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Widerstand in Afghanistan: "Wenn Taliban an der Macht sind, ist Europa nicht sicher"


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Widerstand in Afghanistan
"Die Taliban haben kein Interesse an Frieden"

  • Daniel Mützel
InterviewVon Daniel Mützel

Aktualisiert am 18.09.2021Lesedauer: 6 Min.
Taliban-Kämpfer in Kabul: Die Islamisten kontrollieren weite Teile Afghanistans.Vergrößern des Bildes
Taliban-Kämpfer in Kabul: Die Islamisten kontrollieren weite Teile Afghanistans. (Quelle: UPI Photo/imago-images-bilder)

Sein Bruder galt in Afghanistan als Nationalheld und führte den Widerstand gegen die Taliban an. Hier berichtet Ahmad Wali Masoud über die schwierige Lage im Land und warnt vor den neuen Herrschern.

Gewalt gegen Frauen und Journalisten, willkürliche Hinrichtungen: Die Brutalität des Taliban-Regimes tritt immer offener zu Tage. Ahmad Wali Masoud, früherer afghanischer Botschafter in Großbritannien und Bruder des verstorbenen Nationalhelden Ahmad Schah Massoud, sieht die letzte Hoffnung Afghanistans in der Widerstandsbewegung im Pandschir-Tal. Er warnt vor einer Rückkehr al-Qaidas und Terroranschlägen – auch in Europa.

t-online: Herr Masoud, die Taliban haben vor Kurzem verkündet, die letzte Widerstandsbastion im Pandschir-Tal eingenommen und nun ganz Afghanistan unter Kontrolle zu haben. Ist die nationale Widerstandsfront (NRF) besiegt?

Ahmad Wali Masoud: Nein. Die Kämpfer haben sich in die Berge verschanzt und halten die Stellung. Es stimmt, momentan finden keine Kampfhandlungen statt. Aber um ganz Pandschir zu kontrollieren, müssten die Taliban tiefer in das Tal eindringen. Das ist einfacher gesagt als getan. Das Gelände ist schwer zugänglich, es gibt überall Hinterhalte und Verstecke. Militärisch gesehen ist es ein Alptraum. Keine Armee und keine Großmacht konnte Pandschir bisher lange halten. In den 80ern Jahren hat es die Sowjetunion versucht. Sie rückte neun Mal in neun Jahren an, jedes Mal wurden sie von den Mudschaheddin vertrieben. Auch die Taliban scheiterten Ende der 90er daran. Das gleiche Schicksal droht ihnen auch diesmal.

Vor dem Einmarsch, im August, gab es Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und der NRF. Warum scheiterten die Gespräche?

Es fanden zwei Verhandlungsrunden statt. Aber es wurde rasch klar, dass die Taliban keinen Frieden wollen. Sie verlangten, dass die NRF kapituliert und im Gegenzug keine Rache geübt wird. Sie wollten eine Art Statthalter einsetzen und versprachen vage, einige unserer Leute mit Regierungsposten zu versorgen. Wir entgegneten, dass wir kein Interesse an Posten haben, sondern für Prinzipien einstehen: Menschenrechte, Frauenrechte, eine inklusive, multiethnische Regierung. Wir kämpfen nicht nur für die Freiheit Pandschirs, sondern für ganz Afghanistan. Die Gespräche waren schnell beendet.

Waren Sie überrascht?

Die Taliban haben kein Interesse an Frieden und teilen ihre Macht nicht. Seit ihrer Gründung haben sie sich keinen Friedensverhandlungen unterworfen. Auch die Doha-Gespräche...

...die 2020 in Katar zu einem Abkommen zwischen der Trump-Regierung und den Taliban führten...

…waren für die Taliban nur eine geschickte Inszenierung. Sie redeten im Ritz-Carlton-Hotel in Doha über Frieden, während sie 1.000 Kilometer weiter nördlich eine afghanische Provinzstadt nach der anderen einnahmen.

Ihr 2001 verstorbener Bruder Ahmad Schah Massoud, der legendäre Anführer der Nordallianz, hat die Taliban schon in den 90ern bekämpft. Sein Sohn Ahmad Massoud, 32 Jahre jung, ist heute der Kopf des Widerstands. Wie oft reden Sie mit Ihrem Neffen?

