber Lambrecht ist es natürlich bewusst, dass eine quälende Frage nun wieder lauter wird: Wann liefert Deutschland mehr Waffen?
In ihrer Rede streift Lambrecht das für sie leidige Thema nur, sie will ja bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, der DGAP, eine Grundsatzrede halten. Aber die SPD-Politikerin weiß auch, dass sie sich zur Aktualität äußern muss. Also sagt sie, dass sie gemeinsam mit dem Generalinspekteur "am Wochenende alle Möglichkeiten noch mal ausgelotet" habe. Und: "Es wird selbstverständlich weitere Unterstützung für die Ukraine geben."
Hört, hört. Aber dann kommt eben gleich die Einschränkung: Deutschland müsse auch seine Zusagen gegenüber der Nato einhalten können. Was wohl so viel heißen soll wie: Wir haben ja selbst nicht viel Material, das funktioniert. Und sollten deshalb nichts versprechen, was wir nicht liefern können.
Oder eben doch: nicht liefern wollen? Denn das ist ja seit Monaten die entscheidende Frage: Tut Deutschland wirklich genug, ja: alles, was möglich ist, um die Ukraine militärisch zu unterstützen? Zweifel daran kann Lambrecht auch beim Gespräch nach ihrer Rede nicht zerstreuen, als sie sagt, sie sei über "diese Ranking-Diskussionen", welches Land wie viel liefere, manchmal ein bisschen irritiert. Die Zeiten seien zu ernst, um auf Platz eins, zwei oder drei landen zu wollen.
Aber es geht eben nicht nur darum, was Deutschland aus den Beständen der Bundeswehr liefern könnte. Denn die Regierung bremst die Industrie aus, die Waffen zur Verfügung stellen könnte. Stets wirkt es so, als hätte Kanzler Olaf Scholz Sorge, Russland zu verärgern. Bislang kam er mit seiner Vorsicht halbwegs durch, weil er sich hinter den Verbündeten verstecken konnte. Deutschland stimmt sich bei Waffenlieferungen eng mit den USA und anderen Partnern ab. Das war das Kanzler-Credo – und das ist es auch am Montag noch. Es bleibe bei der Haltung, "dass es keine deutschen Alleingänge gibt", sagt er bei einer Pressekonferenz.
Klingt erst einmal schlüssig. Doch das größte Problem für Scholz, Lambrecht und die Ampelregierung ist, dass diese Argumentation gerade in sich zusammenfällt.
Wut im Osten, deutliche Hinweise aus Übersee
Viele europäische Staaten sind schon länger sauer auf Deutschland, vor allem im Osten. Sie haben ihr Unverständnis und ihre Wut bereits vor Monaten nicht gerade versteckt. Inzwischen ist die Kritik regelrecht beißend geworden.
"Lassen Sie es mich deutlich sagen: Es ist jetzt unzweifelhaft, dass die Ukraine Russland schon vor Monaten hätte rauswerfen können, wenn sie von Tag eins an mit der nötigen Ausrüstung versorgt worden wäre", schreibt Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis auf Twitter. Tausende Leben hätten so gerettet werden können, klagt Landsbergis und meint damit eben vor allem auch: Deutschland.
Andere gehen noch weiter. "Berlins Zögern, die Untätigkeit, stellt den Wert des Bündnisses mit Deutschland ernsthaft infrage", sagte Polens Premier Mateusz Morawiecki gerade dem "Spiegel". "Und das sagen nicht nur wir. Ich höre das auch von etlichen anderen Regierungschefs in Europa." Es ist nichts weniger als eine Generalkritik. Und zwar von Polen, einem der wichtigsten deutschen Partner in EU und Nato.
Diese Kritik ist für Deutschland schon länger mehr als unangenehm, nur konnte Olaf Scholz bisher immer auf die vermeintliche Geschlossenheit mit der Nato und den USA verweisen. Zumindest öffentlich widersprach ihm da niemand, selbst wenn das hinter den Kulissen mitunter anders aussah.
