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Die 10.000-Stundenregel: Wie Genies zu Genies werden


Meinung
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Wie Genies zu Genies werden
Die 10.000-Stunden-Regel für den Welterfolg

MeinungEine Kolumne von Gerhard Spörl

30.04.2018Lesedauer: 6 Min.
Ringo Starr, John Lennon, Paul McCartney und George Harrison zeigen ihre Orden, mit denen sie Königin Elisabeth II. 1965 auszeichnete: Das Genie der Beatles lässt sich auf eine Formel herunterbrechen, behauptet der kanadische Autor Malcolm Gladwell.Vergrößern des Bildes
Ringo Starr, John Lennon, Paul McCartney und George Harrison zeigen ihre Orden, mit denen sie Königin Elisabeth II. 1965 auszeichnete: Das Genie der Beatles lässt sich auf eine Formel herunterbrechen, behauptet der kanadische Autor Malcolm Gladwell. (Quelle: Archivbild/Pa/PA Wire/dpa)
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Wie ist Bill Gates zu Bill Gates, wie sind die Beatles zu den Beatles geworden? Talent besaßen auch andere Überflieger, aber weder das Glück noch das intensive Training noch die Disziplin zur Selbstschulung. Das kann man bei einem kanadischen Autoren lernen, der in Deutschland zu wenig bekannt ist.

Heute möchte ich Sie mit einem meiner Lieblingsautoren bekannt machen, er heißt Malcolm Gladwell, ist Kanadier, 54 Jahre alt, und schreibt wunderbare Bücher, die sogar auf Deutsch übersetzt worden sind, ohne dass er hier so bekannt wäre, wie es ihm gebührt. Das sollten wir ändern.

Ich lese gerade "Überflieger", das ist ein nicht ganz neues Buch über Genies mit Furcht einflößendem IQ, zum Beispiel Bill Joy, der Softwareprogramme schrieb und zum "Edison des Internet" ausgerufen wurde, oder Christopher Langan, der einen IQ von 200 hat, weit mehr als Einstein, aber auch über beispiellos erfolgreiche Bands wie die Beatles. Wir normale Sterbliche bestaunen sie und denken, mit ihnen hat es die Genetik oder die Natur oder der liebe Gott oder wer auch immer einfach sehr gut gemeint. Wenn sich Malcolm Gladwell diesen Phänomenen nähert, wundern wir uns wieder, weil er genauer hinschaut und deshalb zu anderen Ergebnissen kommt als wir.

Die magische Zahl

In "Überflieger" macht er uns mit der 10.000-Stunden-Regel bekannt. 10.000 ist die magische Zahl, die sehr gute von guten Geigern, Pianisten, Basketballspielern, IT-Größen oder Popgruppen unterscheidet.

Gladwell verfolgt zum Beispiel den Lebenslauf von Bill Gates. Seine Eltern sind wohlhabend, sie schicken ihren Nerd-Sohn auf eine Privatschule, die schon 1968 einen Computer besitzt, an dem mehrere Schüler gleichzeitig arbeiten können. Das war absolut ungewöhnlich zu dieser Zeit, denn damals war noch das Lochkartensystem in der elektronischen Datenverarbeitung üblich. Man codierte die Lochkarten und ging dann zum Großrechner, in den ein Operator die Daten eingab. Das dauerte, man stand Schlange, es war teuer.

So fing Bill Gates mit 13 an zu programmieren. Dann durfte er gratis an einer neuen Software arbeiten, die seiner Schule von der Universität zur Verfügung gestellt wurde. Dann hackte sein Freund Paul Allen (das ist der andere Microsoft-Gründer) an einem Computer die Passwörter, sodass die beiden theoretisch 24 Stunden lang programmieren konnten, ohne auch nur einen Dollar zu bezahlen. Dann brauchte die Bonneville Power Station dringend Programmierer, die sich mit ihrer Software auskannten, was Gates und Allen konnten.

So ging das weiter, bis Bill Gates nach Harvard kam und das Studium schnell wieder abbrach. Er besaß so viel Erfahrung, er hatte so viel Routine, so viel Können, er hatte lässig die 10.000 Stunden programmiert, die es braucht, denn Talent allein garantiert keineswegs Erfolg. Der Hochbegabte muss reichlich Gelegenheit bekommen, sein Talent zu entfalten, Erfahrungen zu sammeln, aus Irrtümern zu lernen und Sicherheit zu entwickeln.

