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Putins Ukraine-Feldzug: "Junge Russen weinen, wenn sie zur Armee einberufen werden"


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Putins Ukraine-Feldzug
"Muss Russland erst ein oder zwei ukrainische Städte einäschern?"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 03.03.2022Lesedauer: 5 Min.
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"Sie erledigen alle Verwundeten": Ein russischer Kriegsgefangener schildert, wie die russische Armeeführung die Soldaten verheize. (Quelle: t-online)

Die Ukrainer wehren sich erfolgreicher als von Russland erwartet. Vor allem für die Zivilisten werde die Lage nun noch gefährlicher, warnt Historiker Bastian Matteo Scianna. Denn Russland achte das Völkerrecht nicht.

t-online: Herr Scianna, Russlands Vormarsch in der Ukraine verläuft erfolgreich, aber nicht so schnell, wie es sich der Kriegsherr Wladimir Putin erhofft hat. Wo liegen die Probleme für die russische Armee?

Bastian Matteo Scianna: Wladimir Putin und seine Generäle versuchten zunächst eine schnelle Einnahme Kiews und den Sturz der Regierung ohne viele Opfer. Einen Staatsstreich von außen sozusagen, bei dem man als Befreier wahrgenommen werden wollte. Im Osten und Süden der Ukraine wurden russische Einheiten vermutlich recht ungeordnet eingesetzt, sodass viele Nachschub- und Versorgungsprobleme eintraten. Das war alles sehr waghalsig – was in gewisser Weise jedoch auch russischer Militärdoktrin entspricht.

Zudem kämpft man gegen hoch motivierte und gut ausgebildete Ukrainer. Ein abschließendes Urteil ist aufgrund der schlechten Informationslage jedoch schwierig. Fest steht auch: Der ukrainischen Armee wird es schwerfallen, diese Kampfintensität aufrechtzuerhalten.

Wie haben wir uns generell die russische Armee vorzustellen? Sie soll sehr modern sein, uns erreichen bisweilen aber auch Bilder von veralteter Technik und überfordert wirkenden Soldaten.

Die russische Armee wurde in vielen Bereichen modernisiert, vor allem die Luft- und Seestreitkräfte. Die Landstreitkräfte sind teils sehr modern, teils veraltet. Generell ist es schwierig, die wirkliche Kampfkraft einer Armee nur an Zahlen und Material zu bemessen. Es ist schrecklich zu sehen, wie schlecht die eigenen Soldaten behandelt und bereitwillig geopfert werden. Das ist in Friedenszeiten schon erschütternd. Junge Russen weinen, wenn sie zur Armee einberufen werden. Denn viele Wehrpflichtige werden schikaniert und misshandelt.

Es gibt neben der breiten Masse an Soldaten aber doch auch Eliteverbände?

Die russische Armee verfügt über rund 45.000 Luftlandeeinheiten, die als Speerspitze dienten. Viele der modernen Waffensysteme sind noch nicht umfassend benutzt worden. Es droht auch der Einsatz thermobarischer Munition.

Das heißt, es kann noch sehr viel schlimmer werden?

Leider ja. Die russische Armee beginnt nun langsamer und geordneter vorzurücken. So kommt der Nachschub hinterher und man kann geschlossener mit Luftunterstützung kämpfen. Zugleich werden Städte umzingelt und immer direkter mit Artillerie oder aus der Luft angegriffen. Präzisionsmunition hatten die russischen Streitkräfte ohnehin wenig und sie werden vermehrt auf ungelenkte Munition setzen.

Zivile Opfer nimmt man jetzt immer bewusster in Kauf. Das Völkerrecht interessiert Russland wenig. Das hat man schon in Syrien gesehen. Die kommenden Tage werden zeigen, wie lange die ukrainische Armee den Osten und Süden sowie ihre Hauptstadt verteidigen kann.

Bastian Matteo Scianna, Jahrgang 1987, ist seit 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Universität Potsdam. Der Historiker lehrt und forscht über deutsche Außenpolitik, europäische Integration und verfasst seine Habilitationsschrift über die Geschichte des Schengener Abkommens. Er ist Mitautor des Buches "Blutige Enthaltung. Deutschlands Rolle im Syrienkonflikt", das 2021 erschienen ist.

Der Westen konnte und wollte nicht erkennen, dass Putin angreifen würde. Wie sah es bei den Ukrainern aus?

In Kiew rechnete kaum jemand damit. Auch im Westen hat niemand einen Krieg solchen Ausmaßes kommen sehen. Kämpfe um die Gebiete im Donbass, ja. Aber ein Feldzug im Stile des 20. Jahrhunderts?

Nun ist die Bundesregierung unter Olaf Scholz wortwörtlich aufgewacht, spricht von einer "Zeitenwende". Die Bundeswehr soll etwa 100 Milliarden Euro erhalten, um wieder verteidigungsbereit zu werden.