Doch auch das öffentliche Stillhalteabkommen scheint nun nicht mehr zu gelten. Schon am Freitag machte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg deutlich, dass ihm mehr Waffen für die Ukraine derzeit wichtiger sind als volle Depots der Nato-Staaten. Und räumte damit das Argument von Verteidigungsministerin Lambrecht kurzerhand aus, auch wenn sie ihn anders verstanden haben will, wie sie am Montag sagte.
"Indem wir dafür sorgen, dass Russland in der Ukraine nicht gewinnt, erhöhen wir auch unsere eigene Sicherheit und stärken das Bündnis", sagte Stoltenberg. Die Nutzung der Waffenbestände von Nato-Staaten trage dazu bei, das Risiko eines aggressiven Vorgehens Russlands gegen Nato-Länder zu verringern.
Für den Fall, dass die Botschaft in Berlin nicht angekommen sein sollte, intonierte auch die neue US-Botschafterin Amy Gutmann sie am Sonntagabend im ZDF noch einmal: "Wir müssen alles dafür tun, um die Ukraine zu unterstützen", sagte Gutmann da. "So sehr ich die deutschen Bestrebungen begrüße und bewundere, besonders die Zeitenwende von Olaf Scholz: Meine Erwartungen an Deutschland und die USA sind noch höher."
Die Deutschen leisteten einen "enormen Beitrag", lobte Gutmann in bewährter diplomatischer Tradition. Aber sie glaube, dass "Deutschland eine noch stärkere Führungsrolle übernehmen" wolle. "Und wir hoffen und erwarten, dass Deutschland das tut."
Deutschland könnte liefern
Tatsache ist: Deutschland könnte mehr Waffen liefern, wenn Scholz und Lambrecht tatsächlich wollten. 100 Marder-Schützenpanzer benötigt die Ukraine dringend – und Rheinmetall würde die erste von drei Tranchen aus Lagerbeständen binnen weniger Wochen auch liefern. Der Antrag aber liegt seit fast einem halben Jahr unbearbeitet bei der Bundesregierung.
Noch deutlicher ist die Verweigerungshaltung bei Kampfpanzern, die dringend für die Gegenoffensiven benötigt werden. Insgesamt 88 vom Typ Leopard 1A5 will ebenfalls Rheinmetall seit fast einem halben Jahr liefern, darf es aber nicht, weil die Regierung das Unternehmen nicht lässt.
Lässt sich im Fall des Leopards noch argumentieren, dass weder viel Munition noch Ersatzteile für das veraltete Gerät verfügbar sind und es womöglich auch nur einen begrenzten Nutzen gegenüber dem russischen Kriegsgerät hätte, sieht das bei dem modernen Leopard 2 anders aus. In diesem Fall plädieren Experten wie der Militärstratege Gustav Gressel für ein europäisches Konsortium, um eine ukrainische Brigade mit 90 Kampfpanzern auszustatten. Immerhin verwenden 13 europäische Armeen das Fahrzeug und könnten somit gemeinsam Munition, Ersatzteile, Logistik und Ausbildung stemmen. Das wäre aber nur mithilfe der Berliner Regierung möglich.
Verteidigungsministerin Lambrecht macht am Montag allerdings keine Anstalten, die deutsche Position zu räumen. "Noch kein Land hat Schützen- oder Kampfpanzer westlicher Bauart geliefert", sagt sie. Man habe sich mit den Partnern darauf verständigt, "dass wir da keine deutschen Alleingänge machen". Und auch bei den USA habe sie kein Umdenken festgestellt.