Ja, und natürlich hätte es anders für Bill Gates ausgesehen, wenn seine wohlhabenden Eltern ihn nicht auf eine Privatschule geschickt hätten. Das Glück der Geburt trägt zur Leichtigkeit des Erfolgs bei, na klar. Erfolg ist Glück plus Talent plus Selbstschulung in 10.000 Stunden.

Die Beatles waren nicht plötzlich da

Die Beatles kamen nicht aus wohlhabenden Familien. Anfang der Sechzigerjahre traten sie in Fernsehshows auf, eroberten zuerst England, dann Europa und dann 1964 Amerika. Sie waren plötzlich da, jedenfalls für mich, der ich sie ein Leben lang den Rolling Stones vorziehen werde. Sie waren natürlich nicht plötzlich da, sagt Malcolm Gladwell.

John Lennon war 17 und Paul McCartney 15, als sie 1957 damit begannen, gemeinsam Musik zu machen. Drei Jahre später waren die Beatles immer noch nicht mehr als eine von vielen unbekannten Highschool-Bands. Dann wollte ein Hamburger Stripklubbesitzer namens Bruno zur Bereicherung der Belustigung Bands aus England herüberholen. Er kannte zufällig einen Typen aus Liverpool und so gelangten die Beatles nach Hamburg und spielten in verschiedenen Klubs. "Sie kamen immer wieder hierher, wegen des Sex und des Alkohols", schreibt der Beatles-Biograf Philip Norman.

Zwischen 1960 und 1962 traten die Beatles fünfmal über längere Zeit in Hamburger Schmuddelklubs auf der Reeperbahn auf. Meistens spielten sie fünf Stunden lang pro Abend und zwar sieben Tage in der Woche. Insgesamt kamen sie auf schätzungsweise 270 Auftritte. "Anfangs waren sie wirklich nicht gut und dann waren sie sehr gut. Sie mussten eine enorme Menge an Liedern lernen – nicht nur Rock ’n’ Roll, sondern auch Jazziges. So sind sie geworden, was sie dann waren", schreibt ihr Biograf Philip Norman.

"Love Me Do" war Ende 1962 ihr erster Erfolg. Zur Weltsensation wurden sie 1964 durch ihre Amerikatournee. 1967 produzierten sie "Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band", eines der besten je produzierten Alben. Da hatten John, George und Paul zehn Jahre lang miteinander gespielt (Ringo Starr kam als letzter für Pete Best dazu). 1969 trennten sich die Beatles.

Erfolg ist Talent plus intensive Vorbereitung

Was lehrt uns das? Erfolg ist Talent plus intensive Vorbereitung. Als die Pop-Geschichte mächtig los ging, waren die Beatles reif für den Welterfolg, reif durch exzessives Spielen.

Christopher Langans Geschichte ist weniger erbaulich und deshalb besonders lehrreich. Er wächst in einer völlig desolaten Familie auf. Die Mutter hatte vier Kinder von vier Vätern. Der letzte anwesende Vater war ein Journalist und Alkoholiker, der seine Frau und seine Kinder im Suff und auch nüchtern prügelte. Sie waren bettelarm. Jedes Kind besaß eine Hose, die Löcher hatte, und dazu Socken, die nicht zueinander passten. Wo sie auftauchten, waren sie Ausgestoßene. Die Schule war für sie ein Horror und jede Autorität ein Feind wie der brutale Vater.

Wunderkind aus furchtbarer Familie

In dieser furchtbaren Familie wuchs ein Wunderkind heran. Der kleine Christopher lernte mit sechs Monaten sprechen. Mit drei Jahren brachte er sich lesen bei. In der Schule beachtete kein Lehrer den Knaben aus der dysfunktionalen Familie, der für sich blieb und keinen Wirbel machte. Nach der Highschool bekam er ein Stipendium an der Universität in Oregon, das er aber schnell wieder verlor, weil seine Mutter die zur Verlängerung benötigten Unterlagen nicht ausfüllte. Christopher Langan bat die Uni-Leitung um eine Sonderregelung. Er konnte nichts für die Gleichgültigkeit seiner Mutter, aber er war nicht sehr geschickt darin, seine Interessen zu vertreten. Wie auch, er hatte es nicht gelernt und so wurde er exmatrikuliert.