Ich bin gespannt, wie weit diese "Zeitenwende" reichen wird. Als 2014 die Krim von Russland annektiert wurde, gab es viele ähnliche Statements. Was ist passiert? Sehr wenig.

Also waren es nur leere Worte des Kanzlers?

Wir werden sehen. Fest steht: In Deutschland passiert nur etwas, wenn eine Tragödie eingetreten ist. Finanzminister Christian Lindner ruderte teilweise zurück – und betonte, dass die 100 Milliarden nicht auf einen Schlag zur Verfügung stehen würden. Zudem soll der Betrag wohl in die vernachlässigte Zusage investiert werden, zwei Prozent des Bruttosozialprodukts in die Verteidigung zu stecken. Man muss optimistisch bleiben, aber genau hinschauen. Die Ankündigungen müssen verwirklicht und die Mittel zielgerichtet ausgegeben werden.

Falls die Bundesregierung ihren neuen, harten Kurs gegen Putin also nicht beibehalten sollte: Was geschieht dann?

Stellen wir die Frage einmal anders: Was muss denn noch passieren, damit jeder begreift, welche Gefahr das Putin-Regime für die westliche Welt darstellt? Muss Russland erst ein oder zwei ukrainische Städte einäschern, bis nach Transnistrien ausgreifen oder andere Staaten angreifen? Ich hoffe nicht, dass es so weit kommen wird.

Eine hypothetische Frage: Hätte Deutschland durch eine stärkere Unterstützung der Ukraine den Angriff verhindern können?

Das ist schwer zu beantworten. Zur wirtschaftlichen Unterstützung der Ukraine ist viel Geld geflossen, es war auch reichlich guter Wille da. Aber immer wieder, wenn die Ukrainer moderne Waffen erbeten haben, lautete die Antwort aus Berlin: Nein. Zudem ist man der putinschen Machtpolitik in anderen Weltregionen nicht entschlossener entgegengetreten. Heißt "Zeitenwende" denn jetzt auch, dass die Bundesrepublik in Mali bleibt und das Land nicht russischem Einfluss überlasst?

Nun bringt die Kommissionschefin Ursula von der Leyen gar eine schnelle EU-Aufnahme der Ukraine ins Spiel. Was halten Sie davon?

Das ist emotional verständlich, aber brandgefährlich. Laut Lissaboner Vertrag Art. 42 Abs.7 würde dies zudem den Bündnisfall auslösen, also einen Krieg zwischen der EU und Russland bedeuten. Diese unbedachte Äußerung hat zum Glück bereits ein Sprecher der Kommissionspräsidentin korrigiert. Das eigentliche Ziel muss darin bestehen, die Ukraine als eigenständigen Staat zu erhalten.

Kommen wir aber noch einmal auf Deutschland zurück. Hat sich unsere Gesellschaft zu lange darauf verlassen, dass sich alle Potentaten der Welt immer an die Regeln halten werden? Und zur Not mit Geld zur Räson gebracht werden können?

Es ist eine gefährliche Welt da draußen, das wollten in der Tat viele Menschen nicht wahrnehmen. Aber auch die Politik nicht. Nicht die Anschaffung eines Lastenrads oder der CO2-Ausstoß ist für Putin relevant – Russland soll Großmacht sein, zur Not mit militärischen Mitteln. Deutschland nimmt er dabei sicher nicht als ernsthaftes Hindernis wahr.

Das heißt, die Abschreckungswirkung der Bundeswehr liegt bei null?

So ziemlich. Tatsächlich dienen die schon angesprochenen 100 Milliarden auch nicht der "Aufrüstung", wie es so oft falsch in den Medien dargestellt wird. Das Geld dient viel mehr zur Ausrüstung der Bundeswehr, damit sie im Verbund mit der NATO eine glaubhafte Abschreckung darstellen kann. Allein die Erfüllung der Zusagen im Bereich Munition würde einen beachtlichen Teil der 100 Milliarden Euro verschlingen – Schätzungen liegen bei 20 bis 30 Prozent.

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Die Debatte zur Ausrüstung hat meines Erachtens daher gerade erst begonnen. Mir wäre es auch lieber, wenn wir den Wehretat in Kitas und Schulen investieren könnten und wir sollten unsere liberale Gesellschaftsordnung keineswegs Diktatoren anpassen. Die deutsche Naivität und das Wegducken vor Verantwortung werden allerdings seit Jahren beklagt. Das Vertrauen vieler Verbündeter in die Bundesrepublik und ihre sicherheitspolitischen Versprechungen erreichte daher immer neue Tiefpunkte.

Sie beziehen sich beispielsweise auch auf Israel? Dessen Existenz laut der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel Teil deutscher "Staatsräson" ist?

Zum Beispiel. Die Israelis werden sich im Konfliktfall sicherlich nicht auf Deutschland verlassen. Das sollte uns beschämen.

Herr Scianna, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Bastian Matteo Scianna via Videokonferenz
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