Jeden Tag.

Wie bewertet er die derzeitige Lage?

Er versteckt sich mit seinen Kämpfern in den Bergen. Die Lage ist schwierig, seit die Taliban die Versorgungswege abgeschnitten haben. Trotzdem ist er optimistisch. Ahmad ist ein Idealist. Er glaubt fest daran, dass Afghanistan ein freies und demokratisches Land sein kann. Momentan versucht er Unterstützer auf der ganzen Welt zu mobilisieren.

Seit der Abriegelung des Tals dringen nur spärlich Informationen nach draußen. Zuletzt gab es alarmierende Berichte über Gewalt an Zivilisten. Die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet sprach von willkürlichen Hinrichtungen an früheren Sicherheitskräften.

Die Taliban töten nicht nur Kämpfer, sondern auch normale Dorfbewohner, Frauen, Alte, Kinder. Sie lassen nicht einmal die Verwandten zu den Toten, für ein würdevolles Begräbnis. Sie lassen die Leichen einfach liegen und verrotten. Es ist grausam und unmenschlich. Andere werden verschleppt, wenn sie mit dem Widerstand in Verbindung gebracht werden können. Jeden Tag höre ich von Leuten, deren Söhne, Väter oder Cousins in Autos gezerrt und an einen unbekannten Ort gebracht werden.

Was bezwecken sie mit der Gewalt?

Zum einen ist es das, was man von Terroristen erwarten kann: Sie wollen den größtmöglichen Schaden an deiner Seele anrichten, damit du Angst hast und aufgibst. Andere wollen sich rächen. Sie haben ihre Niederlage in den 90er Jahren noch immer nicht verkraftet. Deswegen haben sie auch das Grab meines Bruders geschändet. Die Taliban haben ein langes Gedächtnis.

Die Taliban beginnen, ihre Macht zu konsolidieren. Sie haben eine Regierung ernannt, erlassen Gesetze oder erklären Bürgern im Fernsehen, wie die Dinge jetzt laufen. Gleichzeitig setzen sie auf die Macht der Bilder: So gingen Fotos der Universität Kabul um die Welt, die einen Hörsaal voller Burka-Trägerinnen zeigen. Das soll wohl die neue Normalität in Afghanistan repräsentieren. Funktioniert das?

Ich denke nicht, dass sich das Regime stabilisieren kann. Die Menschen bekommen mit, was passiert. Die Gewalt gegen Frauen und Journalisten, die brutale Niederschlagung der Proteste. Wir leben nicht mehr in den 90ern. Solche Dinge passieren nicht unbemerkt. Die Leute sind heute besser vernetzt, vor allem die junge Generation und die Frauen. Sie kennen ihre Rechte und sind gebildet. In allen Teilen des Landes bilden sich Proteste. Selbst in Kandahar, einer Taliban-Hochburg. Zugleich erleben wir erbitterte Machtkämpfe an der Spitze. Die Taliban haben nicht die Fähigkeiten, um einen Staat zu führen.

Die neue Regierung rekrutiert sich überwiegend aus Paschtunen, der ethnischen Gruppe der Taliban. Es sind fast nur Mullahs, keine einzige Frau wurde ernannt. Wie wurde die Nachricht in Afghanistan aufgenommen?

Die Weigerung, eine multiethnische Regierung zu bilden, hat nur bestätigt, was viele geahnt hatten: Die Taliban drücken allen anderen Bevölkerungsgruppen ihren Willen auf. Es gibt über 30 ethnische Minderheiten in Afghanistan – darunter Uzbeken, Hazaras, Tadschiken –, aber keine fühlt sich von dieser Regierung repräsentiert. Das wird Folgen haben. Ich rede regelmäßig mit den Vertretern anderer ethnischer Gruppen. Keiner unterstützt das neue Regime. Im Gegenteil: Viele bereiten sich auf einen bewaffneten Konflikt vor.

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Kommt es zum Bürgerkrieg?

Ich halte das für ein wahrscheinliches Szenario. Die Taliban werden Afghanistan in einen Hotspot für Drogenhandel, Korruption und Terrorismus verwandeln. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich Milizenführer in den verschiedenen Provinzen erheben und zu den Waffen greifen.