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Nun wechselte er an die Montana State University. Er lernte keinen Kommilitonen kennen, weil er die coolen Umgangsformen der selbstgewissen Kinder aus den besseren Familien weder teilte noch verstand. Er war einsam, aber daran war er ja gewöhnt. Er wohnte billig 20 Kilometer von der Uni entfernt und als seine Schrottkarre den Geist aufgab, schaffte er die Kurse morgens um acht nicht mehr. Wieder ging er zur Uni-Leitung, wieder trug er seinen Fall wenig geschickt vor, wieder stieß er auf auf kein Verständnis und wurde wieder exmatrikuliert.

Der Junge mit dem fantastischen IQ, der Mathematik und Philosophie studieren wollte, schlug sich fortan auf dem Bau und in der Fabrik durch. Er las weiterhin die schwierigsten Bücher, die es zu kaufen gab. Ihm flog das Wissen nur so zu, egal um welches Gebiet es sich handelte. Er schrieb an einem Manuskript mit dem Titel: "Ein theoretisches Erkenntnismodell des Universums". An Veröffentlichung dachte er nicht. Kein Verleger würde ihm glauben, dass er es wirklich geschrieben hatte, da er ja keinen Universitätsabschluss besaß. Stattdessen wurde er in Amerika berühmt, als er in Fernsehshows auftrat und seine Kenntnisse mit einer Gruppe aus 100 Gegnern maß und gewann, natürlich.

Christopher Langan gehörte zu den wenigen universell Gebildeten. Er hätte an einer Eliteuniversität studieren und lehren müssen. Er hatte viel mehr Hirn als jeder andere. So aber ist sein Leben eine Tragödie, ein Verschwendung von Talent. Warum? Ihm fehlte etwas Elementares: praktische Intelligenz. Damit ist die Fertigkeit gemeint, dass ein Mensch das, was er will, demjenigen mit freundlichem Nachdruck vortragen kann, der das Gewünschte bewilligen oder bewerkstelligen kann – oder eben auch ablehnen.

Zweimal scheiterte Langan daran, einem Universitätsbürokraten seine Not, seine besondere Situation, seine Wünsche nahezubringen. Er verstand es nicht, für sich zu werben, um Verständnis zu bitten. Autoritäten, welcher Art auch immer, waren kafkaeske Fremde für ihn, bedrohlich und unnahbar. Er hatte praktische Intelligenz nie gelernt. Niemand leitete ihn dazu an, und die Universitäten waren borniert genug, nicht zu erkennen, wen sie vor sich hatten, welches Gottesgeschenk er gewesen wäre, wenn sie ihm nur ein bisschen Hilfe gewährt hätten, damit er seine außergewöhnlichen Gaben in Ruhe entfalten konnte.

Malcolm Gladwell schreibt diese Lebensgeschichten spannend und verständlich auf. Er bringt unterschiedliches Wissen aus unterschiedlichen Gebieten zusammen, um die Phänomene soziologisch, medizinisch und kulturell zu erklären. Er ist von Haus aus Journalist und geübt im interdisziplinären Kompilieren. Bemerkenswert ist, dass der enorme Erfolg seiner Bücher ihn nicht seiner Bescheidenheit beraubt hat.

Wer will, der kann bei ihm eine Menge lernen. Er kann lernen, dass es eigentlich immer auf Vertrauen ankommt, auf Selbstvertrauen und das Vertrauen anderer in ein Kind, dessen überragendes Talent ja auch Zerbrechlichkeit mit sich bringt. Er kann lernen, dass das Soziale furchtbar wichtig ist, und der Mensch keine Ware, was im Zeitalter von Facebook weniger selbstverständlich ist, als es klingt.

Und er kann lernen, dass praktische Intelligenz den Menschen im Leben womöglich weiterträgt als ein fast übermenschlicher IQ.

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