"Ich wünschte mir, dass der Bundeskanzler seine Linie ändert"
Die Opposition in Deutschland hat längst die Chance ergriffen, die Ampel beim Thema Waffenlieferungen zu triezen. "Die Bundesregierung darf sich nicht weiter hinter Ausreden verstecken, sondern muss endlich vorne weggehen", sagt der CDU-Politiker Henning Otte, Vizechef des Verteidigungsausschusses, zu t-online. "Wenn der Kanzler weiter dringend notwendige Entscheidungen verschleppt, gefährdet er die ukrainische Staatlichkeit und verbaut Deutschlands Stellung in der europäischen Friedensordnung."
Florian Hahn, verteidigungspolitischer Sprecher der Unionsfraktion, fordert: "Die Ukraine braucht endlich Panzer der Typen Leopard, Marder und Fuchs, um ihr Land von den russischen Besatzern zu befreien." Und er sagt zu t-online: "In Osteuropa, aber auch bei der Nato stößt Deutschlands Zögerlichkeit auf immer mehr Unverständnis."
Käme diese Kritik nur aus der Union, könnten Scholz und Lambrecht sie vermutlich gut ertragen. Doch sie wird auch in ihrer Ampelkoalition mal wieder sehr deutlich geäußert.
"Ich wünschte mir, dass der Bundeskanzler seine Linie ändert. Ich wünschte mir, dass die Verteidigungsministerin ihre Linie ändert", appelliert die Chefin des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP, am Montag im ARD-"Morgenmagazin". Kampfpanzer liefern? "Das ist unglaublich wichtig und sollte sofort passieren." Die Aussage der US-Botschafterin Gutmann sage doch alles. "Wir sollen weiter liefern", sagt Strack-Zimmermann t-online. "Und damit fühlen wir uns bestätigt, den Fuchs- und den Marder-Panzer der Ukraine sofort zur Verfügung zu stellen."
Selbst in der SPD gibt es erneut Kritik an der Linie des eigenen Kanzlers. Die Ukraine brauche in dieser Phase des Krieges "Waffen, die sie befähigen, von Russland besetzte Gebiete zurückzuerobern", schreibt der sozialdemokratische Außenpolitiker Michael Roth im Gastbeitrag für t-online. "Der Westen, insbesondere die USA, Deutschland, Frankreich und Polen, sollten sich hier rasch abstimmen und ihre Lieferungen den neuen Bewährungsproben anpassen."
Bei den Grünen klingt das noch wesentlich undiplomatischer. "Es kann nicht sein, dass hierzulande weiterhin Schützenpanzer Marder herumstehen, die die Ukraine dringend braucht", sagt Grünen-Außenpolitiker Anton Hofreiter t-online. Angesichts der zerstörten ukrainischen Rüstungsindustrie komme man auch nicht drumherum, der Ukraine moderne, westliche Kampfpanzer zu liefern. "Je schneller wir Leopard-Kampfpanzer zur Verfügung stellen, umso weniger ukrainische Soldaten müssen unnötig sterben", sagt Hofreiter. "Deutschland muss seiner Verantwortung endlich gerecht werden und alles tun, was es kann, um die Ukraine zu unterstützen."
Die sicherheitspolitische Sprecherin der Grünen, Sara Nanni, ist überzeugt, dass es international ein Umdenken bei den Waffenlieferungen geben wird. "Ich sehe da einen allgemeinen Wandel im westlichen Bündnis kommen", sagt sie zu t-online. "Kampf- und Schützenpanzer werden nämlich schlicht gebraucht."
Die Parameter seien klar: "Mehr aus Bundeswehrbeständen, am besten mehr von dem, was die Ukraine schon hat. Und: Keine Begrenzung bei den Systemen mehr", sagt Nanni. Und ergänzt: "Deutschland kann ruhig vorangehen."´
- Eigene Recherchen
- ZDF: Gutmann: Höhere Erwartungen an Deutschland
- spiegel.de: Morawiecki: "Deutschlands Politik hat Europa gewaltigen Schaden zugefügt"
- twitter.de: Thread von Gabrielius Landsbergis
- ARD: "Morgenmagazin": FDP für Lieferung von Kampfpanzern