In Tadschikistan gibt es Aufrufe von Freiwilligen, sich zu bewaffnen, um den ethnischen Tadschiken in Afghanistan zu helfen. Auch in Usbekistan gibt es Solidaritätsbekundungen für Anhänger der eigenen Volksgruppe jenseits der Grenze.

Die Nachbarländer beobachten genau, was in Afghanistan passiert. Die Gefahr ist, dass die internen Konflikte sich verschärfen und die ganze Region in einen Krieg hineinzieht.

Was fordern Sie von der internationalen Gemeinschaft?

Wir brauchen Nahrung, Medikamente, aber auch finanzielle Hilfen und Waffen. Jede Art von Unterstützung ist willkommen.

Ihr Neffe, der Anführer des Widerstands in Pandschir, hat im August in der "Washington Post" den Westen zu Waffenlieferungen aufgerufen. Besteht nicht die Gefahr eines regionalen Flächenbrandes, wenn ausländische Staaten rivalisierende Gruppen in Afghanistan hochrüsten?

Sollen wir unser Land den Terroristen überlassen? Wir dürfen nicht vergessen, mit wem wir es zu tun haben. Nur weil die Taliban einen Staat erbeutet haben, hören sie nicht auf, Terroristen zu sein. Auch wenn einige westliche und afghanische Politiker das behaupten: Es gibt keine moderaten Taliban. 20 Jahre lang haben uns die USA und Europa eingetrichtert, dass man Terror bekämpfen muss. Und jetzt, wo sie uns im Stich gelassen haben, sollen wir uns ergeben?

Im Doha-Abkommen haben die Taliban den USA versprochen, dass Afghanistan kein Rückzugsort mehr für internationale Terrornetzwerke sein wird.

Der neue Innenminister heißt Sirajuddin Haqqani, ein vom FBI gesuchter Terrorist, der immer noch zur Fahndung ausgeschrieben ist und ausgezeichnete Kontakte zur al-Qaida pflegt. Schon jetzt operieren al-Qaida-Zellen und andere Terrornetzwerke in Afghanistan. Weitere Kämpfer werden einsickern.

Aber selbst in dem sehr hypothetischen Fall, dass sich die Taliban an die Doha-Absprache halten und keine terroristischen Angriffe auf die USA erlauben würden. Wer wäre das nächste Ziel? Die offensichtliche Antwort ist: Europa. Terroristen können nicht ohne Ziele leben. Europa, auch Deutschland, muss sich also fragen, wie es sich künftig vor Terroranschlägen, die von afghanischem Boden ausgehen, schützen will.

Laut Einschätzung der CIA bräuchte al-Qaida nur "ein bis zwei Jahre", um eine terroristische Infrastruktur aufzubauen, mit der sie die USA oder Europa angreifen könnte. Halten Sie Anschläge in Deutschland für möglich?

Man braucht kein Hellseher sein, um das vorauszusehen. Ein Teil der Taliban war immer international ausgerichtet. Denn was bekämpfen die Taliban? Freie Wahlen, Demokratie, Meinungsfreiheit, Frauenrechte. Kurzum: westliche Werte. Solange die Taliban an der Macht sind, ist Europa nicht sicher.

Was fordern Sie von der deutschen Regierung?

Die Taliban nicht anzuerkennen. Das hat oberste Priorität. Außerdem: Druck ausüben auf die Helfer des Regimes. Lassen Sie sich nicht von ihnen täuschen.

Sie meinen den Nachbar Pakistan, dem vorgeworfen wird, die Taliban tatkräftig zu unterstützen.

Zum Beispiel. Die afghanische Widerstandsbewegung in Pandschir ist die einzige Chance, den globalen Terror innerhalb Afghanistans zu bekämpfen. Der Westen sollte sie nutzen. Hier verläuft die internationale Frontlinie gegen den Terror. Auch wenn einige Politiker das im Moment nicht wahrhaben wollen, weil es ihnen vielleicht innenpolitisch nicht passt. Aber früher oder später wird sie das Problem wieder einholen.

Verwendete Quellen
  • Telefonisches Interview mit Ahmad Wali Masoud
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